Geschrieben am 22. Mai 2013 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von und mit Little Boots, Socalled, Joshua Redman, Zaz, Tricky und einer Hugs & Kisses-Compilation, gehört von Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).

little boots_nocturnesDemonstrativer Hedonismus

(MO) Ach, das ist ja sehr erfreulich: Victoria Hesketh alias Little Boots hat ihr zweites Album “Nocturnes” draußen! Dabei stand durchaus zu befürchten, dass Little Boots nach dem Debüt „Hands“ von 2009 in der Versenkung verschwinden würde: mit La Roux und Ladyhawke bildete Hesketh einen Sommer lang die Speerspitze einer jungen, aufregenden female british dance invasion, doch dann hörte man nicht mehr viel von ihr.

Die Abwesenheit lässt sich aber begründen: Die Allround-Künstlerin war schlicht und einfach viel unterwegs, vornehmlich als DJ, und das weltweit. Das ausgiebige Clubleben hat seine Spuren hinterlassen – „Nocturnes“, produziert von Tim Goldsworthy (DFA Records) ist eine Hommage an glorreiche Dance- und Disco-Zeiten, angefangen beim 1970er-Jahre-Flair à la „Saturday Night Fever“ über die House-Ära der Neunziger bis zum hochgetuneten Elektrosound der Jetztzeit.

Das Album beginnt mit „Motorway“ und „Confusion“ noch relativ verhalten, um dann mit Tracks wie dem überschwänglichen „Crescendo“, „Beat Beat“ und dem Hit „Satellite“ euphorischste Clubbeats abzufeuern. Bei allem demonstrativen Hedonismus bleibt Victoria Hesketh das good gal von nebenan – freundlich, fröhlich, eher süß statt explizit sexy. „Nocturnes“ wirkt in voller Länge ein wenig überzuckert. Aber das ist auch schon der einzige Wermutstropfen, denn wenn man erstmal im Tanzrausch ist, fällt das sowieso nicht weiter auf.

Little Boots: Nocturnes. On Repeat Records. Zur Homepage.

socalled_sleepoverSpaß im Schlafanzug

(TM) Das Album des Kanadiers Socalled feiert eine große Party, und das von Anfang an: Opener „UNLVD“ beklagt sich zweisprachig englisch-französisch über das Gefühl fehlender Liebe, aber ohne dabei klagend zu klingen. Vielmehr wird gerappt, was das Zeug hält. „Working With What You Got“ ist eine Hymne an das DIY, bzw. an das ‚Do it!‘ an sich – an den Mut, auch bei mangelnden Mitteln etwas aus sich zu machen: „If you only got one leg, then shake it!“ „Sleepover“ ist eine Wundertüte – man weiß nie, was man als Nächstes bekommt. R’n’B, Hip-Hop, Power-Pop, Soul, sogar Singer-Songwriter-Folk, all das wird präsentiert von so vielen Homies, dass selbst die Vokalisten von Song zu Song wechseln.

„Sleepover“ ist der richtige Name für solch eine Platte: sich bei Freunden treffen und gleich dort übernachten und den ganzen Abend und die ganze Nacht nur Quatsch machen und Dinge, die Spaß bringen – haben wir nicht alle bei solchen Gelegenheiten die schönsten Augenblicke erlebt? Ingredienzen: alte, wohlausgewählte Samples, wunderschöne Melodien, irre Arrangements, ausgeflippte Ideen. Insgesamt fällt auf, dass die Texte oft Trauriges behandeln, sich aber weigern, selbst traurig zu klingen.

Ein Album, das mehr uplifting lingt als „Sleepover“ wird man aktuell schwerlich finden. Dazu tragen auch die beigefügten, zahlreichen Remixes bei. Allein der Titelsong bietet einen Polkasound, der mittlerweile auf keiner Hipsterparty fehlen darf.

Socalled: Sleepover. Neo Membran (Sony Music). Zur Homepage.

joshuaredman_walkingshadowsOrganischer Komplettsound

(MO) Der kalifornische Jazz-Saxophonist Joshua Redman hat sich Einflüssen aus Pop und Rock nie verschlossen – siehe z. B. seine Kooperationen mit Pat Metheny oder die Arbeit am Soundtrack von „Blues Brothers 2000“. Es überrascht also nicht, dass Redman immer wieder nach neuen Einsatzmöglichkeiten für sein Tenorsaxophon sucht.

Mit seinen alten Freunden und Weggefährten, dem Pianisten Brad Mehldau, Bassist Larry Grenadier und dem Schlagzeuger Brian Blade realisierte Redman die Idee eines Albums mit Orchesterbegleitung: „Walking Shadows“ beinhaltet zwölf balladeske Stücke – Eigenkompositionen, aber auch Werke von John Mayer, Johann Sebastian Bach (!), Billy Strayhorn und „Let It Be“ von Lennon/McCartney -, die mit einem von Dan Coleman geleiteten Ensemble aufgenommen wurden.

„Orchesterbegleitung“ ist daher auch kein wirklich passender Begriff, da die Jazzmusiker und das klassische Ensemble zusammen aufspielen, sich gegenseitig ergänzen und unterstützen, was einen organischen Komplettsound ergibt. Die Arrangements sind eher sanft, Ecken und Kanten sollen auf „Walking Shadows“ nicht hervortreten. Redmans Saxophon ragt selbstverständlich heraus, sein Spiel ist wie gewohnt glasklar, prägnant und punktgenau.

