Neue Platten von und mit Damon Albarn, The Icypoles, Vanhelga, Black Anvil, Carlos Peron, Cakewalk, Perc und Klogr, gehört von Ronald Klein (RK), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).
Beschwingt und sentimental
(TM) Tausendsassa Damon Albarn, der mit Bands wie Blur, Gorillaz und The Good, The Bad & The Ugly schon mehr als einmal Musikgeschichte geschrieben hat, bringt sein erstes Soloalbum heraus, und es ist ein Ereignis. Intimer war die Stimmung selten bei einer Albarn-Arbeit. Meist nur von einem Piano und ein paar elektronischen Einsprengseln begleitet singt Damon Albarn von seelischen Abgründen, Einsamkeit und überhaupt von sehr persönlichen Zuständen. Thema sind Albarns Jugend in England, Orte, die ihm wichtig sind, aber auch das Leben und die Liebe allgemein. Nur selten geht das Stimmungsbarometer in Dur-Gefilde, zum Beispiel beim beschwingten „Mr. Tembo“, bei dem Albarn von einem veritablen Gospelchor begleitet wird.
Sentimental werden kann man dagegen mehr als einmal, zum Beispiel beim grandiosen „Lonely Press Play“, in dem das Sample einer in den Player geschobenen Musikkassette wiederholt auftaucht – ein Geräusch, mit dem die arme Generation Y schon fast nichts mehr anfangen kann… Auf dem mitreißenden und das Album beschließenden „Heavy Seas Of Love“, noch so ein Adrenalinschuss von Song, lässt Brian Eno seine Stimme erklingen. Und selbst die äonenhaft lange Feindschaft mit Oasis-Frontmann Noel Gallagher soll mittlerweile der Vergangenheit angehören. Alles wird einfach immer noch viel besser, wie cool ist das denn?
Damon Albarn: Everyday Robots. Parlophone/Warner.
Zeitlos
(MO) Ach ja, schon wieder ein Debütalbum einer Mädchenband mit Vorlieben für David Lynch, Garagenbeat und 60s-Girlgroups… dachte ich zunächst und schob „My World Was Made For You“ von den Icypoles aus Melbourne, Australien ohne hohe Erwartungen in den Player. Aber wie es meistens so ist im Leben: Überraschung is just around the corner! Oder in den dreizehn formidablen Songs von Kim White, Tara Shackell, Isobal Knowles und Lani Summer: „My World Was Made For You“ hat diesen ganz besonderen Debütalbum-Zauber, wenn man alles zum ersten Mal macht, ausprobiert und für die Band noch alles möglich ist.
The Icypoles klingen so, als wären die Marine Girls (erste Band von Tracey Thorn) und The Vaselines mit Phil Spector ins Studio gegangen und hätten ihm verboten, seine Wall of Sound aufzubauen. Man kann den Songs bis aufs Gerippe gucken bzw. hören: klar, einfach, schlicht und dabei vielschichtig und anrührend. Die Texte sind schlaues Mädchenzeug: Die Single „Babies“ dekliniert den Gebrauch eben dieses Wortes durch, „Don´t Fall In Love With Me“ dokumentiert das paradoxe Umarme-mich-aber-fass-mich-nicht-an-Verhalten juveniler Frauen, während sich das erzählende Ich in „Settle Down“ um Vernunft bemüht, „Popular Boy“ beschreibt das tragische Ende einer Liebe. Fröhliche Gesangsharmonien („Happy Birthday“) treffen auf mal sehr reduzierte, mal verspielte Bass- und Gitarrenläufe, das Schlagzeug holpert und poltert, um dann wieder ganz straight seinen Beat zu finden.
Die Stimmung ist späte 1980er-College-Tweepop, nicht im retroiden Sinn, sondern ganz zeitlos, quasi ewiggültig. Ein besonders gutes Händchen beweisen die Icypoles (= Eis am Stiel in Australien) mit ihren Coverversionen: „Just You“ (endlich ein Beleg für die Lynch-Liebe: ein Song aus „Twin Peaks“) und Martikas „Love Thy Will Be Done“ sind erschütternd schön und sehnsuchtsvoll.
The Icypoles: My World Was Made For You. Highline Records.
