Neue Platten von und mit Klaus Schulze, Merzbow vs. Nordvargr, Dead Sexy, Dirty Honkers und einer All-Women-Country-Compilation, gehört von Ronald Klein (RK) und Tina Manske (TM).
Einstieg
(RK) Steve Reich orakelte 1996: „Technologie ist heute ein fester Bestandteil unserer Volksmusik.“ Die Technologie wiederum bildet das Herzstück in Klaus Schulzes Klangkosmos, der seit mehr als 40 der geneigten Hörerschaft gewahr ist. Die Retrospektive des kongenialen Berliner Synthesizer-Pioniers geht nunmehr in die 13. Runde und enthält wiederum drei prall gefüllte CDs, deren Aufnahmen aus dem Jahr 1993 stammen.
Die Eröffnung erfolgt mit „Machine de Plaisir“, vor 20 Jahren lautete der Titel noch „Meditation 2“, was den 13 kontemplativen Stücken ebenfalls gerecht geworden wäre. Die zweite CD „Arthur Stanley Jefferson“ klingt deutlich dynamischer und erschien bisher in vielfältiger Form, jedoch nie in der ursprünglich gedachten. Schulze intendiert, es als dritten Teil in seine „Guttempler“-Reihe zu integrieren. Der darauf enthaltene Titel ‚Tag des offenen Denkmals‘ sollte für eine TV-Dokumentation verwendet werden, wozu es jedoch nicht kam. Anders hingegen Teile der dritten Scheibe „Borrowed Time“, die Schulze für den amerikanisch-ungarischen Spielfilm „Living On Borrowed Time“ komponierte.
Relativ untypisch sind die kurzen Spiellängen der einzelnen Titel. Der Berliner Elektronik-Musiker verirrt sich bisweilen in einem Song zwischen 20 und 60 Minuten. Insofern bietet „La Vie Electronique 13“ mit zahlreichen kurzen Stücken einen idealen Einstieg für all jene, denen bisher der Zugang zu den spacigen Synthesizerkompositionen verschlossen blieb.
Klaus Schulze: La Vie Electronique 13. Mig-Music (Sony).
Auf eigenen Beinen
(TM) Die erste Ausgabe dieser Compilation begleitete mich im letzten Jahr in die USA, jetzt wird es Zeit, wieder mal eine Reise über den Atlantik zu planen, denn Volume 2 von „Country Soul Sisters“ ist da. Die Reihe stellt wunderbare Countrysängerinnen vor, die dieses Genre in den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts erst zu seinem Erfolg verhalfen.
Dabei sind natürlich die Smash-Hits von Dolly Parton (das stilbildende „Klau-mir-nicht-den-Typen“-Lied „Jolene“), Jody Miller („Natural Woman“), Wanda Jackson („My Baby Walked Right Out On Me“), Jean Shepard („I’m Alone“) und Linda Ronstadt („Baby, You’ve Been On My Mind“), aber auch die anderen der insgesamt 24 Titel bringen den Hörer sofort in eine beschwingte Stimmung.
Missstände in der Beziehung oder in der Gesellschaft hin oder her – these sisters were doing it for themselves und machten damit wahrscheinlich mehr Frauen Mut, auf eigenen Beinen zu stehen, als es politische Reden jemals konnten.
Various: Country Soul Sisters 2. Soul Jazz Records (Indigo).
Nischenwerk
(RK) Der dritte Teil bildet nach 2004 und 2008 den Abschluss der „Partikel“-Reihe, die die beiden Noise-Musiker Merzbow aka Akita Masami und Nordvargr aka Henrik Björkk in einer knapp zehnjährigen Kollaboration einte. Der Japaner gilt als Pionier der Stilrichtung, der in den 70er-Jahren zwar noch in Progrock- und Free-Jazz-Formationen spielte, dann schließlich den Komponisten Stockhausen und dessen Klangästhetik für sich entdeckte. Seit der ersten LP „Metal Acoustic Music“ (1980) veröffentlichte Merzbow eine Unzahl von LPs und Boxsets, der Katalog umfasst 709 Einträge. Björkk debütierte neun Jahre später und veröffentlicht unter zahlreichen Pseudonymen Power Electronics, Noise, Industrial und Ambient.
