Geschrieben am 14. November 2012 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von und mit Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen, Lambchop, Madness, Skye, Andrew Poppy, Horseback & Locrian, Fanga/Maalem Abdallah Guinea, Stubborn Heart, Hans Unstern und Adrian Crowley, gehört von Thomas Backs (TB), Ronald Klein (RK), Julian Klosik (JK),  Tina Manske (TM),  Christina Mohr (MO) und Monique Schmiedl (MS).

Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen: Jeder auf Erden ist wunderschönWar es nicht schön?

(MS) Ist Carsten Friedrichs eigentlich eitel? Diese Frage ist in Anbetracht seiner neuen Platte „Jeder auf Erden ist wunderschön“ durchaus legitim. Schließlich geht es hier erstaunlich oft um Äußerlichkeiten. Ob nun um die Optik Jedermanns oder die Schönheit seiner Jeans, Carsten Friedrichs scheint erstaunlich beauty-fixiert.

Die/Der geneigte Musikhörer/in wird nun rufen: Moment! Carsten Friedrichs? Der Sänger von Superpunk? Die gibt’s doch gar nicht mehr! Immer rein in die Wunde! Gerade erst den Verlust akzeptiert, gerade erst die Tränen aus den Augenwinkeln gewischt und direkt wieder eine Klatsche kassiert!!‘ Aber nein! Keine Sorge! Carsten ist wieder da! Musikalisch wie immer, wortgewitzt wie eh und je und schön wie nie zuvor!

Gut, offiziell nennt sich sein neues Musikprojekt Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen. Offiziell besteht die Band aus fünf Musikern (u. a. auch Tim Jürgens von Superpunk). Offiziell ist Carsten einer von vielen. Was sich dem Ohr aber offenbart, ist Superpunk 2.0. Der Friedrichs steht so präsent im Mittelpunkt eines jeden Songs, dass sich der Vergleich zur Vorgängerband förmlich aufzwingt. Die Songstrukturen erinnern in einer Penetranz an Superpunk, dass es kaum auszuhalten ist: Der altbekannte Wortwitz, die seichte Themenwahl, das nonchalante Daherkommen bissigen Humors. Dass das Ganze gar nicht schlimm, sondern eher gewollt ist, dass Tapete Records, auf dem „Jeder auf Erden ist wunderschön“ erschienen ist, den Vergleich sogar in den Fokus seiner Bandinfos stellt, lässt wieder die Ausgangsfrage aufkommen: Ist Carsten Fiedrichs eigentlich eitel? Muss es immer um ihn gehen oder passiert das eher aus Versehen? Will er sein Superpunk-Erbe weiter betreiben und kann das Aus der Band nicht aushalten?

Eigentlich ist die Antwort wurstpiepegal, denn es funktioniert wunderbar! Das Debüt der Gentlemen ist ein altbekanntes Hörvergnügen! Ob es nun um Jeanshosen, Fußball oder die Heimatstadt geht, „Jeder auf Erden ist wunderschön“ kommt so herrlich locker und unbekümmert daher, dass der Wipp-Zeh angeschmissen, die Mitgröl-Stimme geölt und der War-es-nicht-schön-Modus angestellt wird! Ja, sie klingen wie Superpunk. Ja, sie erfinden die Welt nicht neu. Und ja, Carsten Friedrichs ist vielleicht der eitelste Nich-mehr-und-nun-doch-wieder-Frontmann. Aber, ach, lieber Carsten! Wenn sich so Eitelkeit anhört, dann wirf nochmal einen Blick in den Spiegel und sag dir: “Alles richtig gemacht!“

Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen: Jeder auf Erden ist wunderschön. Tapete Records (Indigo). Zur Facebook-Präsenz.

Lambchop: Mr. NFragil und melancholisch

(RK) Um gleich der Verwirrung vorzubeugen: Ja, das neue Lambchop-Album heißt natürlich „Mr. M“. „Mr. N“ hingegen stellt ein 22-minütiges Remix-Werk dar, das der Produzent Mark Nevers herausdestillierte. Die EP ist ausschließlich für den Download bestimmt. Vier Tracks, die leise flirren, begleitet von einer unheimlich langsamen Rhythmus-Fraktion, die bisweilen aber auch völlig verschwindet und die Streicher allein lässt.

Zwar wurde die Session noch einmal in vier Tracks unterteilt, jedoch funktioniert das Ganze nur als Gesamtwerk, unterteilt in vier Sätze, die quasi die Essenz der Stimmung der Alternative-Rocker um Kurt Wagner bilden.  Eine treffende Ergänzung zum aktuellen Album „Mr. M“, das ebenfalls fragil und melancholisch daherkommt.