Gar nicht profan
(RK) Die Konventionen der Kunst-Kritik reflektierend, muss einmal dezidiert darauf hingewiesen werden, dass die bisweilen propagierte Objektivität intellektueller Nonsens ist. Andererseits es aber zur Umkehrung der Peristaltik führt, wenn ein Rezensent ästhetische Kriterien durch seine eigene Befindlichkeit ersetzt. Sperrige Einleitung? Ja! Aber wer noch nicht beim Lesen ausgestiegen ist, dürfte wahre Freude am neuen Werk des schwedischen Ensembles Vanhelga finden.
Zwar stilistisch weitegehend im Black Metal verortet, dürften sich eher Menschen, die John Zorn, Enno Poppe oder Frank-Zappa-Platten im Regal zu stehen haben, am Schaffen Vanhelgas erfreuen. Denn die Schnittmenge zu den Genannten ist deutlich größer als zum Querschnitt des Genres. Selbst wer den punkigen Darkthrone-Sound als großartige ästhetische Ironie begreift (Aufnahmen im Studio wurden so nachbearbeitet, als handele es sich um schlechte Demo-Aufnahmen im schimmeligen Keller-Proberaum), könnte anfangs von „Längtan“ irritiert sein. Es erklingen kaum verzerrte Gitarren, heisere Black-Metal-Vocals mit dezentem Hall und eine Rhythmus-Sektion. So weit, so untypisch für Black Metal.
Den Opener „Svartsin ömhet“ dominieren zahlreiche Tempi-Wechsel, die im Drumming vollzogen werden. Die Gitarre spielt so vor sich hin, als ginge sie das nichts an. Der Gesang wiederum scheint vermitteln zu wollen: mal am Rhythmus, dann wieder an der Melodie orientiert und stellenweise beides völlig negierend. Was für die Mehrheit der Hörer nach einem Fehler bei der Mischung klingt, entpuppt sich rasch als Blaupause für das gesamte Album. Eigentlich möchte man Vanhelga zu Free-Jazz-Festivals schicken oder sie den Festivals für Neue Musik empfehlen. Denn bei aller Sperrigkeit, nehmen die Songs gefangen. Plötzlich erklingt eine Hookline, die das vorherige Chaos in eine Sinnhaftigkeit überführt, nach deren Erkenntnis ein Zustand eintritt, den Aristoteles als Katharsis definierte.
Aus der modernen Kunst-Kritik quasi als reaktionär verbannt, bezeichnet die „Reinigung der Seele“ in Kombination mit Vanhelgas musikalischem Ansatz, der den einen als zu verkopft, den anderen als zu willkürlich erscheinen mag, die Synthesis dieses Werks. Ja, der Terminus Werk erscheint geeigneter als die profane Bezeichnung Album. Vanhelga bedeutet im Schwedischen übrigens profan. Und das ist „Längtan“ mitnichten.
Vanhelga: Längtan. Art of Propaganda.
Kompromisslos
(RK) Natürlich gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, Produkte anzupreisen. Deswegen wird das Marketing – bei allen berechtigen Vorurteilen ihm gegenüber – auch als Melange zwischen Betriebswissenschaft und Kreativität ausgelegt. Wenn die Plattenfirma behauptet, Black Anvil müsse Fans von Dissection, Celtic Frost, Metallica, Bathory, Watain, Emperor, Marduk, Dismember and Destroyer 666 von Interesse sein, ist das marktwirtschaftlich schlau. Weil damit eine große Schnittmenge von Menschen angesprochen werden, die sonst vielleicht wenig miteinander zu tun haben.
Da in der Plattenkritik nur zum Teil die Kreativität, aber umso mehr die ästhetische Bildung eine Rolle spielt, wird erst einmal dem Marketing widersprochen: Denn mit Metallica oder Celtic Frost hat das New Yorker Quartett wenig gemein. Ein Alternativvorschlag fürs Marketing würde sich wie folgt lesen: Nach dem Dominanz der skandinavischen Kapellen in den 90er-Jahren, dem Nachziehen unterschiedlicher europäischer im letzten Jahrzehnt, kommen eine Vielzahl innovativer Kapellen mittlerweile aus den Staaten. – Zumindest inhaltlich so oder so ähnlich. Ohnehin würde man die Band kleinreden, wenn man sie mit Vergleichen beschreibt, anstatt auf die individuelle Biografie einzugehen. Es gab in den 90er-Jahren eine Hardcore-Band namens Kill Your Idols, die sich 2007 auflöste. 2008 kehrten die drei Musiker auf die Bildfläche zurück. Mit längeren Haaren firmierten sie nunmehr unter Black Anvil und haben mittlerweile auch keinen Bock mehr über ihre Hardcore-Vergangenheit oder über Black Metal im Allgemeinen zu philosophieren. Geschenkt. Denn wenn man anstelle eines hermeneutischen Ansatzes den poststrukturalistischen wählt, folglich nach Roland Barthes behauptet: Der Autor ist tot – Mich interessiert nur das Werk, so begegnet man diesem mit „Wohlgefallen“ (nach Kant, wenn schon über Ästhetik gesprochen wird) .
