Neue Platten von den Gomma All Stars feat. Peaches, Tapage, Ani DiFranco, Acretongue, Gotye und Benjamin Damage & Doc Daneeka, gehört von Janine Andert (JA), Ronald Klein (RK) und Christina Mohr (MO).
Echte Discoqueen
(MO) Ein neues Album von Peaches? Das kommt hoffentlich auch bald, aber jetzt ist die in Berlin lebende kanadische Elektroclash-Göttin erstmal als Gastsängerin auf einer EP vom Label Gomma zu hören. Die Münchner Gomma-Leute bekamen das Angebot, sich aus dem Backkatalog von Casablanca Records zu bedienen, um Coverversionen aufzunehmen. Darüber mussten Mathias Modica alias Munk und seine Kollegen bei Gomma nicht lange beraten, schließlich ist Casablanca sozusagen die Definition von Eurodisco: Giorgio Moroder produzierte für das in Los Angeles ansässige Label, Jacques Morali, Harold Faltermeyer und viele mehr.
Die Gomma All Stars (Telonius, Moullinex, Munk & The Phenomenal Handclap Band) haben als Appetizer für weitere Veröffentlichungen vier Tracks ausgesucht, die exemplarisch für das Casablanca-Oevre stehen: Michael Sembellos „Maniac” (remember„Flashdance”), „Our Love” von Donna Summer, Stephanie Mills‘ „You Can´t Run From My Love” und „Walk the Night” von den Skatt Bros. Alles im superdicken, slicken Disco-House-Gewand, nicht zu modisch, aber auch nicht old-school.
Was den Tracks die Glitzer-Divenkrone endgültig aufsetzt, ist Peaches‘ Gesang: ist Mrs. Merrill Nisker sonst für wenig damenhaftes Shouten und Knurren bekannt, fließt ihre Stimme hier wie dunkler, sämiger Tannenhonig aus den Boxen. Dass Peaches eine echte Discoqueen abgibt, hätte man nicht unbedingt vermutet, aber es steht ihr ganz wundervoll!
Gomma All Stars featuring Peaches präsentieren: The Casablanca Reworks Project. Gomma (Groove Attack). Zum Label.
Kammer-Sinfonie aus dem Laptop
(RK) Dass der Niederländer Tapage einst Gitarrist einer Metal-Band war, lässt sich auf seinem dritten Longplayer wahrlich nicht mehr erahnen. Komplizierte und verfrickelte Rhythmen treffen auf weite Soundflächen und harmonische Melodiebögen in der Tradition von Post-Rock à la Mogwai oder Godspeed You! Black Emperor. Einem bestimmten Genre lassen sich die 14 Songs somit nicht mehr eindeutig zuordnen. Wozu auch, wenn sich die Kompositionen als stimmig erweisen. Keine Elektronik für die Tanzfläche, sondern ein Sounderlebnis, das sich für das abgedunkelte Wohnzimmer eignet.
Unheimlich detailverliebt und mit vielen Breaks und Wendungen benötigt man Konzentration, um der Komplexität gerecht zu werden. Selbst nach mehreren Durchläufen fallen dabei immer wieder neue Perlen in den Arrangements auf. Ebenso ist die Bereitschaft von Nöten, sich auf ein Werk einzulassen, das nur in seiner Gesamtheit funktioniert.
Tatsächlich lohnt es nicht, einzelne Tracks besonders hervorzuheben, denn diese gehen ineinander über. Mit dem typischen Pop-Schema, bestehend aus Strophe und Refrain, hat das wahrlich nichts mehr gemein. „Overgrown“ scheint dann auch eher eine am Laptop kreierte Kammer-Sinfonie zu sein, die Hörer, die mit IDM und Neuer Musik vertraut sind, zu schätzen wissen. Eine wirklich herausragende Platte, die Zeit braucht, aber dann umso länger im Player verweilt.
Tapage: Overgrown. Tympanik Audio.
Songwriterin mit Riot-Grrrl-Attitüde
(MO) Alben von Singer-/Songwriterinnen sind musikalisch meistens nicht besonders spannend, schließlich kommt es ja zuallererst auf die Texte an. Nicht so bei Ani DiFranco, der ihre Lyrics selbstverständlich auch sehr wichtig sind, die aber der Musik einen mindestens ebenso hohen Wert beimisst. Seit über zwanzig Jahren betreibt DiFranco ihr eigenes Label Righteous Babe Records und genießt deshalb alle künstlerischen Freiheiten.