Lambchop: Mr. N. City Slang  (Universal). Zur Mr. N – Beschreibung auf der City Slang-Homepage.

Madness: Oui, Oui, Si, Si, Ja, Ja, Da, DaVery british

(MO) Angesichts des Albumtitels fragt man sich, ob Madness wohl komplett verrückt geworden sind – aber ja, natürlich sind sie das, sagt ja schon der Bandname! Seit ihrem erstaunlichen Comebackalbum „The Liberty of Norton Folgate“ von 2009 sind Suggs und Kollegen wieder gut im Geschäft: Madness spielten im letzten Sommer für die Queen anlässlich ihres 60. Thronjubiläums und sind sowieso längst eine britische Pop-Institution.

Das Cover ihres neuen Albums wurde von Pop-Art-Papst Sir Peter Blake designt und zeigt, wie die Platte auch hätte heißen können: „The 10 Commandments“ zum Beispiel oder „Men of Steel“ – okay, dagegen ist „Oui, Oui, Si, Si, Ja, Ja, Da, Da“ gar nicht so schlecht, und schließlich waren Madness schon vor dreißig Jahren die lustigste aller Ska-Revival-Bands. Mit dem schlagerhaften „Misery“ und „La Luna“ im Mariachi-Style könnten Madness auch glatt einen Kölschen Karnevalszug anführen, ansonsten pflegt die Band inzwischen eine gemächlichere Gangart, die bestens zum 5-o’clock-Tea passt. Der Nutty-Sound bricht sich nur hin und wieder Bahn, aber man vermisst ihn nicht.

Madness sind mittlerweile ältere Herren, die sich ihrer und generell popmusikalischer Traditionen bewusst sind. Das lakonisch-tragische „Never Knew Your Name“ trägt den Geist der 1960er in sich (The Kinks!) und ist eine kleine Lektion in Demut, auch „How Can I Tell You“, „Small World“ und „Circus Freaks“ sind ernsthaft, nachdenklich, geradezu melancholisch. Mit der Single „Death Of A Rude Boy“ zelebrieren Madness den eigenen Mythos und tragen ihn zugleich zu Grabe, auch „My Girl 2“ (in zwei Versionen auf der Platte) ist eine Hommage an sich selbst, obwohl man den Hit von 1980 beim besten Willen nicht wiedererkennen kann. „Oui, Oui…“ ist ein zeitloses Popalbum mit großartigen Songs, very british, very Madness.

Madness: Oui, Oui, Si, Si, Ja, Ja, Da, Da. Cooking Vinyl. Zur Homepage.

Skye: Back To NowGereifte Songschreiberin

(RK) Als Morcheeba 2006 ihre Auflösung bekannt gaben, stellte das für deren Sängerin Skye Edwards die Möglichkeit dar, an ihrem eigenen musikalischen Ausdruck zu arbeiten. Das Ergebnis „Mind How You Go“ (2006) klang gar nicht so weit entfernt vom Trip-Hop-affinen Pop-Sound des Trios. Nach einem weiteren Solowerk („Keeping Secrets“, 2009) und der Reunion von Morcheeba wandelt die 36-Jährige auch weiter auf Solopfaden. „Back To Now“ präsentiert zehn Perlen auf hohem Niveau.

Stimmungstechnisch oszillieren die Nuancen zwischen Melancholie („Dissolve“) und Ausgelassenheit („Featherline“), spiegeln somit die Bandbreite des Morcheeba-Kosmos wider. Edwards präsentiert sich jedoch inzwischen als deutlich gereiftere Songschreiberin, die das Spannungsmoment über eine Stunde hält und den größten Hit ausgerechnet am Ende des Albums versteckt („Bright Light“).

Skye: Back To Now. PIAS. Zur Facebook-Site.

Andrew Poppy: Shiny Floor Shiny CeilingMinimal-Eklektik

(TM) „9 songs in search of a territory. 7 voices in search of asong“, ist die offizielle Beschreibung dieses Albums. Andrew Poppy, ein Veteran der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts, ist ein Meister der minimalen Komposition. Und ein Meister der Eklektik, denn er will sich partout auf kein Genre festlegen. Von Dark-Pop über Kunstlied und modernem Fado bis zu Rap und Hip-Hop, er mischt überall mit und versteht es, überall einen interessanten Zugang zu finden.

Und welch wunderbaren Wiederbegegnungen man hier entgegensieht: Auf „Dark Spell“ wird Andrew Poppy im Duett begleitet von Claudia Brücken, damals Sängerin bei Propaganda. Der Titelsong wird präsentiert von James Gilchrist, einem klassischen Tenor, dessen Performance von düsteren modernen Elektronika überlagert wird – so (und nur so) lasse selbst ich mir die Oper gefallen. Das einzige was fehlt an dieser großartigen, kleinen Veröffentlichung, sind die Stimmen von Kate Bush und Laurie Anderson. Sie würde so unglaublich gut passen zu diesen Kompositionen.

