Neue Platten von Florence and the Machine, High Places, I Break Horses, Ivy, Qluster, Roedelius Schneider und The Dø, gehört von Janine Andert (JA), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (CM).
Wuchtig
(CM) Mit ihrem Album „Lungs“ gelang der flammendrothaarigen Londonerin Florence Welch 2009 ein Überraschungserfolg – als hätte die ganze Welt auf den sehnsuchtsvollen Opulenzpop von Florence and the Machine nur gewartet. Die heute 25-jährige Sängerin und ihre Band waren auf einmal überall, traten bei den Grammy Awards und in TV-Shows auf und die schöne Florence zierte viele Magazincover.
Bei ihrer neuen Platte „Ceremonials“ legen Florence and the Machine noch eine Schippe drauf: bombastischere Arrangements, mehr Hall, mehr Chöre, noch stärker ausgeprägte Laut-Leise-Kontraste, mehr Drama. Florence selbst nennt ihre Musik „massiv und gewaltig“ und sagt, dass sie nicht anders könne als Pop-Epen zu schaffen, die einen „umhauen“ (Zitat). Tatsächlich sind Songs wie „Only If For A Night“, „All This And Heaven Too“ und „Leave My Body“ enorm wuchtig instrumentiert und ehrfurchtsgebietend emotional: bei Florence gibt es keine Zwischentöne, die Dinge sind entweder schlimm oder schön, halbe Sachen interessieren sie nicht.
Auf Dauer ist diese geballte Ladung hymnischer Leidenschaft ganz schön anstrengend – zum Glück hat Florence in der Mitte des Albums zweieinhalb leichtfüßige, poppige, beinah tanzbare Stücke untergebracht („Lover To Lover“, „Seven Devils“), die ein bisschen frische Luft ins sakrale Gewölbe bringen. „Ceremonials“ ist die ideale Winterplatte für Leute, denen richtiger Gothic zu schwarz ist. Was ich aber überhaupt nicht verstehe: warum wird Florence ständig und überall mit Kate Bush verglichen? Weder ähneln sich die Stimmen noch hat Bush jemals so im Barock geschwelgt wie Florence and the Machine.
Florence and the Machine: Ceremonials. Island (Universal). Zur Homepage.
Poppig
(TM) Mit „Original Colors“ erscheint dieser Tage das dritte Album der amerikanischen Band High Places. Und sie sind damit poppiger denn je – wenn diese Platte nicht die Tanzflächen dieser Republik erobert, was dann? Die Einflüsse sind vielfältig – ganz weit vorne sind die Hallexzesse von Dub und Electro Dancehall, doch auch Garage, Drum’n’Bass, Techno und House haben ihre Spuren hinterlassen in den Tracks des Duos. Neben den klug komponierten Soundstrukturen, die sich Rob Barber ausdenkt, beherrscht die Stimme der Mezzosopranistin Mary Pearson die Songs. Obwohl die Rhythmen durchaus tricky und ausgefuchst sind, behält „Original Colors“ die ganze Strecke über einen enormen Pop- und Danceappeal.
Auch auf audiovisuellem Gebiet sind High Places immer für künstlerische Handzeichen zu haben: auf ihren Konzerten zeigen sie eigens entworfene Videoprojektionen, auf ihrem Blog gibt es Fotodokumentationen ihrer Reisen, und auch das Album-Artwork stammt von ihnen.
High Places: Original Colors. Thrill Jockey (Rough Trade).
Charmant und unkommerziell
(CM) Auf diese beiden konnten sich vor zwei Jahren alle einigen: mit seiner durchgedreht-eklektischen Mixtur aus Spielplatz-Pop und Chanson begeisterte das finnisch-französische Duo The Dø Indie- und Mainstream-Publikum gleichermaßen; wo immer sie auftauchten, sorgten Olivia Merilahti und Dan Levy für volle Konzertsäle und glücklich-erschöpfte Besucher. Erfreulicherweise haben sich The Dø auch für das gemeinhin schwierige zweite Album ihre Experimentierlust bewahrt: „Both Ways Open Jaws“ ist so arty, charmant und im Grunde unkommerziell wie das Debüt „A Mouthful“. Levy und Merilahti nennen Musiker wie Charles Mingus als Vorbilder, Leute, die wie sie keinem vorgefassten Plan folgen. The Dø spielen gern herum, mixen den Klang einer Wurlitzer mit einem Vibraphon und dem Geschepper von Küchengeräten und gucken, was dabei heraus kommt.
Bei den meisten Stücken ist das richtig toll: Klavier und Klapperschlangen begleiten Olivias Doppel-Gesang beim verführerischen „Bohemian Dances“, „The Calendar“ lädt zu einem ziemlich schrägen Squaredance, im Opener „Dust It Off“ schwelgen The Dø in Trip-Hop-Anmutungen, während „Gonna Be Sick!“ und „The Wicked & The Blind“ das Tempo kräftig anziehen. In den Lyrics geht es um schwarze Magie und anderes psychedelisches Zeug, was aber völlig ok geht, ebenso wie die schwächeren Stücke „Leo Leo“ und das Instrumental „B.W.O.J.“ Schließlich kann nicht jedes Experiment glücken.
The Dø: Both Ways Open Jaws. naïve (Indigo). Zur Homepage.
