Geschrieben am 23. April 2014 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von und mit Liz Green, der Compilation „Gipsy Rhumba“, Smoke Fairies, Gabi Delgado, Nightsatan, Bly de Blyant, Stein Urheim und Velnias, gehört von Ronald Klein (RK), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO)

lizgreenShantys für Landratten

(MO) Ohne Übertreibung kann man behaupten, dass die Musik von Liz Green absolut einzigartig ist: schon mit ihrem ziemlich düsteren Debütalbum „O, Devotion“, das 2011 erschien, zog die aus Manchester stammende Singer-/Songwriterin großes Interesse auf sich; das positiver gefärbte neue Album „Haul Away“ wird noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dabei ist nichts an Liz‘ Songs in irgendeiner Form zeitgeistig-modisch, im Gegenteil. Ihre Lieder sind morbide Moritaten, verschrobene Miniatur-Kabarettstücke, Shantys für Landratten oder heitere Trauermärsche – nur kein chartkompatibles Mainstream-Material.

Folk und Chanson sind die Grundelemente von Greens Musik, phantasievoll instrumentiert mit Saxophon, Tuba, Cello, Flöte und Posaune, aber spartanisch arrangiert: eher Kaschemmenmusik als großes Orchester.
In einer Mischung aus Melancholie und Frohsinn (kein Widerspruch) singt Liz Green mit klarer Naturkindstimme (geboren in Manchester? Auch kein Widerspruch) von Fischen („Rybka“), und seltsamen Mädchen („Penelope“). Ein Hauptthema auf „Haul Away“ ist aber Kommunikation, Kontaktaufnahme – verbal oder anders, „no man is an island“ heißt es im Titelsong.

Ihr handfester Humor zeigt sich in „Where The River Don´t Flow“ und „Empty Handed Blues“, wo sie auch dem Tod noch witzige Seiten abgewinnt, oder in „Battle“, das eigentlich ein Liebeslied ist, aber von antiken Schlachtfeldern erzählt.

Liz Green: Haul Away. PIAS. Zur Homepage, zu einem Video.

Tourdaten: 11.05.2014 A-Wien, ORF Radiokulturhaus//13.05.2014 Dresden, Societätstheater//14.05.2014 Bremen, Lagerhaus//16.05.2014 Köln, King Georg//17.05.2014 Berlin, Privatclub//18.05.2014 Münster, Hot Jazz Club//19.05.2014 Hamburg, Knust//20.05.2014 Frankfurt, Brotfabrik//21.05.2014 Saarbrücken, Sparte 4

various_gipsyrhumbaLoco!

(TM) Wem zur Musik von Sinti und Roma nur die Gipsy Kings einfallen und ansonsten lange Zeit nichts, für den hat Soul Jazz Records eine Überraschung parat. Der Sampler „Gipsy Rhumba“ vereint in einer prächtigen Ausgabe mitsamt dickem zweisprachigen Booklet 20 Stücke aus den Jahren 1965 bis 1974, die die enorme Bandbreite der Musik der Gipsys (offensichtlich ist dieser Begriff weniger negativ belegt als das deutsche Pendant) offenbaren. Erkennungszeichen dieser Form des Rumba war das „Ventilador“ genannte Spiel auf der Flamencogitarre, bei dem mit den Fingern sowohl die Saiten angeschlagen wurden, als auch der Körper des Instruments als Schlagzeug verwendet wurde. Die Gipsys, in Spanien bekannt seit dem 15. Jahrhundert, mussten hier wie in anderen Ländern auch viele Repressalien bis hin zur Sklaverei erleiden. Ihre Lieder zeugen von dieser Geschichte, aber auch von ihrer unglaublichen Lebensfreude.

Various: Gipsy Rhumba. The Original Rhythm of Gipsy Rhumba in Spain 1965-74. Soul Jazz Records (Indigo).

smokefairiesBisschen zuviel

(MO) Wenn man „We´ve Seen Birds“, den Opener des neuen, selbstbetitelten Smoke Fairies-Albums hört, kommt man nicht auf die Idee, dass sich das Duo beinah getrennt hätte: schwungvoller, Phil-Spector-mäßiger Anfang in schwelgerisch-sattem Arrangement, engelsgleiche Stimmen, die sich in jubilierende Höhen aufschwingen.
Und doch war es so, dass Jessica Davies nach der letzten Tour zum Album „Blood Speaks“ (2012) ihrer Bandkollegin Katherine Blamire gestand, dass sie nicht wisse, ob und wie es mit Smoke Fairies weitergehen soll.Zum Glück fiel den beiden Schulfreundinnen aus Sussex nichts ein, was sie außer Musik machen könnten – „da war nur eine große Leere“.