Andrew Poppy: Shiny Floor Shiny Ceiling. Field Radio (There Music). Zur Homepage.

Horseback & Locrian: New DominionsSpannungsreich

(RK) Sowohl Locrian wie auch Horseback zeigten sich in der jüngsten Vergangenheit kreativ in ihrer Veröffentlichungspolitik. Die aktuelle CD stellt ein Re-Release einer streng limitierten Vinyl-Kollaboration aus dem letzten Jahr dar, an die James Plotkin (u. a. Remixe für Sunn O))) und Earth) Hand anlegte. Zusätzlich zum Remastering besorgte er auch einen Remix, der als nun als Bonus-Track daherkommt. Locrian stehen für dunklen Ambient, während Horseback eine extrem gedehnte Variante des Stoner Rocks spielen und damit in Richtung Godspeed You! Black Emperor auf halber Geschwindigkeit tendieren.

Die beiden Projekte befruchten sich ungemein. Der Opener „The Gift“ beginnt sehr episch, um dann in jazzige Breaks und Black-Metal-Lyrics zu verfallen. Anschließend folgt das knapp 14-minütige „Our Epitaph“, das wie ein überlanger Post-Punk-Song klingt. „Oblivion Eaters“ wiederum verlässt den Vocal-Pfad: ein siebenminütiger Science-Fiction-Drone, an den das Instrumental „The Absence of Light“ anschließt, das stark die Handschrift LOCRIANS trägt. Die Wiederveröffentlichung schließt der Remix von „The Gift“. Plotkin entfernte den fragmentarischen Gesang und fügte einige Spuren hinzu, heraus kam eine etwas elektronischere Variante des Tracks. Sehr facetten- und spannungsreich!

Horseback & Locrian: New Dominions. Relapse (Rough Trade). Zur Relapse-Homepage.

Fanga / Maalem Abdallah Guinea: Fangnawa ExperienceUnblutiges Ritual

(TM) Die Waschzettel des Labels Strut werden jetzt wohl offensichtlich von Automaten übersetzt, anders wäre das Gestammel, das uns auf diese schöne Platte hinweist, nicht zu erklären. Aber egal, denn: „Fangnawa Experience“, diese Fusion von Afrobeat und marokkanischer Folklore, ist ein echtes Kleinod. Gnawa sind eine ethnische Minderheit in Marokko, deren Musik auch schon für Musiker wie Peter Gabriel und Joe Zawinul wegweisend war, und einer ihrer stärksten Stimmen sind Abdallah Guinea und seine Band Nasse Ejabda.

Für „Fangnawa Experience“ haben sie sich mit dem Afrobeat-Kollektiv Fanga aus Frankreich zusammengetan und 15 Fanga-Stücke zusammen neu interpretiert. Dabei legten die beteiligten Musiker Wert darauf, die den Tracks innewohnende Kraft der Trance freizulegen – was zu ausufernden Songlängen führt, die trotzdem niemals langweilig werden. Trance ist ein wichtiges Ingredienz der Gnawa, bei deren Ritualen – glaubt man Wikipedia – schon auch mal Tiere geopfert werden. Gut, dass man mit „Fangnawa Experience“ auf die unblutige Variante zurückgreifen und trotzdem aus der Haut fahren kann.

Fanga / Maalem Abdallah Guinea: Fangnawa Experience. Strut (Alive). Zur Homepage von Strut Records.

Bass-Pop

(JK) Post-Dubstep ist bekanntlich der vage Begriff für die Musik so unterschiedlicher Künstler wie James Blake, Jamie bzw. The XX, Sbtrkt, Four Ted und vieler mehr. In diesem Ober-Genre lässt sich auch das Gemeinschaftsprojekt von Luca Santucci und Ben Fitzgerald Stubborn Heart ansiedeln, das schon im letzten Jahr mit einer White-Label 12“ Aufsehen erregte. Nach der EP „Need Someone“ veröffentlichen sie nun ihr schlicht nach dem Projekt benanntes Debütalbum „Stubborn Heart“, das Post-Dubstep noch weiter Richtung Pop öffnet.

Eine schwermütige Grundstimmung, hervorgerufen vor allem durch den tief-melancholischen Gesang von Santucci – der sich u. a. bereits als Sänger auf einigen Leila-Tracks einen Namen gemacht hat – trifft hier auf eine absolut klare, cleane Produktion und ausgedünnte Beats. Kein virtuoses Sound-Gefrickel und Sample-Geschnipsel à la James Blake, sondern bassiger, zuweilen düsterer Sound, der keine Angst vor poppigen Melodien hat. Selbst die Cover-Version einer schnulzigen Soul-Ballade findet sich auf dem Album („It’s Not That Easy“), allerdings in ganz anderem Gewand.

