Neue Platten von und mit Kitty Solaris, Deptford Goth und HK 119; gehört von Christina Mohr (MO) und Janine Andert (JA).
Sonne blitzt durch
(MO) Kirsten Hahn alias Kitty Solaris kann als leuchtendes Beispiel für ein florierendes Ein-Frau-Unternehmen herangezogen werden: seit sieben Jahren betreibt sie ihr Label Solaris Empire von ihrer Berliner Wohnung aus und veröffentlicht darauf so tolle Acts wie Sofia Härdig, Almost Charlie, My Sister Grenadine und sich selbst. Dass die fürs Überleben im Indie-Kosmos so notwendige Mischung aus Selbstausbeutung und bedingungsloser Liebe zur Sache nicht immer reines Zuckerschlecken ist und so manche Blessur mit sich bringt, davon erzählt Kitty Solaris‘ drittes Album „We Stop the Dance“, das mindestens so schön geworden ist wie der Vorgänger „Golden Future Paris“, nur stellenweise ein klitzekleines Bisschen melancholischer.
Die elf Songs bilden eine zugängliche, dabei nie vorhersehbare Mischung aus tanzbarem Elektro und gitarrenbetontem, luftigem Indie-Pop; sehnsüchtig und an den Umständen zweifelnd – an denen die Musikerin zum Glück nicht verzweifelt, sondern aufbauende Lieder darüber schreibt wie zum Beispiel „Take It Easy“ oder „Your Night Is My Day“. Die Welt von Kitty Solaris ist voller Widersprüche, traurig und froh, manchmal bewölkt, aber man kann die Sonne immer schon durchblitzen sehen. Songs wie „Hot Town Blues“ oder „Take It Easy“ verbreiten süße Euphorie und vertreiben hoffentlich auch den letzten grauen Winterschleier.
Kitty Solaris: We Stop the Dance. Solaris Empire. Zur Homepage.
Nietzsche und Schopenhauer für die Ohren
(JA) Die Früherziehung unserer Kinder mutet zuweilen etwas fragwürdig an. Der Kinderkanal hat Bernd, das depressive Brot, und London den Grundschulreferendar Daniel Woolhouse. Woolhouse aka Deptford Goth unterrichtete tagsüber die lieben Kleinen und nahm nachts sein Debüt „Life After Defo“ auf. Verträumte Melancholie, die Herzen erwärmt und gleichzeitig bricht. Mit der 2011er-EP „Youth II“ deutete sich der musikalische Weg bereits an. Auf dem Debüt „Life After Defo“ verlangsamt sich der Grundtenor noch einmal. Das Album fängt den Esprit aktuellen Musikgeschehens genauso ein, wie es durch die vagen Lyrics und eben die Antithese zwischen ätherischer Gelassenheit und bedrückendem Post-Dub Raum für philosophische Fragen lässt.
Der Titel verweist auf Ungewissheit und Deutungsspielraum. „Defo“ – die britische Kurzform für „definitely“. Unbestimmtheit markiert das gesamte Album. Woolhouse murmelt seine Texte mehr als dass er sie klar intoniert. Brocken, die von Einsamkeit und Unsicherheit künden, drängen sich an die Oberfläche des dichten Klangmeers. Vielschichtig formen sich schleichende Elektronikfragmente zu eingängigen, wunderschönen Melodien. Oder in den Worten von Daniel Woolhouse: „sitting somewhere between real and synthetic“. Dieses Bild trifft den Eindruck des Albums ganz gut – es hat etwas von An-einem-Punkt-Festsitzen und beobachten; sich treiben lassen ins Ungewisse. Für Woolhouse ist die Musik ein Weg, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, ohne in eine direkte Konversation gedrängt zu werden – das Leid der Schüchternen.
Das Resultat ist ein sehr intimes Album. Die Presse vergleicht Deptford Goth mit James Blake und zieht Parallelen zum schwebenden Sound von The XX. Passt schon, wenn das Album irgendwie beschrieben werden muss. Dennoch fällt „Life After Defo“ weitaus wärmer und weniger hoffnungslos als James Blake aus. Woolhouse selbst sieht im Kern seiner Songs einen Bluessänger mit Gitarre. Nun ja, der muss ernsthaft gesucht werden. Aber eine gewisse Verwandtschaft zu Singer-Songwriter Bon Iver kann durchaus attestiert werden, insbesondere zu dessen Album „For Emma, Forever Ago“ oder auch zu Apparats „The Devil’s Walk“. Wie kaum sonst jemandem gelingt es Deptford Goth, musikalisch kalte Ambientteppiche mit dröhnendem Doom-Sound und warmem Gesang zu vereinen. Auch hier ist nichts gewiss, sondern weitet sich ins Unendliche aus. Wer seinen Kindern Nietzsche und Schopenhauer zum Lesen gibt, MUSS dieses Album kaufen. Der Rest sollte es auch tun.
Deptford Goth: Life After Defo. Merok Records/Cooperative Music . Zur Homepage von Deptford Goth, zum Facebook Auftritt und zur Single „UNION“ auf Soundcloud
Plüschdicke Beats und Amselpiepsen
(MO) HK119 ist kein besonders griffiger Künstlerinnenname: man stellt sich vielleicht ein Synthesizermodell vor oder irgendein anderes technisches Gerät, nicht aber eine blonde, gutaussehende Finnin. Die in London lebende Multimedia-Künstlerin Heidi Kilpeläinen gibt mit ihrem Pseudonym, einem fiktiven Barcode, einen ironischen Kommentar zu unserem konsumdominierten Alltag ab – und nimmt dafür in Kauf, hinter ihrem Buchstaben-Zahlenkürzel zu verschwinden. Entdeckt wurde sie aber trotzdem, nämlich von Elektro-Avantgardistin Leila Arab, die Kilpeläinen im Jahr 2004 an Björk empfahl, die HK119 ohne Umschweife zu ihrem Lieblingsact erklärte und dafür sorgte, dass Kilpeläinens Musik auf Björks Hauslabel One Little Indian erschien.
Mit „Imaginature“ bricht Heidi Kilpeläinen ihr früheres, strenges Elektronika-Konzept auf: zum ersten Mal verwendet sie Field Recordings wie Vogelzwitschern und das Summen von Insekten und propagiert bei aller Technikaffinität die Schönheit der Natur. Sie verwebt Geräusche aus dem Wald mit Maschinensounds, das Ergebnis – wirkungsvoll in Szene gesetzt von The Knife- und Fever Ray-Producer Christoffer Berg, der auch am aktuellen Album von Depeche Mode mitwirkte – nennt sie selbst schlichtweg „eine Revolution“. Tatsächlich kann man sich dem eigentümlichen Reiz, der von der Mixtur aus pfeifenden Synthies, pulsierenden, plüschdicken Beats und Amselpiepsen lebt, nicht entziehen. Tracks wie „Wild Grass“ oder das dancefloor-taugliche „Iceberg“ sind so seltsam wie großartig.
Großartig ist auch Kilpeläinens Stimme, die so voluminös klingen kann wie Shirley Bassey – dieser Hauch von Soul passt, man wundert sich kaum noch, perfekt zur paradoxen Gemengelage von „Imaginature“, das fraglos eins der spannendsten Alben dieses Frühjahrs ist.
HK 119: Imaginature. One Little Indian. Zur Homepage und zum Download von „Adailson“.