Es war also die gute alte Zukunftsangst, die Blamire und Davies in ein Studio nach Kent brachte. Mit der Unterstützung von Producer Kristopher und namhaften GastmusikerInnen wie Andy Newmark (Roxy Music, Sly & the Family Stone) entstanden zwölf neue Songs, die den charakteristischen Smoke-Fairies-Sound aus hypermelodischem Folkpop mit knackigen Bluesrock-Elementen weiterführen inklusive einer entscheidenden Änderung: Jessica und Katherine singen nicht mehr (nur) zusammen im ätherischen Feen-Duett, sondern erklingen selbstbewusst einzeln oder harmonisch im Dialog. Das ergibt eine neue Dynamik innerhalb des bekannten Konzepts, die Songs wie „Drinks And Dancing“ oder „Hope Is Religion“ starken Aufbruchscharakter verleihen.

In Gänze bzw. Albumlänge wirken die circenhaften Smoke Fairies allerdings wie ein bisschen zuviel gutes Hasch: man weiß nicht mehr genau, ob der Song von eben schon mal lief oder ob man die CD eventuell nochmal auf Anfang gestellt hatte… Will sagen: tolle Melodien und schöner Gesang, aber besser in kleinen Dosen genießen anstatt alles auf einmal.

Smoke Fairies: dito. Full Time Hobby (Rough Trade). Zur Homepage.

gabidelgado_1Sex in unterschiedlichen Spielarten

(RK) Die Karriere des in Spanien geborenen Musikers Gabi Delgado begann Ende der 70er-Jahre in Düsseldorfer Punkformationen (u. a. Mittagspause). 1981 gründete er schließlich zusammen mit Robert Görl DAF (Deutsch-Amerikanische Freundschaft) und entwarf damit die Blaupause für spätere EBM- und Electroclash-Formationen. Einerseits bereits 1986 House-Partys veranstaltend (als die meisten Deutschen noch keinen blassen Schimmer hatten, was sich hinter dem Chicago-Sound verbarg), andererseits nicht im Gestern verwurzelt, machen Delgados Beats Spaß: nicht wirklich greifbar zwischen Techhouse, Electro und modernem EBM, erweist sich der musikalische Überbau als abwechslungsreich, sodass mit jedem Song die Neugier auf den nächsten wächst.

Lyrisch gelingt ein spannender Spagat: Den großen Tiefgang klammert Delgado aus. Umgekehrt bedeutet das aber nicht, dass die Songs mit Derbheit und Obszönität spielen müssen. Handeln die meisten Tracks von Sex in unterschiedlichen Spielarten, muss die Beschreibung nicht bis in Detail vollzogen werden, um Sinnlichkeit zu transportieren. Das gelingt bereits über den Einsatz der Stimme. Neben Zwischenmenschlichem sind es die New-Generation-Themen, die einen Brückenschlag zu den frühen 80ern vollziehen und zu der Zeit, als die Neue Deutsche Welle noch nicht peinlich war. Und bisweilen wird Delgado dezidiert politisch, beispielsweise wenn er sich auf Georg Büchners Werk „Der hessische Landbote“ bezieht und intoniert: „Friede den Hütten / Krieg den Palästen / Wir tragen euren Krieg zurück in den Westen“ („Friede den Hütten Krieg den Palästen“).

Gabi Delgado: 1. Goldencore (Zyx).

Night SatanTiefe Verbundenheit mit dem Gehörnten – oder Derrick

(RK) 1997 erschien in der größten deutschen Teenie-Postille ein Foto der Doom-Raverin Blümchen mit einem bemerkenswerten Halsschmuck. Sollte es sich dabei um ein umgedrehtes Kreuz handeln? Die Affinität zu dunklen Themen offenbarte sich in den folgenden Jahren, als sich Blümchen in (fast) allen Metal-Postillen mit unterschiedlichen Protagonisten des Genres ablichten ließ. Blümchen machte mit dem Inverted Cross deutlich, dass man dem Gehörnten auch huldigen kann, ohne selbst im Metal-Genre aktiv zu sein. Nach den musikalisch innovativen 90er-Jahren, wurde es im Metal zuletzt wieder etwas konservativer.

Aber bekanntlich kehren kulturelle Phänomene wellenartig wieder. Nightsatan aus dem finnischen Turku spielen jedoch weder Euro-Trash noch Rave, sondern Laser Metal. Ihr zweites Album, bei dem es sich um den Soundtrack einer C-Movie-Hommage handelt, ist ein episches Werk in der Tradition von Synthesizer-Pionieren wie Tangerine Dream oder Klaus Schulze. Die Songtitel verweisen auf tiefe Verbundenheit mit dem Gehörnten und anderen dunklen Mächten. Anderseits würden die Songs auch nicht auffallen, wären sie in die Folgen deutscher Krimi-Serien wie „Derrick“ oder „Polizeiruf 110“ eingebunden. Epische Flächen, getragen von verträumten Melodien und der post-ironischen Attitüde: Nightsatan dürften Hipster wie aufgeschlossene Black-Metal-Fans gleichermaßen begeistern.

