Geschrieben am 3. Oktober 2012 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von und mit Bernadette La Hengst, Schneider TM, The Orb & Lee Scratch Perry, Kat Frankie, Dum Dum Girls und David Michael, gehört (oder eben dieses Mal auch nicht, s. u.) von Ronald Klein (RK), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).

Bernadette La Hengst: Integrier mich, BabyOne-Woman-Show I

(MO) Ich muss es hier mal sagen: ich stehe Bernadette La Hengst durchaus zwiegespalten gegenüber. Also nicht Bernadette persönlich, aber ihrer Musik zuweilen, ihrem Werk.

Zu viel scheint sie zu wollen, politische Theaterarbeit und Chöre, Nasenflötenorchester und dann noch die Zusammenarbeit mit dem Künstler Volker März, dessen zweifelhaftes Israelbild jüngst heftig diskutiert wurde. Ihre Eigenart, in den Texten alles ganz, ganz deutlich zu sagen, auf dass es wirklich, wirklich verstanden werde, finde ich problematisch. Auch auf ihrem neuen, vierten Soloalbum „Integrier mich, Baby“ wird es an manchen Stellen sehr konkret: „Im Bundestag da debattiert man sich um Kopf und Kragen / Wollen wir es wagen – auch dort? / an diesem transparenten Ort / wird man uns entdecken / und gleich ins Gefängnis stecken“ heißt es in „Liebe im öffentlichen Raum“, in dem ich sogleich Biermann & Co. trapsen höre.

Auf der Plusseite: Bernadettes einzigartige Performances, bei denen sie eine derart lässige, sexy, leidenschaftliche One-Woman-Show gibt, dass einem Hören und Sehen nicht vergeht, oh nein, sondern man stundenlang mitsingen und -tanzen will; ihre Platten, die wahre FreundInnen-Kollektiv-Partys sind – auf „Integrier mich“ sind u. a. Rocko Schamoni, die Aeronauten und Knarf Rellöm dabei, produziert hat Peta Devlin, ehemalige Die-Braut-haut-ins-Auge-Kollegin. Und vor allem: Bernadettes Stimme, die so wunderbar chansonesk klingen kann, warm und aufrührerisch zugleich. Neue Songs wie „C’est l’amitié“, „Schafft die Leidenschaft ab“ oder der Beziehungs-Beendigungs-Track „Ich bin drüber weg“ („ich bin drüber / ich bin weg“) kommen sofort aufs „Lieblingslieder 2012“-Tape. Zwiegespalten? Offensichtlich doch nicht ganz so sehr…

Bernadette La Hengst: Integrier mich, Baby (Trikont). Zur Homepage, zur Website der Booking- und Promotion-Agentur.

Schneider TM: Construction SoundsFündig im Lärm

(TM) Wer in Berlin wohnt, ist so manches Mal von Baulärm umgeben. So erging es auch Dirk Dresselhaus aka Schneider TM, der ganze sieben Jahre inmitten solcher dissonanter Belästigung leben musste. Irgendwann entschied er sich, aus der Not eine Tugend zu machen und die verborgenen Sound-Strukturen, die sich im Gehämmer und Gedröhne ausmachen ließen, zu nutzen und zu Musik zu machen. Er nahm die Sounds der Bauarbeiter und ihrer Maschinen auf und verwob sie mit der elektronischen Musik, an der er gerade arbeitete.

Herausgekommen ist das bemerkenswerte Album „Construction Sounds“. Anders als beispielsweise die Einstürzenden Neubauten, die in ihrer Industrialmusik die Geräusche der Maschinen ihren Kompositionen als atmosphärische Würze hinzufügten, ist bei Dresselhaus die Maschine selbst das Instrument, ist der Sound selbst bereits Rhythmus und Melodie. Wer sich traut, wird in all dem Lärm tatsächlich fündig – und darf sich bei Titeln wie „Grinder In The Sky“ auch ein wenig unwohl fühlen. Not for sissies.

Schneider TM: Construction Sounds. Bureau B (Indigo). Zur Homepage von Schneider TM.

The Orb & Lee Scratch Perry: The Orbserver In The Star HouseSolide

(RK) Der Nimbus der Platte ist immens: Der 1936 geborene Lee Scratch Perry gilt als eine der ausgewiesenen Autoritäten im Bereich Dub/Reggae, während The Orb seit fast einem viertel Jahrhundert mit ihren Ambient-verwandten Klanglandschaften als Pioniere der modernen elektronischen Musik gelten. So gesehen liegt die Messlatte entsprechend hoch.

The Orb verlassen (wie bereits in den 90er-Jahren) ihren flächigen Soundkosmos und nähern sich auf dieser Platte Produzenten wie King Tubby an. Künstliche Hallräume, Echoeffekte und Klangmodulationen begleiten Perrys Stimme. Dessen wie immer improvisierter Vortrag wirkt charakteristisch knarzig und verschroben. Man merkt den Respekt von  Alex Paterson und Thomas Fehlmann gegenüber der Jamaika-Legende durchaus an. Jedoch wirken ihre Arrangements nicht derart zurückgenommen und defensiv, dass The Orb als Begleitkapelle fungieren. Klanglich durchaus gleichberechtigt sind sie, auf einem soliden Album, das jedoch die (möglicherweise zu ) hohen Erwartungen nicht erfüllen kann.

The Orb & Lee Scratch Perry: The Orbserver In The Star House. Cooking Vinyl (Indigo). Zur Homepage von The Orb, zur Facebook-Site von Lee Scratch Perry.

