Geschrieben am 16. Januar 2013 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von und mit Aaron Neville, Tim Hecker & Daniel Lopatin, Justus Köhncke, José James, Jack November und Joe Levano/Us Five, gehört von Janine Andert (JA), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).

aaronneville_mytruestoryLeadgesang und Harmonie

(TM) Das neue Album des vielfachen Grammy-Gewinners Aaron Neville wurde von niemand Geringerem als Keith Richards produziert, zusammen mit Blue-Note-Präsident Don Was. Auf „My True Story“, seinem ersten Album bei Blue Note, interpretiert Neville mit seiner unverwechselbaren Stimme zwölf Klassiker im Doo-Wop-Stil, darunter Smasher wie „Under The Boardwalk“ und „Tears On My Pillow“. ‚Seine‘ Geschichte erzählen diese Songs, weil er mit ihnen aufgewachsen ist. Sie bildeten die Grundlage für seine eigene musikalische Sozialisation in den 1950er- und 60-Jahren. Dabei sind es nicht notwendigerweise Songs aus der Doo-Wop-Ära, die Neville aufgreift. Ausschlaggebend sind die gesanglichen Gegebenheiten, eben die typischen Zutaten dieses Genres.

So war „Be My Baby“ für Neville schon immer ein Doo-Wop-Song, „weil es Leadgesang mit Harmoniegesang verband“. Auf „My True Story“ tritt allerdings der Gesang auch gerne einmal in den Hintergrund – kein Wunder, bei einer derartig gut besetzten Rock’n’Roll-Band, angeführt von Keith Richards an der Gitarre. Bei den Backing Vocals war u. a. Eugene Pitt von den Jive Five mit am Werk.

Aaron Neville: My True Story. Blue Note (EMI). Zur Homepage und Myspace. Das Album in voller Länge gibt’s bei NPR zu hören.

timhecker_daniellopatin_instrumentaltouristComputergenerierter Geist des Jazz

(JA) Das Cover von “Instrumental Tourist” ziert ein dunkelblauer, man möchte fast sagen apokalyptischer Reiter. Dunkel gebären sich dann auch die zwölf Soundexperimente, die immer wieder mit lunarer Helligkeit allzu depressive Songstrukturen umschiffen. Abgedroschen ließe sich jetzt etwas von Dark Ambient, sphärischen Klängen und einer gewissen Doom-Verwandtschaft zu Bohren & der Club of Gore sagen. Assoziationen, die aufbrechen, wenn diese Nachtmusik mählich mit elektronischen Störgeräuschen zersetzt wird. Hach, das geht bis zu auf halber Geschwindigkeit abgespielten Rückkoppelungen. Shoegaze-Anleihen, wo sie am wenigsten vermutet werden.

Im Verlauf des Albums wird die Idee hinter „Instrumental Tourist“ deutlicher. Es ist das erste Album des neu ins Leben gerufenen Projekts SSTUDIOS (Software Studio Series), das in der elektronischen Musik beheimatete Künstler zu qualitativ hochwertigen Kooperationen einlädt. Es geht um das Spektrum von und die Vision hinter synthetisch erzeugten Klängen der digitalen Welt. Tim Hecker & Daniel Lopatin konzentrieren sich dabei auf den Umgang mit Jazz. Hecker bringt die monumentalen Klangteppiche ein, von Lopatin stammt wohl die Idee mit dem Jazz. Einer Musikrichtung, die im Gegensatz zur digitalen Musik vor allem vom Zusammenspiel der Musiker lebt.

Wie also kann der Geist von Jazz in computergenerierte Musik übersetzt werden? Überraschend dadurch, dass Hecker und Lopatin in der Tat zusammen im Studio am Album arbeiteten, ein gemeinsamer Austausch fernab von E-Mail-Verkehr und File-Sharing stattfand. Entstanden ist dabei ein Hörerlebnis, das ein Gefühl von Intimität hinterlässt. Ein wunderschönes Album, das zwar nicht das Versprechen des Visionären einlöst, aber den Hörer zufrieden zurücklässt. Eine Platte für den digitalen Einstieg.

