Geschrieben am 5. Juni 2012 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von und mit Friends, David Bowie, Volcano!, Cold Specks, Pietro Riparbelli, Saint Etienne und Bobby Womack, gehört von Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).

Friends: Manifest!Instant classics

(MO) Das Quintett Friends aus Brooklyn ist so fresh und hip, dass Musikjournalist Paul Lester im Guardian einen total begeisterten Artikel geschrieben hat, der gleichzeitig schon ein Abgesang ist. Gut möglich, dass Friends bald Geschichte sind: wer spricht heute noch vom Hype von gestern? Angesichts des rasanten Auf- und Abtauchens neuer heißer Bands im Netz muss man damit rechnen, dass auch die superhotte Samantha Urbani (Gesang), Lesley Hann, Matthew Molnar, Nikki Shapiro und Oliver Duncan nur diesen Sommer tanzen – deshalb sollte man nicht lange fackeln, sondern mitmachen. Die ersten drei Tracks von „Manifest!“ sind instant classics, so umwerfend wie das Debüt von The Drums: „Friend Crush“, „Sorry“ und „Home“ sind clevere, catchy, hyperrhythmische Mixturen aus Versatzstücken von ESG, Tom Tom Club, Lisa Lisa & Cult Jam – überhaupt sind Friends so newyorkish wie keine andere Band zurzeit, selbstbewusst zitieren sie das musikalische Erbe dieser Stadt und kicken sich lässig durch Funk, No Wave über frühen Hip-Hop bis in die  Gegenwart. Friends schaffen es sogar, im für Bleichgesichter heiklen R’n’B-Fach zu stöbern und dabei so cool zu sein wie beim Achtziger-Synthie-Retromanieren. Songs wie „I´m His Girl“, „Va Fan Gör Du“ und „Mind Control“ sind  überschwänglich und wild – bei aller Club- und Streetdance-Euphorie schwingt bei Friends fast unmerklich eine düstere Note mit, besonders bei „Ideas On Ghosts“ und „Ruins“, als ahnte die Band selbst, dass auch die tollste Party mal ein Ende hat. Also: Sonnenbrille auf, Ghettoblaster unter den Arm klemmen und raus auf die Straße! Mit Friends natürlich!

Friends: Manifest! Lucky Number/Cooperative.

www.luckynumbermusic.com
www.myspace.com/friends

David Bowie: The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars40 jahre alter Trendsetter

(MO) Wir Erdenbürger dürfen uns glücklich schätzen, dass wir heuer den 40. Geburtstag von Ziggy Stardust feiern können: im Song „Five Years“ prophezeit David Bowie alias Ziggy nämlich den Weltuntergang im Jahre 1977. Dass apokalyptischen Voraussagungen mit Skepsis zu begegnen ist, weiß man ja nicht erst seit Harold Camping oder fehlerhaften Maya-Kalendern – auch Ziggy und seine Spinnen vom Mars hielten sich anno 1972 alle Optionen offen und packten mit „Starman“ den optimistisch-utopischen Gegenentwurf zu „Five Years“ auf die Platte. Der gewagt frisierte und glamourös geschminkte Ziggy Stardust wurde zu David Bowies prägnantester Inkarnation, höchstens noch getoppt vom kurze Zeit später  aufgetauchten eleganten Thin White Duke. Die Songs auf „The Rise and Fall“ sind typische Kinder der frühen 1970er-Jahre: Hard-, Art- und Glamrock, wie ihn zu dieser Zeit T. Rex und Mott The Hoople spielen und Roxy Music bald spielen werden, vermischt mit Psychedelic-Pop- und Folkelementen. Interessant ist, wie Bowie und seine Musiker (Mick Ronson, Mick Woodmansey, Rick Wakeman, Trevor Bolder, Gastsängerin Dana Gillespie) auf diesem Album anderen Bands Tribut zollen: man zitiert Riffs von The Who, die Beach Boys, Small Faces und Velvet Underground – Zitatpop, vierzig Jahre alt! Ebenso interessant ist, wie Bowie auf seinem fünften Album Trends vorweg nimmt: „Suffragette City“ klingt auch für heutige Ohren ziemlich punkig, vom expressiven Gender-Blending der Figur Ziggy mal ganz abgesehen. „The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“ ist eine Schwellen- oder Übergangsplatte, ein bisschen wirr und  unentschlossen, inhaltlich und musikalisch eklektisch – und gerade deshalb so gut.