Nach einer längeren Veröffentlichungspause zieht sie auf ihrem 17. Studioalbum auch alle Register: Protestsong, Folk, Funk und Punk, Mariachi-Klänge, jazzige Avantgarde, eigenwillige Americana-Entwürfe. Die 41-jährige verliert sich dabei nicht in uferlosem Ausprobieren; DiFranco ist wild und fokussiert zugleich, mutig und klug in der Auswahl ihrer GastmusikerInnen: Cyril Neville von den Neville Brothers ist dabei, Anais Mitchell, der Saxofonist Skerik und ein Hornisten-Orchester aus New Orleans.
Anis volumige Stimme und ihr geniales Fingerpicking-Gitarrenspiel halten alles zusammen: Sympathie zur Occupy-Bewegung, die Zukunft Amerikas, ihr Leben als Feministin, Ehefrau und Mutter einer fünfjährigen Tochter – viele brisante Themen fließen in ihre Songs ein und machen in Kombination mit der Musik DiFrancos neues Album zu einem eindrucksvollen Dokument dafür, wie Singer-/Songwriterinnen klingen können, wenn sie sich ein kleines bisschen Riot Grrrl-Attitüde bewahrt haben. Dass der 92-jährige Pete Seeger auf DiFrancos Version seines Protest-Klassikers „Which Side Are You On?” höchstselbst Banjo spielt, ist definitiv ein Höhepunkt der Platte, aber keineswegs der einzige.
Ani DiFranco: Which Side Are You On? Righteous Babe Records (Tonpool). Zum Label.
Schnittstelle Elektro/Future Pop
(RK) Elektro-Enthusiasten kennen das südafrikanische Ein-Mann-Projekt Acretongue durch die ersten Schritte in Form von „Nihil“ (2007). Ursprünglich als Demo gedacht, entschied man sich gegen eine Veröffentlichung und stellte das Material zum freien Download zur Verfügung.
Insofern versteht sich „Strange Cargo“ als offizielles Debüt. Die saubere Produktion und das Hochglanzdesign der Promo-Fotos und des Covers bügeln die Kinderkrankheiten allerdings nicht aus. Der Track „Origin“ stellt zwar einen starken Einstieg mit einer breiten Soundfläche und mehr gesprochenen als gesungenen Lyrics dar, aber nach ein paar Songs fällt doch eine gewisse Armut an Ideen in der musikalischen Dramaturgie auf.
Natürlich kann die Verortung an der Schnittstelle Elektro/Future Pop ohne Einsatz technoider Elemente als eigenständig verkauft werden. Der Exoten-Bonus reicht für den europäischen Markt jedenfalls nicht aus. Trotz mangelnder Innovation wird es genügend Abnehmer geben, die die Scheibe zur ihrer Sammlung stellen, in der sich bereits Drams of Diary, Apoptygma Bezerk und Artverwandtes befinden.
Acretongue: Strange Cargo. Dependent (Alive).
Musik im Mittelpunkt
(JA) Der mittlerweile zum Megastar avancierte Gotye muss nicht mehr vorgestellt werden. Dabei ist „Making Mirrors“ bereits das dritte Album des belgisch-australischen Musikers, der auf den Namen Wouter (englisch Walter, französisch Gautier; an letzteren ist der Bandname angelehnt) „Wally“ De Backer hört. Erst „Somebody That I Used To Know“, ein Duett mit der australischen Sängerin Kimbra, sollte ihm aber den weltweiten Durchbruch bringen.
Und da fängt die Faszination Gotye an. Wir sind zurück beim klassischen Pop. Irgendwie kann sich doch jeder auf den seit Wochen an der Chartsspitze befindlichen Megahit einigen – der Indiehörer genauso wie die völlig musik-desinteressierte Urgroßtante. Musik dieser Couleur war schon lange von der Bildfläche verschwunden, die Musikpresse rief gar die Spartisierung des Pop aus. Ätschebätsche! Falsch orakelt. Und mal ganz ehrlich Hand aufs Herz, irgendwie ist diese Überhitsingle doch wie eine Calexico-Nummer, auf der plötzlich The Police mitmischen.