Tim Hecker & Daniel Lopatin: Instrumental Tourist. Cooperative Music (Universal). Zu Homepage und Facebook.

justuskoehncke_bassistmusikTechnoschlager?

(MO) Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon… Zeit für eine Justus-Köhncke-Retrospektive? Best of- oder „Classic“-Compilations erwecken ja oft den Eindruck, als ginge es mit der Karriere des betreffenden Künstlers gerade nicht so recht voran, weshalb es angeraten scheint, an die besten Stücke aus der Vergangenheit zu erinnern. Anders verhält es sich mit der „Klassiks“-Reihe des Kölner Elektrolabels Kompakt (immerhin auch schon seit fünfzehn Jahren aktiv!), die mit den bisherigen Veröffentlichungen – Jürgen Paape, Burger/Ink. – zwar die wichtigsten Kompakt-Acts ehrt, aber eher im Sinne eines Zwischenstands, einer Werkschau-bis-heute, tbc.

Der in Gießen geborene Justus Köhncke ist seit vielen Jahren einer der wichtigsten deutschen Elektro-Producer, -DJs und -Sänger (ja!), außerdem gehörte er neben Hans Nieswandt und Eric D. Clark zu Whirlpool Productions, die mit „From: Disco To: Disco“ einen satten Nummer-Eins-Hit in Italien landeten. In seiner eigenen Arbeit zeigt Köhncke keinerlei Berührungsängste, zitiert Disco, Hildegard Knef, Neil Young, Krautrock, John Cage, schmusigen 70s-Pop à la „Love Is In the Air“ und erweitert das Elektro- oder Technogenre um poetisch-lyrische Momente. Er textet, singt und interpretiert auf Deutsch, z. B. Jürgen Paapes sanften Superhit „So weit wie noch nie“ oder stellt die richtigen Fragen, siehe „Was ist Musik?“, sein wegweisender Track + Album von 2002.

Köhncke selbst nennt seine Musik „Technoschlager“ und nimmt damit etwaiger Kritik von Elektro-Hardlinern den Wind aus den Segeln – wobei Köhnckes Begriffskreation in die falsche Richtung führt. So geschmackvolle und geistreiche Dancemusic wie Köhncke macht außer ihm nur Hans Nieswandt, womit sich der Kreis bzw. die „Spirale(n) der Erinnerung“ (so ein Albumtitel Köhnckes von 1999) aufs Passendste schließt. Die Klassiks-Compilation beinhaltet Justus Köhnckes wichtigste Tracks aus Früh- und Jetztphase wie z. B. den Agitationssong „Weiche Zäune“, inklusive rarer Maxiversionen.

Justus Köhncke: Bass ist Musik. Kompakt Klassiks 3. Hörproben bei KOMPAKT.FM oder auf Myspace

josejames_nobeginningnoendBeneidenswerte Lockerheit

(TM) Eine wirklich starke Platte beschert uns in diesen Tagen der Amerikaner José James. Von der New York Times als Nachfolger des 70s-Sound à la Roberta Flack und Gil Scott-Heron bezeichnet, hat James hier zum ersten Mal ohne den Rückhalt eines Plattenvertrags agiert und konnte nach Gusto schalten und walten. „No Beginning No End“ ist eine beeindruckende Mischung aus Jazz, R&B, Soul, Hip-Hop und elektronischen Elementen.

Mit dem neuen Album möchte sich James aus seiner Rolle als reiner Jazzsänger emanzipieren, was ihm mit beneidenswerter Lockerheit gelingt. Nicht zuletzt sein Songwriting kann überzeugen. Als musikalische Unterstützung holte sich James kompetente Musiker ins Studio, u. a. die R&B-Sängerin und Gitarristin Emily King, die auch viele der Songs geschrieben hat; beim exakt groovenden „Sword & Gun“ ist bewegt die Zusammenarbeit mit der französisch-marokkanischen Sängerin Hindi Zahra. Aber auch der Hit-Appeal kommt nicht zu kurz: „Come To My Door“, ebenfalls aus der Feder von Emily King, könnte es mit seiner verspielten Eingängigkeit in den R&B-Charts weit bringen. Der Titelsong dagegen überzeugt mit gekonnt verschleppten Rhythmen.

