Geschrieben am 24. Oktober 2012 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von und mit Beth Orton, LCDMF, Benjamin Gibbard, Tamaryn, Blood Command, Leben Ohne Licht Kollektiv und Immemorial, gehört von Ronald Klein (RK), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).

Beth Orton: Sugaring SeasonZur Musikerin gereift

(MO) „Sugaring Season“ ist ein so überzeugendes Folk-Singer-/Songwriteralbum, dass es viele HörerInnen überraschen dürfte, dass Beth Ortons Karriere im Trip-Hop- und Elektroumfeld von Chemical Brothers und William Orbit begann. Auf ihrer ersten Platte für das Independent-Label Anti findet die Britin in vielerlei Hinsicht zu sich: klang sie auf „Comfort of Strangers“ von 2006 noch etwas unsicher und suchend, wirkt sie sechs Jahre später – inzwischen Mutter von zwei Kindern – so sensibel wie selbstsicher. Ihre Musik atmet Sixties-Folk-Atmosphäre in der Tradition von Joni Mitchell und Nick Drake, wirkt aber dank groovender Loops wie im Opener „Magpie“ (der dann doch auf ihre TripHop-Wurzeln verweist) oder einem taumelnden Saloonpiano in der William-Blake-Gedichtvertonung „Poison Tree“ niemals statisch oder gar gestrig.


Beth Orton’s ‚Magpie‘ Music Video von 5minMusic

Intime, nur mit Gitarre begleitete Folk- und Bluesballaden wechseln sich mit üppig orchestralen Passagen und Jazzrhythmen ab, wobei Orton weniger auf krasse Kontraste als auf Ergänzung und Variation setzt. Songs wie „State of Grace“ oder „Call Me the Breeze“ wirken wie eine sehr geglückte Verbindung aus Indigo Girls und Throwing Muses, wenn man unbedingt einen Vergleich bemühen möchte. Das herausragendste Merkmal auf „Sugaring Season“ ist aber Beth Ortons Stimme: klar, fest und ausdrucksstark. Orton ist vom schüchternen Girl zur Musikerin gereift, die weiß, was sie kann und will.

Beth Orton: Sugaring Season. Anti-Records. Zur Homepage.

LCMDF: Mental HealthFröhliche Paranoia

(RK) Mit ihrem Debütalbum „Love & Nature“ (2011) feierten die finnischen Schwestern Emma und Mia Kemppainen einen Überraschungserfolg: Ein popfrisches Werk, das Einflüsse aus Electro, Pop und Hip-Hop fusioniert. Mittlerweile zogen die beiden von Helsinki nach Berlin, was dem Songwriting noch einmal einen zusätzlichen Schub brachte. Die vier Songs des ersten Teils einer EP-Trilogie beschäftigen sich, welche Überraschung, mit geistiger Gesundheit. Bereits der Opener  „Go Insane“ lädt zu einer flotten Party in der Anstalt.

Ob Klinik oder Bar25 (derzeit noch Kater Holzig), was spielt das für eine Rolle? Bereits Paul Kalkbrenner wandelte im Film „Berlin Calling“ die Psychiatrie in einen Ort der Fröhlichkeit mit Ecstasy und leichten Mädchen um. LE CORPS MINCE DE FRANCOISE stimmen fröhlich ein. Noch nie klang eine ‚Paranoia‘ so fröhlich-befreiend. Eine herrlich bunte Blase, als die sich der Sound entpuppt. Anders als bei Schrottimmobilien platzt hier jedoch nichts. Im Gegenteil, LCMDF vertonen Robert M. Pirsig, der in seinem zweiten Roman „Lila“ postulierte, dass Geisteskrankheit nicht das Problem, sondern dessen Lösung sei. Jawoll!

LCMDF: Mental Health. FAN Records. Zur Website.

Benjamin Gibbard: Former LivesMit Format

(TM) Wenn der Frontmann von Death Cab For Cutie ein Soloalbum ankündigt, schießen die Erwartungen erst mal ins Kraut, kennt man doch die ausgebufften Texte und Arrangements, die Benjamin Gibbard zu schaffen imstande ist. Auf „Former Lives“ versuchte er laut Eigenauskunft, die Ereignisse der letzten Jahre zu verarbeiten, und wenn man den zwölf Songs vertrauen kann, dann ist Gibbard trotz kürzlicher Trennung von seiner Freundin ein ausgeglichener Mann. Vom A-capella-Beginn des „Shepherd‘s Bush Lullaby“ bis hin zum gar nicht so aufrührigen „I‘m Building A Fire“ sind das Stücke voller Harmonien, ohne große Bissigkeit, jedes für sich ein Bewerbungsschreiben fürs Formatradio. Besonders ans Herz gelegt sei „Duncan, Where Have You Gone?“, das man schon ab dem ersten Hören mitsingen kann und das ebenso gut von den Beatles stammen könnte. „Something‘s Rattling (Cowpoke)“ dagegen ist Gibbards Calexico-Lookalike-Beitrag, inklusive Mariachis.

Man merkt schon, „Former Lives“ haut einen nicht um, ist aber auch keine schlechte Platte. Insbesondere das Duett mit Aimee Mann auf „Bigger Than Love“ ist so ein sauber durchdeklinierter Popsong, und Mann klingt so unverändert umwerfend understated melancholisch, dass man sich versöhnt und ja auch gut unterhalten fühlt. Am Ende des Albums wünscht an sich aber vor allem eines: eine neue Platte von Aimee Mann.

Benjamin Gibbard: Former Lives. City Slang (Universal). Zur Facebook-Präsenz.