Nightsatan: Nightsatan And The Loops Of Doom. Svart Records.

blydebluant_hindsightbiasModern Jazz

(RK) Im Tonstudio der Bergener Grieghalle, die seit 1978 als Konzerthalle dient, gingen jahrelang die führenden Kapellen der westnorwegischen Black-Metal-Szene ein und aus. Unter der Ägide des Toningenieurs Pytten entstanden Genre-Klassiker von Burzum, Enslaved und Gorgoroth. Was in den 90er-Jahren extremer Metal darstellte, ist inzwischen der Jazz. Formationen und Musiker wie das Mats Eilertsen Trio, Erland Dahlen, Siddsel Endresen und Bugge Wesseltoft setzen mittlerweile europaweit Akzente.

Auch der norwegische Drummer Oyvind Skarbo und seine Kollegen Hilmar Jensson (Island, Gitarre) und Shazad Ismaily (Bass, Moog), die zusammen als Bly de Blyant vor zwei Jahren mit „ABC“ ein instrumentales Album veröffentlichten, dass modernen Jazz an der Schnittstelle von Post Rock in Form kurzer Skizzen präsentierte, sind Teil der progressiven Szene. Das zweite Album eröffnet „Jiddu“, ein ebenso melodisches wie auch von einer treibenden Gitarre dominiertes Stück, das sofort gefangen nimmt. Mit dem hypnotisch-verträumten „Westkreuz“ beziehen sich Bly de Blyant zwar auf den Umsteigebahnhof zwischen Ring- und Stadtbahn im Westen Berlins, das Stück entstand jedoch nach eigener Aussage im polnischen Lodz und enthält Fragmente eines früheren Songs, den Sakrbo bereits mit zwei früheren Formationen testete.

Auch die sechs restlichen Tracks schlagen galante Haken. Bly de Blyant spielen eklektischen und extrem lässigen Modern Jazz, der auch wenig Genre-Affine problemlos in den Bann ziehen dürfte.

Bly de Blyant: Hindsight Bias. Hubro.

steinurheim_ditoNerdige Soundexpeditionen

(RK) Der norwegische Jazz-Gitarrist Stein Urheim debütierte vor zwei Jahren mit „Kosmoldi“, einem Album, das die Genre-Grenzen deutlich erweiterte und Zeugnis eines breit gefächerten Musik-Geschmacks ablegte. In der Tat verriet Urheim dem führenden Blatt seiner Heimatstadt, Bergens Tidende, dass er von den Beatles und den Stones ebenso geprägt sei wie von Jazz-Größen. Auf den fünf Tracks des aktuellen, selbstbetitelten Albums offenbart sich eine weitere Vorliebe: der Blues. Jedoch nutzt Urheim diesen als Ausgangspunkt zu weiteren Reisen.

Diese führen musikalisch von der Westküste Afrikas über Nordamerika bis nach China. Urheim legt stets die Gitarre aus der Hand, um beispielsweise die norwegische Zitter, die chinesische Gu Qin und das Banjo aufzunehmen. Kein Frage, die klanglichen Facetten von Zupfinstrumenten bilden die Koordinaten des Albums, dessen Zielgruppe sich daher etwas einschränkt. Wer jedoch Freude an dezent nerdigen Soundexpeditionen hat, fühlt sich mit dem Werk bestens unterhalten. Alle anderen sollten zumindest antesten. Anspieltipps: „Beijing Blues“ und „Great Distances“.

Stein Urheim: dito. Hubro.

velnias_sovereignnocturnalPantheismus

(RK) Das Baltikum blickt auf eine lange Geschichte zurück. Es gibt im heutigen Litauen Spuren einer matriarchalen Gesellschaft, die vor etwa 8.000 Jahren datiert wird. Mythologisch gibt es Überschneidungen mit germanischen und slawischen Vorstellungen. Die vorchristliche Zeit zeichnete sich – wie im restlichen Europa – durch eine vielschichte Götterwelt aus. Veln im Lettischen, Velnias im Litauischen referiert auf den Wächter der Totenwelt, die aber nicht als abgeschlossener Raum verstanden wurde.

Die unterschiedlichen Ebenen waren im Fluss: Die Verstorbenen blieben präsent, in der Vorstellung pendelten sie zwischen den Baumwipfeln und dem Reich, dem Velnias vorstand. Die Band Velnias stammt zwar nicht aus dem Ostseeraum, sondern aus dem mittleren Westen der Vereinigten Staaten, konkret aus Boulder/Colorado. In ihrer Musik finden sich jedoch zahlreiche mythologische Querverweise. Jedoch braucht man keine kulturwissenschaftliche Vorbildung, um das Werk zu goutieren. Ursprünglich 2008 über God Is Myth Records veröffentlicht, handelt es sich bei „Sovereign Nocturnal“ um das Re-Issue des Debüts von Velnias. Die drei Songs bringen es auf eine beachtliche Länge von über 40 Minuten und kümmern sich auch sonst wenig bis gar nicht um Genre-Konventionen.

Als roter Faden fungieren die pantheistischen, die Natur reflektierenden Lyrics und die Geschwindigkeit im Midtempo-Bereich. Ansonsten dominieren Elemente aus Doom, Folk und Progressive, die dem Werk zu einer eigenständigen Charakteristik verhelfen.

Velnias: Sovereign Nocturnal. Eisenwald.

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