Black Anvil brettern kompromisslos los als gäbe es kein Morgen. Pure Energie und Aggression wird neben den hassverzerrten Black-Metal-Vocals bisweilen durch Klargesang ergänzt, der wiederum in den Hintergrund gemischt wurde. Spannende Idee, die exzellent funktioniert. Textlich verorten sich Black Anvil vage. Motive wie Tod, Hass, Resignation durchziehen die nicht immer poetisch gelungenen Lyrics, die statt dessen allegorisch zu deuten sind und enorm viel Spielraum für die Interpretation lassen. Sehr solide Scheibe, die unterschiedliche Lager begeistern dürfte. Aber mit Sicherheit keinen Metallica-Fan, sondern eher rastlose Punks, Crustcore-Anhänger, Black Metaller oder musikalisch aufgeschlossene Misanthropen.
Black Anvil: Hail Death. Relapse.
Lohnenswert
(RK) Der Schweizer Musiker Carlos Peron begann sich bereits im zarten Alter von acht Jahren für elektronische Musik zu interessieren. Besonders Karlheinz Stockhausen und die musique concrète beeindruckten den 1952 Geborenen, der Ende der 70er-Jahre mit Boris Blank Yello gründete. Bis 1984 blieb Peron der Formation treu, veröffentlichte parallel aber stets Soloalben. Der kreative Output blieb enorm. Filmmusiken, Soundtracks für S/M-Partys und Ambient-Alben gehören zum Oeuvre. „Rex Industrialis“ stellt einen Überblick über das Schaffen dar. Wobei die Tracks bestenfalls im Titel eine Industrial-Referenz aufweisen (z. B. „Hochofen Acht“).
Die auch für Yello typische leise Form der Selbstironie findet sich auch bei Peron solo wieder. „Yellostrommusik im Club“ ist eine treibende, fast eine Viertelstunde währende House-Hymne mit den bekannten exotischen Einsprengseln. Höhepunkt stellt das knapp 20-minütige Stück „Planet of Apes“ dar, das Ambient mit dem komplexen Klangkosmos kombiniert, der Yello zur bekanntesten Schweizer Formation aufstiegen ließ. Eine sehr lohnenswerte Compilation.
Carlos Peron: Rex Industrialis. Zone Records.
Hohes Suchtpotenzial
(RK) Für die Musikhistoriker: Ja, Cakewalk kommen aus Norwegen. Nein, es handelt es sich nicht um die erfolgreiche Pop-Band, die Mitte der 80er einige Charterfolge verbuchen konnte. Stephan Meidell, Øystein Skar and Ivar Loe Bjørnstad debütierten letztes Jahr mit „Wired“, einer abgedrehten Postrock-Rakete. Genau hieran schließt das Trio an: Instrumentale Songs mit wabernden Gitarren, Synthesizer-Flächen und hypnotischem Drumming. Der Name der Band referriert auf einen Gesellschaftstanz, der im 19. Jahrhundert im Süden der USA entstand. Die dortige Fiebrigkeit entfaltet sich in den sechs Songs des Albums, die klanglich so gar nicht auf Norwegen verweisen.