Tamaryn: Tender New SignsSchrauben angezogen

(MO) Vor zwei Jahren riss mich „Waves“, Debütalbum des neuseeländisch-kalifornischen Duos Tamaryn, nicht wirklich vom Hocker. Für die Mischung aus Shoegaze, Psychedelic und Dream Pop wurde zwar eigens der Begriff „Skygaze“ erfunden, das Ganze klang aber noch zu wattig-unentschlossen, um einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Dennoch konnte man deutlich das Potenzial von Tamaryn spüren, so als bräuchten die beiden einfach noch ein wenig Zeit für die richtig guten Songs. Auf ihrer zweiten Platte „Tender New Signs“ haben Sängerin/Texterin Tamaryn und ihr kongenialer Partner an der Gitarre Rex John Shelverton nun auch alle Schräubchen ein wenig angezogen, ohne das auf „Waves“ beschrittene träumerische Terrain vollends zu verlassen.

Tamaryn – Heavenly Bodies [OFFICIAL VIDEO] from Mexican Summer on Vimeo.

Shelvertons Gitarre ist präsenter und konturierter, die fast fünfzig Jahre alte Gibson SJ vibriert und janglet, dass es eine wahre Freude ist. Okay, so manches Intro erinnert an Joy-Division- oder My-Bloody-Valentine-Riffs – aber wer gänzlich frei von retromanischen Anwandlungen ist, der/die werfe den ersten Stein! Auch Tamaryns Gesang klingt selbstbewusster, strukturierter und macht aus Tracks wie „I´m Gone“ oder „While You´re Sleeping“ fast schon poppige Perlen. Insgesamt steht bei „Tender New Signs“ der Song, die Melodie stärker im Mittelpunkt – „Waves“ setzte fast vollständig auf Atmosphäre, Schwingung und Effekt. „Tender New Signs“ ist ein ermutigendes Beispiel dafür, dass es doch noch junge Bands gibt, die mit dem ersten Album nicht gleich ihr ganzes Pulver verschießen.

Tamaryn: Tender New Signs. Mexican Summer/Cooperative. Zur Homepage.

 

Blood Command: Funeral BeachThrash-Punk-Pop

(RK) Bereits mehrfach auf Deutschland-Tour (in der Vergangenheit vor allem in besetzten Häusern) und mit mehreren EPs im Gepäck, diese aber als 10“-Vinyl veröffentlicht, verweigert sich die Band bisher der kommerziellen Vermarktung. Diese sympathische Haltung in Kombination mit ungewöhnlichen Cover-Versionen (z. B. von PJ Harvey) und einer Affinität zu Melodie und Härte, hebt die norwegische Formation aus dem Gros der neuen Hardcore-Bands heraus. Wobei sie selbst das Label „Hardcore“ vermeiden und stattdessen von Pop-Musik sprechen, die mit Thrash-Metal-Riffs und viel Punk-Attitüde angereichert ist. Wer mit der Band Blood Command noch nicht vertraut ist, benötigt beim Opener „Pissed Off And Slightly Offended“ etwas Gewöhnungszeit. Das mag daran liegen, dass der Gesang etwas defensiv gegenüber der Gitarrenwand abgemischt ist und somit erst einmal klingt, als würde ein rasende Wut-Maus unter einer Wall of Sound begraben.

Sobald man sich auf die Sound-Ästhetik einlässt, werden die Songstrukturen offenbar, die in der Tat eine Reminiszenz an alte Helden darstellen, ohne jedoch gestrig zu klingen. Wer früher Youth Of Today, Kreator oder auch Melt Banana! hörte, wird die Platte ohnehin lieben.

Blood Command: Funeral Beach. Fysisk Forma. Zur Facebook-Seite.

Leben Ohne Licht Kollektiv / Immemorial: Quantum Of Abstract Physics

Lebensfeindliche Klanglandschaften

(RK) Schaut man Richtung Mesopelagial, d. h. in die obere Tiefseeregion, finden sich Meeresbewohner, deren Aussehen mit bizarr noch freundlich-euphemistisch beschrieben wird. Nehmen wir den Vampir-Tintenfisch: Die Augen wirken riesig, müssen sie doch die letzten Fetzen Licht einfangen und verarbeiten. In Höhlen wurden gar Kreaturen gefunden, die komplett im Dunkeln existieren. Gemessen an deren ästhetischer Präsenz wirkt das Leben Ohne Licht Kollektiv wie eine freundlich schunkelnde Combo, die zwar an der Schnittstelle Dark Ambient / Black Metal agiert, jedoch noch nachvollziehbare Strukturen aufweist. Ähnlich wie ihre Landsleute Blut aus Nord loten sie Sphären aus (BAN den Kosmos, LOLK den Mikrokosmos), wobei sich die forschende Komposition nicht zu weit vom Hörer wegbewegt. Wer mit Neuer Musik à la John Cage oder Edgar Varése vertraut ist, fühlt sich trotz lebensfeindlicher Klanglandschaften warm ummantelt. Immemorial agieren in ästhetischer Nähe, intonieren nur einen Song, „The Downfall Of Astral Radiance‘, der aber satte 30 Minuten Spielzeit aufweist. Selbstredend, dass die Spannung über eine halbe Stunde zu halten, kein leichtes Unterfangen darstellt. Scheinbar hat sich auch das französische Projekt damit etwas übernommen. Die Eigenbeschreibung „Total Terror Funeral Drone“ klingt entweder nach postpubertärer Selbstüberschätzung oder Selbstironie. Die Mini-Sinfonie löst das Band-Motto mitnichten ein und macht den soliden Eindruck der ersten Hälfte des Albums wieder zunichte.

Leben Ohne Licht Kollektiv / Immemorial: Quantum Of Abstract Physics. Cold Dark Matter Records. Zur Facebook-Seite von Immemorial.

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