David Bowie: The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars. 40th Anniversary Edition. EMI Catalogue.

www.davidbowie.com

Volcano!: PiñataVorzüglich und humorig

(TM) Die erste CD dieses Trios aus Chicago hieß „Beautiful Seizure“, und genau das, einen schönen Anfall, bekommt man noch jedes Mal, wenn man eine Platte von Volcano! hört. Und eine Piñata, das weiß ja auch jeder, auch wenn er sonst nix über Mexiko weiß, ist ja auch was Hübsches zum Draufschlagen. Und auf die Zwölf gibt es bei „Piñata“ jede Menge. Für ihre neue Platte hat die Band ihren Art-Pop-Noise-Rock noch weiter verfeinert und das POP größer geschreiben denn je. Im Mittelteil, bei „Danceman“ und noch mehr bei „St. Mary Of Nazareth“, klingen Volcano! mehr denn je wie besoffene Radioheads – näher als mit diesen Songs kann man als Volcano! den Charts wohl nicht mehr kommen. Was natürlich ganz und gar zu begrüßen ist, nicht, dass, wir uns da falsch verstehen. „Pinata“ ist von vorne bis hinten auf musikalisch höchstem Niveau, voller überaschender Drehs und Wendungen, rhythmisch vertrackt und polydynamisch, vorzüglich. Fragte man mich aber, welchen Song der Platte ich retten würde, wenn’s brennt, dann wählte ich ohne zu zögern das grandiose (und nicht zuletzt grandios gesungene) „Child Star“, eine abgefahrene Phantasie über eine Wiedergeburt, die zu einer Leader-Position qua Wissenvorsprung führt. Womit auch klar ist, dass Humor zu Volcano!s hervorragensten Eigenschaften gehört.

Volcano!: Piñata. The Leaf Label (Indigo).

Cold Specks: I Predict A Graceful ExpulsionWenig gewagt

(MO) Man soll ja nicht vergleichen, ich mach‘ es aber trotzdem: im vergangenen Jahr begeisterte die äthiopisch-finnische Musikerin Mirel Wagner mit ihrer dunklen Neudefinition des Blues Fans und KritikerInnen. Dass sich eine junge Frau mit Leib und Seele einem so altmodischen wie männerdominierten Stil verschreibt und dann noch ein so tolles Debütalbum herausbringt, ist beeindruckend. Bei „I Predict A Graceful
Expulsion“, dem Debüt von Al Spx alias Cold Specks, sind ähnliche Reaktionen zu erwarten. Die 23-jährige Kanadierin gräbt tief in den Traditionen des amerikanischen Storytelling, des frühen Soul, Folk und Blues. Ihre Stimme erinnert an die große  Folksängerin Odetta und an Janis Joplin, und diese Stimme ist es auch, die die elf Songs dominiert: rau und verletzlich, aber auch stark und unbeugsam wirkt Cold Specks bei „Send Your Youth“ oder „Blank Maps“. Man hört ihr gerne zu und doch bewegt „I Predict“ die geneigte Hörerin nicht so stark wie Mirel Wagners Musik. Woran liegt das? Cold Specks und ihre Band (Gitarre, Piano, Cello, ein wenig Saxofon und Percussion) machen nichts wirklich falsch, wagen aber auch wenig; dito Producer Rob Ellis (PJ Harvey, Marianne Faithfull), der sich zu sehr auf die reizvolle Verbindung aus junger Künstlerin und traditioneller Musik verlässt. Am Spannendsten wird es bei „Holland“, wo das Tempo anzieht und etwas Bewegung ins Spiel kommt. „Doom Soul“ nennt Al Spx ihre Musik und man weiß, dass sie es sich wünscht, verdammt und soulful zu klingen. Aber Cold Specks wird nicht von den Höllenhunden gehetzt, die Mirel Wagner heimsuchen.  „I Predict A Graceful Repulsion“ ist ein Album, das trotz perfekter Bestandteile nicht wirklich zu berühren vermag.

Cold Specks: I Predict A Graceful Expulsion. Mute/GoodToGo/Aip.

www.coldspecks.com

Pietro Riparbelli: Three Days Of SilenceKlosterleben, weltlich erfahrbar

(TM) Im Mai 2011 verbrachte der Soundkünstler Pietro Riparbelli drei Tage im Kloster von La Verna in der Toskana, gelegen auf einem Hügel, der sich ‚Berg der Stigmata‘ nennt (der heilige Franz von Assisi soll hier seine Stigmata erhalten haben). Mit seinem Mikrofon machte Riparbelli Feldaufnahmen des Klosterlebens und der es umgebenden Natur. „Three Days Of Silence“ ist, wie Riparbelli selbst sagt, eine „phänomenologische Hörerfahrung“. Vor dem Hören hatte ich eine bestimmte Erwartungshaltung, die – surprise, surprise – viel mit Stille zu tun hatte. Diese wurde jedoch komplett unterlaufen: „Three Days Of Silence“ ist alles andere als still. Riparbelli nimmt die Feldaufnahmen als Rohmaterial für seine an Industrial und Drone anknüpfenden Kompositionen. Das ergibt einen erhellenden Effekt. Nicht Meditation ist das Ziel, jedenfalls nicht in der allgemein an den Begriff ‚Kloster‘ anknüpfenden Weise. In Riparbellis Stück werden die Töne des religiösen Lebens eingebettet und oftmals überlagert von den Kunststücken, die das technische Equipment daraus machen: Der Klang der Orgel, der fern wie durch Nebel durch eine dräuende Wall of Sound hörbar wird, der Gesang der Mönche, zu dem man sich kämpfen muss. Riparbelli macht das Klosterleben sehr weltlich erfahrbar, und auch sein Vorgehen nachvollziehbar. Denn die CD ist nur eines von drei Teilen, die das Gesamtwerk bilden; Teil zwei sind die Fotos aus La Verna, die Riparbelli jeweils mit einer originalen Feldaufnahme des jeweiligen Ortes verbindet, Teil drei ist das Tagebuch, das er über den Besuch führte. Um sich also das gesamte Bild zu machen, sollte man nach dem Hören auch mal auf die entprechende Webseite surfen (s. u.).