Der Opener „Ghost“ wirkt noch am gesittetsten. Freundlicher Postrock, wie ihn unzählige Nerd-Kapellen fabrizieren. Danach beginnen die psychoaktiven Substanzen ihre Wirkung zu entfalten, „Bells“ kommt etwas jazziger und zurückgelehnter daher, bevor die Jungs anfangen mit Nachdruck ihre Instrumente zu malträtieren. So könnte der Tanz heute klingen: voodoodurchtränkter Dreschflegelklang. Aber so wie der Hörer in diese furiose Klangorgie gezogen wurde, wird er auch freundlich wieder entlassen: „Dunes“ ist der passende Downer. Zwar ebenso hypnotisch, aber auch den Puls senkend. Was für eine Platte. Kurz, heftig – hohes Suchtpotenzial.
Cakewalk: Transfixed. Hubro.
Verstörend
(RK) Aistair Wells aka Perc ist ein vielgebuchter Techno-DJ. Wer hofft, dass seine Tracks also Musiker in die gleiche Kerbe schlagen wie seine sehr tanzbaren DJ-Sets, sieht sich jedoch getäuscht. Sein zweites Album kommt sehr sperrig und mit vielen Ecken und Kanten daher. Er selbst betrachte keinen der zehn Songs als Floorfilla, verriet er dem britischen Hero Magazine. „The Power And The Glory“ verortet sich stattdessen im IDM-Bereich. Das Album beginnt mit verzerrten Vocals, die an die Harsh-Noise-Veteranen Whitehouse erinnern. Jedoch klingen die Beats deutlich entschleunigter.
Lediglich zwei Tracks, „Galloper“ und „Dumpster“ erinnern daran, dass Perc Techno-Gefilden entstammt. Sein Nachdenken über Produktionsverhältnisse (im Marxschen Sinne) und das Recht auf Selbstbestimmung sind zwei ur-typische Diskurse, die im Klangkosmos des Albums zu der eingangs erwähnten Sperrigkeit führen. Somit macht das Hören beileibe nicht nur Spaß. Es wirkt bisweilen verstörend, aufwühlend, nervig. Ein Spiegel des heutigen urbanen UK-Lifestyles.
Perc: The Power And The Glory. Perc Trax.
Manifest
(RK) Vor drei Jahren debütierte die italienische Formation Klogr mit „Till You Decay“, einem aggressiven Rockalbum mit kulturpessimistischen Texten. Daran hat sich auf dem zweiten Werk nichts geändert. Es geht um Verseuchung. Klogr thematisieren die Umweltverschmutzung ebenso wie Brainwashing durch den Mainstream. Darauf verweist bereits der Bandname (gesprochen: Kei-log-ar) . Diesersteht in Relation zu dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten Weber-Fechner-Gesetz, das als die fundamentale pycho-physikalische Relation S=K Log R bekannt ist.
Dabei geht um die Beziehung von Reiz-Wahrnehmung. Der deutsche Kulturphilosoph Dirk Baecker illustrierte dies im Aufsatz „Der gekochte Frosch“ (im Band „Postheroisches Management“). Wirft man einen Frosch in kochendes Wasser, so springt dieser aus dem Topf. Erhöht man die Temperatur langsam, so lässt sich das Tier problemlos kochen. Und ähnlich verhält es sich mit den Menschen. Zieht man die Daumenschrauben langsam, so akzeptieren Menschen ihre Ausbeutung und den Abbau des Sozialstaates. Genau diese Wirkmechanismen kritisieren Klogr textlich. Klanglich operiert die Band mit aggressiven Thrash-Passagen und epischen Elementen. „Black Snow“ klingt zorniger, gleichwohl melodischer als das Debüt. Klogr beherrschen das Verzahnen von Kunst und Politik perfekt.
Das aktuelle Album von Klogr fokussiert weniger die Politik eines bestimmten Landes, sondern setzt sich mit globalen Problemen auseinander. „Das größte Problem derzeit ist die unermessliche Gier nach immer größerem Profit“, erklärt Gebriele Rustichelli im Gespräch. „Davon handeln die einzelnen Songs, von der zerstörerischen Maschinerie, die so tut als gäbe es kein Morgen. Wir gehören zu diesem Planeten, aber der Planet gehört nicht uns, so lautet das Credo der indianischen Stämme Amerikas. Jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir akzeptieren müssen, dass die Indianer damit absolut recht hatten. Ansonsten, falls wir nicht endlich lernen, die Natur zu respektieren, haben wir keine Chance zu überleben.“ Das Album „Black Snow“ ist somit ebenso ein Manifest.
Klogr: Black Snow. ZetaFactory/Bertus.