Kat Frankie: Please Don´t Give Me What I WantOne-Woman-Show II

(MO) Die in Australien geborene und seit Jahren in Berlin lebende Kat Frankie ist Perfektionistin. Das weiß jede/r, der/die sie mal live gesehen hat. In Frankfurt verließ die androgyne Singer-/Songwriterin einmal ärgerlich und unzufrieden mit sich und den Technikverhältnissen die Clubbühne, ohne die begeisterten Liebesbezeugungen des Publikums auch nur wahrzunehmen.

Dieser Perfektionismus und die hohen Ansprüche an sich und andere sind mitverantwortlich dafür, dass Frankie vor einiger Zeit ihr eigenes Label Zellephan gründete, auf dem ihr drittes Album „Please Don´t Give Me What I Want“ erscheint. Wie auch auf den Platten davor produzierte sie sich selbst und konnte laut eigener Aussage zum ersten Mal ihre Vorstellungen konkret umsetzen: sie loopt sich selbst (ohne Synthesizer, nur mit einem alten Loop-Gerät), oder stellte sich bei „Requiem For A Queen“ in einem langen Flur zehn Meter weit weg vom Mikrofon auf, um die Vocals wie einen Ruf aus weiter Ferne klingen zu lassen.

Noch stärker als bei „The Dance Of A Stranger Heart“ ließ sich Kat Frankie von den Melodien und Arrangements George Gershwins inspirieren, ohne in eine Retro-Wunderwelt abzudriften. Im Gegenteil: Frankies Songs sind unfassbar klar und aufs Wesentliche reduziert. Ihre Stimme steht mehr im Vordergrund, erinnert an große Heldinnen wie KD Lang und ist doch einzigartig mit ihrem so selbstbewussten wie sehnsuchtsvollen Timbre.

Das wunderbare, auf Deutsch gesungene „Frauen Verlassen“ oder das unheimliche „Ophelia“, ach, eigentlich alle Songs machen „Please Don´t Give Me What I Want“ zu einer ganz ernst gemeint unverzichtbaren Platte für diesen Herbst und alle Jahreszeiten danach.

Kat Frankie: Please Don´t Give Me What I Want (Zellephan/Broken Silence). Zur Homepage, zur Website der Agentur.

Dum Dum Girls: End Of DazeSonnige Depression

(MO) In den letztwöchigen Blitzbeats hob Kollegin Andert die Vorzüge des Minialbums, bzw. des EP-Formats hervor: kein Füllmaterial sei darauf zu finden, dafür kurzer, intensiver Hörgenuss. Was für Azure Ray gilt, trifft auf die Dum Dum Girls erst recht zu: Dee Dee Penny und Kolleginnen bringen in achtzehn Minuten verteilt auf fünf Songs ihr Konzept auf den Punkt.

Changierte die Band auf dem Album „I Will Be“ oder der EP „He Gets Me High“ noch zwischen schwebend-ätherischem Shoegaze und 60s-Girlgroup-Style, kristallisiert sich bei „End Of Daze“ ein klarer, ausdrucksstarker Gitarrensound heraus. Melancholisch immer noch – aber Melancholie gehört ja zur Persönlichkeit und ist nichts, das man sich abgewöhnen kann oder soll.

Dee Dee klingt so tough wie Chrissie Hynde oder Kate Jackson von den Long Blondes, zeigt sich in „Mine Tonight“ und dem treffsicher ausgewählten Strawberry-Switchblade-Cover „Trees And Flowers“ traurig und nachdenklich bis zur Depression: „I hate the trees and I hate flowers“ singt sie, und man will ihr beipflichten, selbst wenn man dieser Meinung gar nicht ist. Der Schlusstrack „Season In Hell“ ist verführerisch poppig und melodiös, dabei voller Kraft – wie Jesus and Mary Chain ohne deren allumfassende Düsternis und Sinnlosigkeit. „End Of Daze“ markiert keinen Endpunkt für Dee Dee, Jules, Sandy und Malia: die Band hat die Vorhänge aufgezogen und sonnt sich in herbstlichem Zwielicht.

Dum Dum Girls: End Of Daze (EP Sub Pop/Cargo). Zur Homepage der Dum Dum Girls.

David Michael: The Slaughterhouse Vogelzwitschern und Bolzenschuss

(TM) Diese Feldaufnahmen gehören zu denjenigen, die ich, ein bekennender Fan von Feldaufnahmen, mir nicht anhören kann. Denn zu hören ist genau das, was der Titel ‚verspricht‘: ein Tag im Schlachthof. Allerdings nicht in einem der berüchtigten industriellen Großkomplexe, sondern in einem idyllisch gelegenen, familiär betriebenen Hof in Alabama. David Michael hat dort einen Tag verbracht und rigoros hingehört – vom friedlichen Vogelzwitschern am Morgen bis hin zum Rindertod durch Bolzenschuss, dem Abziehen der Haut, dem Abschneiden der Vorderläufe etc. pp. ist alles dabei.

Wie gesagt: ich konnte mir das nicht ganz anhören. Hab‘s versucht, aber sein gelassen, als ich das erste nervöse Scharren von Hufen auf dem Boden hörte. Ehrlich gesagt stellt sich mir die Frage der Intention eines solchen Unterfangens: politischer Aktivismus zugunsten von Tieren wird es nicht sein, denn dann hätte Michael eine der unzähligen factory farms aussuchen müssen, wo es weit weniger gemächlich zugeht. Es sei denn, es handelt sich bei den Aufnahmen um politischen Aktivismus der anderen Seite, um ein Plädoyer für den ehrlichen butcher: dafür würde sprechen, dass Michael als Protagonisten nicht das Tier, sondern die handelnden Menschen wählt und sie auch brav zu Wort kommen lässt. Aber all das entnehme ich nur dem Booklet und nicht eigener Anschauung.

David Michael: The Slaughterhouse (Gruenrekorder). Zur Beschreibung inklusive Hörproben auf der Labelhomepage.

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