Die treibenden, perkussiven Beats sind schön anzuhören und einige Tracks haben durch extreme Eingängigkeit Hit-Potential – allen voran „Better Than This“, mit seinen hallenden, ein wenig an Caribous „Bowls“ erinnernden Glocken und einem catchy Refrain. Einzige Gefahr bei „Stubborn Heart“ ist, dass man den souligen Gesang Santuccis als eintönig empfinden könnte – er ist auf nahezu jedem Track doch sehr ähnlich. Dennoch: Ein mutig poppiges Post-Dubstep Album; oder, wenn man die Genre-Etiketten-Maschine anwerfen möchte: Stubborn Heart begründen den Dark-Bass-Soul-Pop.

Stubborn Heart: Stubborn Heart. One Little Indian (Rough Trade). Zur Website, zur Facebook-Präsenz.

Hans Unstern: The Great Hans Unstern SwindleIn den Kaschemmen

(MO) Hans Unstern ist ein Verweigerer, ein Total-Verweigerer. Er gibt keine Interviews. Er schneidet sein Zottelhaar ab und trägt es jetzt strahlend blau und gescheitelt. Der Bart ist ab, überall und definitiv. Ist Unstern ein Autist? Ein Anarchist? Er ist erfolgreich, irgendwie, da unten im Untergrund, sein Labelchef Maurice Summen sieht es schon kommen, dass alle da hin wollen, „dann wird es eng in unseren Kaschemmen.“

Das darf, das soll man abschreiben aus dem Presseinfo, weil es vielleicht Unsterns eigene Worte sind, vielleicht aber auch nicht. Ist Unstern ein Betrüger, ein Blender, ein Schwindler, ein great rock’n’rollswindle? Seine Musik jedenfalls, das ist nicht irgendsoein gefälliger Singersongwriterindiepopzurgitarre, hier gibt’s Geigen und Orgeln und alles; die Texte – die singt man nicht einfach so mit. Oder doch?

„Ich schäme mich“, dieses gefistelte Bekenntnis, dieser verrätselte wortgewordene Masochismus kommt dann aber doch ganz erstaunlich leicht aus einem selber raus, „ich schäme mich, yeah!“ Oder das verwirrend groovige, noch rätselhaftere „Mit schwarzen Lippen sitzen wir hinten“ – ist das denn etwa kein Hit? Oder das genialische Michael Jackson-Rip off „Bea Criminal“, dieses Loblied auf das Fälschen und Aneignen und Nicht-der-Urheber-sein-wollen, das ist ja noch besser als das sloganhafte „Ergiebig und Erschwinglich“. Hans Unstern ist ein Zeuge, der nichts sagen will. Müsst ihr schon runterkommen, in die Kaschemme, in den Untergrund und euch die Haare blau färben. Und dann mal gucken, ob ihr die „Unbenannte Datei“ (Track # 5) entschlüsseln könnt.

Hans Unstern: The Great Hans Unstern Swindle. Staatsakt (Rough Trade). Zur Homepage.

Adrian Crowley: I See Three Birds FlyingNochmal melancholisch

(TB) Graue Wolken, tief hängend über der Heide: Ein Album-Cover kann direkt die Grundstimmung setzen. Auf „I See Three Birds Flying”, das sechste Studio-Werk des irischen Singer-Songwriters Adrian Crowley trifft das zu – das fein bebilderte Artwork stammt von Annie Atkins. „And I tried to write the saddest song in the world…” vernehmen wir noch ziemlich früh in dieser Songsammlung, Cello, Mellotron und die Bariton-Stimme des Manns aus Galway malen dunkle Farben.

Faszinierend, die Storys und Perspektiven, die der Geschichtenerzähler zu geheimisvollen Orten liefert, wie im für Crowleys Verhältnisse beinahe fröhlichen „At The Starlight Hotel”, dem dramatischen Intro „Alice Among The Pines” oder in der Ballade „From Champions Avenue To Misery Hill”. Produziert wurde gemeinsam mit Stephen Shannon, Musiker wie das Streicher-Duo Geese (Emma Smith & Vincent Sipprell) und Cellist Kevin Murphy (Cork) wirkten mit. Zum Resultat nur ein Wort: Großartig.

Adrian Crowley: I See Three Birds Flying. Chemikal Underground (Rough Trade).  Zur Website des Musikers.

Adrian Crowley live:
4. Dezember: Leipzig, Werk 2, 5. Dezember: Hamburg, Indra, 6. Dezember: Berlin, Monarch.

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