Die vertrauten Melodien werden dabei nicht zerstört, Redman will ihnen nicht um jeden Preis seinen eigenen Stempel aufdrücken, sondern der Schönheit des jeweiligen Songs huldigen – was ihm in jedem Fall gelingt. In Gänze ist „Walking Shadows“ beinah ein wenig zu schön und glatt geraten, aber vielleicht ist das auch nur meiner vorurteilsmäßigen Erwartung geschuldet, dass Jazz etwas Dekonstruktivistisches haben sollte. Muss aber vielleicht gar nicht sein.

Joshua Redman: Walking Shadows. Nonesuch/Warner. Zur Homepage.

various_hugsandkissesTanzkracher aus der Community

(TM) Wenn es ein Musikgenre gab, das in der Geschichte als Selbstermächtigungsorgan der Homosexuellen gedient hat, dann war es Disco – nicht zuletzt liegen die Anfänge der erfolgreichen Discokultur in den schwulen New Yorker Clubs der 70er-Jahre. Kein Wunder also, dass Disco auf der vorliegenden Compilation „Hugs and Kisses“ einen großen Raum einnimmt.

Das queere Magazin Hugs & Kisses, das seit fünf Jahren halbjährlich erscheint, hat bei Trikont diesen Sampler zusammengestellt, auf dem es herausragende Tanzkracher aus der Community vorstellt.

Mit dabei sind so illustre Namen wie, Bernadette La Hengst, Scott Matthew, Peaches (mit ihrem aktuell politischen „Free Pussy Riot!“), Light Asylum (yes!), aber auch Underground-Größen wie Lesbians on Ecstasy, Kumbia Queers, Sookee oder Hungry Hearts, die vor sehr eindeutigen Texten nicht zurückschrecken (sagen wir so: das Wort ‚Pussy‘ sollte sowieso nicht nur Namensteil einer russischen Punkband sein).

Und nicht nur Disco kommt zum Zug, sondern man bekommt auch Gelegenheit, das Neueste von queerem Hip-Hop über Indiepop bis zu Gypsyrock. Die queere Community hat sich eben schon immer durch Abwechslungsreichtum ausgezeichnet.

Various: Hugs And Kisses. Tender to all gender. A compilation by Hugs & Kisses Magazine. Trikont (Indigo).

zaz_rectoversoDie Mischung zündet nicht

(MO) Vor drei Jahren avancierte Isabelle Geffroy alias Zaz zu everybody´s darling (oder vielleicht besser: chouchou de tout le monde). Ihr Hit „Je veux“ lief im Radio rauf und runter, das Debütalbum gehörte schnell zur Grundausstattung jedes angesagten Cafés. Es ist auch wirklich schwer, Zaz nicht sympathisch zu finden: die unprätentiöse Französin begann ihre Karriere als Straßensängerin und spendet große Beträge ihrer Tantiemen an wohltätige Organisationen. Und vor allem hat sie eine wirklich tolle Stimme, rauchig, kratzig und voluminös, vom ersten Ton an unverwechselbar. Leider hat sie sich mit ihrem zweiten Album „Recto Verso“ keinen Gefallen getan: Das neue Songmaterial klingt wie ein Abklatsch der ersten Platte, nur schlechter.

Die wesentlichen Elemente des Debüts tauchen alle wieder auf: Chanson, Zirkusmusik, Jazz, Weltmusik, Straßen-Folk und Franko-Pop – aber die Mischung zündet nicht, die Emotionen wirken künstlich, flach oder zu-dick-aufgetragen-tragisch. „Gamine“ und „Nous Debout“ sollen zum Mitsingen und -klatschen animieren, nerven durch die aufgesetzte Fröhlichkeit aber nur, „Comme Çi, Comme Ça“, „Si“ und „Si Je Perds“ sollen Piaf-Chanson-Atmosphäre verbreiten, bleiben jedoch flach und reichen bei Weitem nicht an das große Vorbild heran.

Neue Akzente wie Tango-Gitarren oder Disco-Keyboards sind zu halbherzig verteilt, um wirklich zu beeindrucken. Nur „Cette Journée“ und die Single „On Ira“ überzeugen: hier zieht Zaz mit sehnsuchtsvoll-aufmüpfigen Refrains alle Register und macht deutlich, wie gut sie sein kann.

Folgendes Szenario ist denkbar: Nach „Recto Verso“ gerät Zaz in eine Sinnkrise, zieht sich für eine Weile zurück, tingelt wieder als Straßensängerin und kehrt als gereifte Chansonniere auf die großen Bühnen zurück. Das Publikum wird sie lieben und „Recto Verso“ gnädig vergessen.

Zaz: Recto Verso. SonyMusic. Zur Homepage.

tricky_falseidolsWieder düster

(TM) Und da wir’s neulich schon von ihm hatten: Was macht eigentlich Tricky gerade? Nun, mit seiner neuen Platte „False Idols“ ist er wieder einmal auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Vielleicht zum ersten Mal seit dem bahnbrechenden „Maxinquaye“ aus dem Jahr 1995 traut man dem Vater aller Trip-Hopper zu, wieder einmal zu einer musikalischen Aussage zu finden, die sich im kulturellen Gedächtnis verankern wird. Das liegt hauptsächlich daran, dass seine Songs, die er mit diversen befreundeten Musikern eingespielt hat, so düster und kompromisslos klingen wie schon lange nicht mehr.

Dabei sind großartige Verbeugungen vor Standards wie „Somebody’s Sins“ oder „My Funny Valentine“, denen Tricky ein modernes, dürres Soundgewand umwirft. „My Funny Valentine“ z. B. erzählt eine zeitgenössische Geschichte aus den barrios dieser Welt, das im Refrain die bekannte Melodie zitiert – passend und bewegend.

Tricky: False Idols. False Idols (Alive). Zur Homepage.

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