José James: No Beginning No End. Blue Note (EMI). Zur Homepage. Hörproben auf Myspace.

Jack_NovemberEssenz von Wehmut

(JA) Ihren ersten Live-Auftritt hatte Jack November 2010 auf persönliche Einladung von Anja Plaschg als Support von Soap&Skin in Paris. Das muss man als Newcomer aus der hessischen Provinz erst einmal hinbekommen. Die damals gerade einmal 21-jährige Jack November, die bürgerlich Daniela Moos heißt, war seitdem mit der Österreicherin und mit Beach House auf Tour. Nun legt sie ein Minialbum vor. Für das Stück „Moonsorrow“ erhielt sie Unterstützung von der Einstürzenden-Neubauten-Legende N. U. Unruh und seinem Stahlschlagzeug.

Dennoch muss sich Jack November nicht hinter diesen prominenten Namen verstecken. Die fünf Stücke zeugen sicherlich von einer Wahlverwandtschaft zu Soap&Skin, gehen aber ihren eigenen Weg. Noch mehr in die Dunkelheit, jedoch von weniger schmerzlicher Wut getragen. Hypnotisch schwebt Danielas Stimme zu den Klängen ihres Harmoniumspiels und öffnet damit die Tore zu einer nebelverhangenen Welt.

Jack November – Moonsorrow from J N on Vimeo.

Den Hörer erwartet eine unverbrauchte Intensität, die hoffen lässt, dieses Minialbum sei nur ein Vorgeschmack auf das wahrscheinlich noch in diesem Jahr erscheinende Debütalbum. Schnörkellose Litanei, die das Blut in den Adern gefrieren lässt und die Essenz von Wehmut darstellt. Der perfekte Soundtrack für dunkle, kalte Tage.

Jack November: dito. 8mm Musik (Cargo Records). Zu Facebook. Anhören und -sehen auf Myspace, Soundcloud oder Vimeo.

joelovano_usfive_crossculturePrächtige Spiellaune

(TM) Gerade hat er seinen 60. Geburtstag gefeiert, da erscheint hierzulande das neue Album des amerikanischen Jazzsaxophonisten Joe Lovano. Es ist das 23. Album bei Blue Note. Mit seiner Band Us Five schart er versierte Musiker um sich – das Quintett wurde 2010 vom Magazin Down Beat zur Jazzgruppe des Jahres gewählt, das Coveralbum „Bird Songs“ mit Interpretationen von Charly Parker war für den Grammy nominiert. Auf „Cross Culture“ präsentiert Lovano elf Weltmusik-Jazz-Stücke; zehn Eigenkompositionen und eine beeindruckende Interpretation von „Star-crossed Lovers“ von Billy Strayhorn.

Nicht nur Lovano, auch Us Five sind in prächtiger Spiellaune, allen voran Esperanza Spaulding am Bass sowie Otis Brown III und Francisco Mila an den Drums. Überhaupt die Rhythmussektion: Bei Stücken wie „Modern Man“ ist das Schlagzeug dem starken Aulochrome Lovanos in der Wirkung aufs Trommelfell (pun intended) mindestens ebenbürtig. Der afrikanische Gitarrist Lionel Loueke steuert halsbrecherische Soli bei. Da Lovano seit dem 70er-Jahren Musikinstrumente aus aller Welt sammelt, kommen diese hier eindrucksvoll zum Einsatz – auch exotische Perkussionsinstrumente wie das Oborom aus Nigeria.

Joe Lovano / Us Five: Cross Culture. Blue Note (EMI). Zur Homepage und Facebook. Hörproben bei allmusic.

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