„Partikel III“ lotet jedoch weniger die Extreme aus, für die beide Musiker bekannt sind. Die vier episch gehaltenen Stücke (‚Heterotic String Hybrid‘, ‚Lorentz Covariance‘ und ‚Submaton Color Pt. 1“ und der zweite Teil) sind natürlich weit davon entfernt mit abwertenden Begriffen wie „eingängig“ oder „getragen“ beschrieben zu werden. Dunkel dräuende Drones und mäandernde Klangfragmente bilden den Kern des Werks. Ein würdiger Abschluss der „Partikel“-Trilogie, die von Anfang ihre Fans gefunden hat. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein Nischenwerk, zu dem auch viele aufgeschlossene Hörer nur schwer einen Zugang finden werden.
Merzbow VS. Nordvargr: Partikel III. Cold Spring (Cargo Records).
Entertainment für den Augenblick
(RK) Klar, der Bandname stellt ein Oxymoron dar – zwei gegensätzliche Begriffe werden miteinander verwoben. Diese Strategie spiegelt sich auch in den Kompositionen wider: Rock’n’Roll, New Wave und Elektro bilden das musikalische Grundgerüst des Duos. Mit ihrem Elektro-Glam passte die 2003 gegründete Formation hervorragend in die letzte Dekade.
Im Prinzip könnte alles so bleiben – never change a winning team. Doch warum sich auf den Lorbeeren ausruhen? Die letzten drei Jahre wurde unermüdlich getourt. Irgendwann merkt man, wie wenig einem das zu Hause bedeutet und so zogen Dead Sexy kurzerhand von Hollywood nach hip… hipper… Berlin. Dorthin wurden zahlreiche Komponisten und Musiker eingeladen, die das Album veredeln sollten. Auf der prominenten Liste befinden sich: Cyril Debarge (We Are Enfant Terrible), James Leg (Black Diamond Heavies), Suzanne Combo (Pravda), Romain Frequency (Electrosexual), David Maars (Platzblanche), Boris Jardel (Indochine), und Mickey Blow (Johnny Thunders).
Dafür klingt „Rodeo Boys“ reichlich retro, was ohnehin beabsichtigt ist, da man Produzenten wählte, die in der Lage seien, den „Vintage-Sound“ einzufangen. Das hat geklappt. Aber wozu? Es fehlt die eigene Klangfarbe – Charakter und Charisma. Das Album enthält ein paar Nummern, die sich zu Floorfillaz in den Clubs taugen. Aber mehr als etwas Entertainment für den Augenblick entfaltet sich nicht.
Dead Sexy: Rodeo Boys. 7Music (New Music Distribution).
Anything goes
(RK) Die Berliner Clubszene konstituiert sich aus unterschiedlichen Musikrichtungen, die eine friedliche Coexistenz führen. Dominierten in den 90ern House und Techno, waren es später Minimal und Indie. Schließlich erreichte vor ein paar Jahren der Electro Swing, der bereits in London und Paris die Tanzflächen zum Kochen brachte, die deutsche Hauptstadt. Die Dirty Honkers sind so eine Pflanze von der Spree. Ihre Mitglieder stammen jedoch aus drei unterschiedlichen Kontinenten, was typisch für die Metropole Berlin erscheint: multikulturell bedeutet mittlerweile ein gegenseitiges Befruchten und „anything goes“.
Genregrenzen waren gestern. Sänger Gad Baruch Hinkis, auch bekannt als DJ Neckbreaka, galt noch vor einigen Jahren als Protagonist der israelischen Hip-Hop-Szene. Zusammen mit Andrea und Florent, die bei den Haferflocken Swingers Rock’n’Roll gekonnt mit Swing kombinieren, bildet er den Kern der Dirty Honkers, deren Akzent noch ein bisschen mehr auf dem Electro als Swing liegt.
Auf der Videoplattform Youtube sind die drei längst etablierte Stars mit knapp 100.000 Klicks. Auch die Live-Performance im April in Berlin-Kreuzberg entzückte: Dank Improvisationen mittels eines selbstgebauten Joysticks entwickelt auch die Bühnenpräsentation eine intensive Energie, die durch die Elektronik auf der Platte ein wenig überdeckt wird.
Dirty Honkers: Superskrunk. Dirty Honkers (edel).