Soundtrack für Traumtänzer
(JA) Wabernde Soundteppiche treffen auf Frauengesang in bester Dream-Pop-Manier – wem bei I Break Horses das Herz nicht aufgeht, der trägt einen Ziegelstein in sich. Das Debüt „Hearts“ orientiert sich gekonnt an My Bloody Valentine, einer Band, die offensichtlich Pate für die neun Songs stand. Doch I Break Horses schaffen es, immer wieder eigene, zeitgemäße Klänge einzuflechten. Hier und da kämpfen sich ein Indie-Gitarrenriff, eine Drummachine, sakrale Keyboardtöne oder ein pulsierendes Schlagzeug den Weg durch die Shoegaze-typische Wall of Sound.
Schwebend und unaufdringlich verbindet das Duo Licht mit Dunkelheit. Maria Lindéns warmen, durchaus harmonischen Kompositionen treten Frederik Balcks düsteren Texten entgegen. Dabei erschaffen die Schweden ein fortwährend hypnotisierendes Klanggebilde, das ihre offensichtlichen Vorbilder einst mit unhörbarem Gitarrengesäge durchbrachen. In „Wired“ schwingt gar die Sexyness früher Goldfrapp-Alben mit, die meisterlich mit nebeligen Melodien verwoben ist – quasi der Soundtrack für Traumtänzer.
Gegen einen gewissen zuckersüßen Grundtenor lösen sich die einzelnen Tracks auch gerne einmal in disharmonischen Gitarrenrückkoppelungen auf. Richtig: Auflösen. Von Brüchen kann auf „Hearts“ nicht die Rede sein. Dieses Album zelebriert die Harmonie der Dissonanz wie selten zuvor und bleibt dabei durchgängig hörbar, schafft den Balanceakt zwischen Frickelei und Eingängigkeit, ohne Langeweile zu erzeugen.
I Break Horses: Hearts. Bella Union/Cooperative Music. Zur Homepage, auf Facebook.
Weichzeichner
(TM) „Rufen“ ist der zweite Teil einer Trilogie des Duo-Projektes Qluster von Hans-Joachim Roedelius und Onnen Bock. War der Vorgänger „Fragen“ schon auf dem Weg in seltsame Gefilde, so begegnen dem Hörer hier gänzlich unwirkliche Soundgeschöpfe – man fühlt sich wie in einem Zukunftstraum, den ein Mensch des 19. Jahrhunderts träumt. Strukturen von romantischer Musik werden hier auf analogen Synthesizern umgesetzt und ergeben so ein Ambient-Album von außerweltlicher Schönheit. Die Songs wurden live aufgenommen bei Festivals in Österreich.
Ein weiteres neues Roedelius-Projekt ist das seiner Zusammenarbeit mit Stefan Schneider, Mitbegründer von Kreidler und Mitglied von To Rococo Rot. Die Vorgabe für die Musik auf „Stunden“ war sehr einfach: leise sollte es sein, der Rest sollte sich von allein ergeben. Im Mittelpunkt steht das Titelstück in drei verschiedenen Varianten. Aber das Prinzip erstreckt sich auch auf die restlichen Teile des Ganzen: Roedelius spielt Klavier, Schneider reagiert mit seinem elektronischen Equipment darauf, verstärkt, kommentiert, umschmeichelt. Musik für Menschen, die finden, dass Weichzeichner keine Weicheier sind.
Qluster: Rufen; Roedelius Schneider: Stunden. Beide Bureau B (Indigo).
Songs für TV-Serien
(CM) Das New Yorker Trio Ivy gehört zu den vertrauten Unbekannten des Musikgeschäfts: ihre Songs laufen in Filmen und TV-Serien wie „Grey´s Anatomy“, die UrheberInnen sind nur eingefleischten Fans ein Begriff. Die Band um die französischstämmige Sängerin Dominique Durand ist daran nicht ganz unschuldig: Ivy bestehen zwar schon seit 1994,
veröffentlichten bisher aber nur wenig und verabschiedeten sich überdies vor sechs Jahren in eine unbestimmte Pause, die nun mit dem neuen Album „All Hours“ beendet ist.
Adam Schlesinger, Andy Chase und Mme. Durand mixen eine durchgehend angenehme Melange aus Synthie-Elektropop, Achtzigerjahre-Memorabilia, ein bisschen Disco und ein paar ruhigeren Stücken. St. Etienne und Goldfrapp könnten als Vergleich herangezogen werden, vor allem wegen Dominique Durand, deren berückende Stimme definitiv das wichtigste Element des Ivy-Sounds ist. Das Spektrum der neuen Songs umfasst freundlich-belangloses Gedümpel wie „World Without You“, die sanft pluckernde, romantische Elektroballade „I Still Want You“ und eingängig-tanzbare Pop-Hooks wie im Opener „Distant Lights“.
Der heimliche Hit des Albums heißt „Fascinated“: hier trifft ein minimalistisches Arrangement mit zischelnden Hi-Hats auf eine so simple wie hübsche Melodie. Ziemlich sicher werden Ivy auch mit „All Hours“ nicht zu Topstars, aber ein paar passende Songs für TV-Serien haben sie wieder im Gepäck.
Ivy: All Hours. Nettwerk (Soulfood). Zur Homepage.