Davon mal abgesehen war die deutsche Veröffentlichung von Songzeilen wie „And I don’t even need your love/But you treat me like a stranger/…/Now you’re just somebody that I used to know” so kurz vor Weihnachten einfach kongenial. So konnte der ein oder andere Beziehungsüberdrüssige gut gelaunt vor sich hinsummen und dem Gegenüber harmonisch ins Gesicht blöken, was er oder sie schon lange einmal sagen wollten. Quasi der perfekte Song zum Fest der Liebe und ein krönender Höhepunkt des Trennungsjahres 2011. (Wir erinnern uns an das prominente Eheaus von Thurston Moore und Kim Gordon (Sonic Youth) und die waren nicht die Einzigen.)
Weiter ging es dann im Januar mit den fünf Menschen an der Gitarre, die mit ihrer Videointerpretation von „STIUTK“ durch die sozialen Netzwerke geisterten und der kanadischen Band Walk Off The Earth zu Ruhm verhalfen. Diese Coverversion unterscheidet sich kaum vom Original. Man mag fast munkeln, dass es sich hier um eine ausgewiefte PR-Aktion von Universal handelt.
ZDFneo hat dann mit seiner Coverversion des Covers noch eins drauf gesetzt. Hier wird deutlich, dass Popmusik doch noch ein gesellschaftliches Phänomen ist, in dem nicht nur knapp bekleidete Damen mit einer Vorliebe für Exhibitionismus oder die aufgespritzten Lippen aufstrebender Sternchen von Bedeutung sind, sondern auch wieder ganz einfach die Musik im Mittelpunkt stehen kann.
Aber zurück zu „Making Mirrors“: Überraschend und sympathisch ist, dass der Rest des Albums ganz anders klingt als die Single-Auskopplung. Von experimentierfreudigen elektronischen Sounds („Don’t Worry We’ll Be Watching You“) bis zu Soul und R&B („I Feel Better“) ist das gesamte musikalische Spektrum vertreten. Und so als Tipp: Das Vorgängeralbum „The Drawing Blood“ ist noch viel besser.
Gotye: Making Mirrors. Belle Music/Vertigo Berlin (Universal). Zur Homepage, zur Facebook-Seite, zu Soundcloud.
Alles, was in den Clubs Laune macht
(RK) Als Solokünstler zeichnen die beiden Briten Benjamin Damage & Doc Daneeka bereits für einige EPs und Remixe (u. a. von XXXY und Julio Bashmore) verantwortlich. Ende 2010 schlossen sie sich zusammen und nahmen mit „Creeper“ eine Single auf, die sie Silvester 2010 dem Berliner Soundsystem Modeselektor schickten. Diese integrierten am selben Abend das Tech-House-Stück in ihr DJ-Set in San Francisco und nahmen die Jungs am nächsten Tag für ihr Label unter Vertrag.
Folgerichtig nahmen Benjamin Damage & Doc Daneeka ihr Debüt an der Spree auf. Dabei erweist sich der Track, der Modeselektor so euphorisierte und auf dem Album als Edit enthalten ist, nicht einmal als der stärkste. Die neueren Songs überragen noch mehr. Bereits der Opener „No One“ mit Sängerin Abigail Wyles klingt durch die Vocals nach englischem Clubsound, aber mit straightem Rhythmus der Berliner Schule. Gekonnt eingesetzte Brüche kennzeichnen das gesamte Album, dessen neun unterschiedliche Songs nicht nur vollkommen divergent klingen, sondern auch innerhalb der Tracks einen enormen Spannungsbogen aufmachen.
So funktioniert „They! Live“ wie der Soundtrack zu einer langen Nacht, die im Club beginnt, bevor von einem exponierten Punkt draußen der Sonnenuntergang beobachtet wird, um anschließend in den Morgenstunden noch einmal richtig aufzudrehen. Die Selbstdarstellung als „von Berlin inspiriert und UK beeinflusst“ stimmt insofern, dass musikalisch die Facetten von kühlem, puristisch arrangierten Momenten (Berliner Sound in der Tradition von Minimal) bis zu sattem Deep House und dem schwer angesagten UK Funky Sound vertreten sind, und das Album damit alles enthält, was derzeit in den Clubs Laune macht.
Benjamin Damage & Doc Daneeka: They! Live. 50 Weapons (Rough Trade).