Pietro Riparbelli: Three Days Of Silence. The Mountain of the Stigmata. Gruenrekorder.

www.three-days-of-silence.gruenrekorder.de

Words and Music by Saint EtienneGeschmacks-Garanten

(MO) Sie sind die Gralshüter des geschmack- und anspruchsvollen britischen Dance-Pop: das Trio Saint Etienne, bestehend aus Bob Stanley, Pete Wiggs und last but certainly not least Sarah Cracknell. Und irgendwie passt es auch, dass genau zum 60. Thronjubiläum von Queen Elizabeth II. ein neues Album von Saint Etienne  erscheint: die Band ist zum britischen Allgemeingut geworden – und das, obwohl sie sich nach dem französischen Fußballclub AS Saint Etienne benannte. Mit „Words And Music By Saint Etienne“ war nicht unbedingt zu rechnen, denn als vor sieben Jahren „Tales From Turnpike House“ erschien, galt es als Abschiedsalbum, famous last words von MusikerInnen, die sich nun anderen Dingen zuwenden wollten. Doch Cracknell, Wiggs und Stanley lieben die Musik zu sehr, um sie aufzugeben. „Words And Music“ soll ein Neubeginn sein, ein unbefangener Umgang mit Musik, als täten sie alles zum ersten Mal. So ist es natürlich nicht ganz: die zarten Beats und schwelgenden Melodien bezaubern wie früher, als Sarah Cracknell „Join Our Club“ und „Hug My Soul“ sang und alle mit Cocktailglas in der Hand dazu tanzten. Der Opener „Over The Border“, „DJ“ oder „Record Doctor“ erinnern an diese Zeiten und sind auch genauso gut. Aber anders als die Pet Shop Boys (um die anderen, älter gewordenen Geschmacks-Garanten aus GB zu nennen) rutschen Saint Etienne recht häufig ins schlagerhafte Erwachsenenmetier ab; der Club wird durch die Afterwork-Lounge ersetzt, Atmosphäre durch Prefab-  Pop-Versatzstücke. „When I Was Seventeen“ oder „I Threw It All Away“ bedauern allzu offensichtlich das Verschwinden der Jugend und der Coolness. „Words And Music“ ist streckenweise eine schöne Platte, hinterlässt aber keinen allzu tiefen Eindruck.

Words and Music by Saint Etienne. Universal.

www.saintetienne.com

Bobby Womack: The Bravest Man In The UniverseR-E-S-P-E-C-T

(TM) Erste Assoziation zu Bobby Womack: „Jackie Brown“-Soundtrack, Quentin Tarantino, „Across 110th Street“, stärkster Titel des Films und wunderbar zum Intro mit Pam Grier auf dem Flughafen auf dem Weg zur Arbeit. Will sagen: Jemanden wie Bobby Womack muss man nicht mehr ins 21. Jahrhundert holen, er ist schon da. Das neue Album „The Bravest Man In The Universe“ der mittlerweile 68-jährigen Soul- und R’n’B-Legende wurde produziert von Damon Albarn (für dessen Band Gorillaz Womack beim Song „Plastic“ schon 2010 mitmischte) und XL-Labelboss Richard Russel. Die an dieses Produzententeam geknüpfte Hoffnung, dass man den Mann mit Respekt behandeln und ihn nicht in Möchtegern-Muckertum ertränken würde, gehen in Erfüllung. Mit „Stupid“ gelingt dem Trio tatsächlich ein Titel, der den Soul als Ganzes nach vorne bringen dürfte. Auf dem ebenfalls starken „Dayglo Reflection“ darf auch der schnell verglühte Superstar Lana Del Rey ihre Stimme mit hohem Wiedererkennungswert leihen – und siehe, sie klingt in diesem Umfeld sofort um einiges stärker als auf ihrem eigenen Album. Die Produktionen mit billigen Wischwasch-Sound halten sich in Grenzen (Ausnahme: „Love Is Gona Lift You Up“ mit seinen plastikhaften House). Fazit: Die Platte ist sicherlich nicht die mutigste des Universums, aber auf gutem Niveau ok, und an Womacks Stimme kommt eh keiner ran.

Bobby Womack: The Bravest Man In The Universe. XL/Beggars (Indigo).

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