Neue Platten von und mit Philip Boa & The Voodooclub, Mike Oldfield, Adele & Glenn, Kimbra und einer Compilation von Elektrosounds vergangener Jahrzehnte, gehört von Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).
Flur neu gestrichen
(MO) Einen Hund als Covermotiv eines Albums namens “Loyalty” zu verwenden, ist nicht gerade wahnsinnig originell, aber schlüssig. Vorhersehbar, aber okay, quasi kaum zu verbessern. Von daher passt der ja immerhin ziemlich cool und unerschrocken blickende Vierbeiner hervorragend zum 18. Album von Philip Boa und seinem Voodoclub, von dem man keine großen Überraschungen erwarten, es aber auch nicht vorschnell in die BOF*-Schublade einsortieren sollte.
Denn der schon als Jugendlicher grantelige Herr Boa findet beim Älterwerden immer mehr zu sich selbst, leistet sich Wehmut ohne Kitsch („Under A Bombay Moon Soon“) und schreibt Texte, die so unfassbar romantisch und lapidar zugleich sind, dass man nur den Hut ziehen kann („Til The Day We Are Both Forgotten“, „Ernest 2“). Und mit Adorno befasst sich Boa mehrfach, z. B. im Titeltrack und „Black Symphony“.
Musikalisch erkennt man einen Boa-Song sofort, selbst wenn Pia Lund ihre Stimme noch gar nicht erhoben hat – was sie auf „Loyalty“ aber in der gewohnt entrückten, engelshaften Weise häufig tut -, die Mischung aus sprödem, aber glammigem Indie-Rock und üppig angelegten Melodien ist einfach charakteristisch, ein Markenzeichen.
Bei den neuen Stücken fällt aber doch das kräftige, punktgenaue Drumming auf, das von niemand anderem als Brian Viglione (Ex-Dresden Dolls) stammt, der mit Boa eng befreundet ist und auf der neuen Platte seines Kumpels außer Schlagzeug verschiedene andere Instrumente wie Marimba und Gitarre bedient. Es gibt also doch immer mal Veränderungen im Hause Boa/Lund, die aber nie weiter gehen würden, als mal ein anderes Bild überm Sofa aufzuhängen oder den Flur neu zu streichen.
* BOF: Boring Old Fart
Philip Boa and the Voodooclub: Loyalty. Cargo Records. Zur Homepage.
Fast perfekt
(TM) Es gibt so einiges, das man an Mike Oldfields Musik unerträglich finden kann: das aufgesetzte Pathos, die nicht auszuhaltenden Dudelsäcke immer wieder, die leicht durchschaubare Überwältigungstaktik vieler seiner Stücke (schönstes Beispiel: „The Doge‘s Palace“). Und doch sind dann da auch nicht hinwegzuleugnende Sachen wie „Tubular Bells“, Sentinel“ und „To France“ – Meisterwerke sie alle, ob nun zum Hit gereift oder nicht.
Das Best-of-Doppelalbum „Two Sides“ hat Mike Oldfield höchstpersönlich zusammengestellt. Dabei wählte er nach eigenen Angaben die Songs und Stücke aus, die seiner Meinung nach der Perfektion am nächsten kommen. In den Linernotes gibt er kurze Informationen, die die Songs in einen Zusammenhang rücken und Hintergründe zur Entstehung liefern (sehr schön die Geschichte zu „Five Miles Out“, das Oldfield selbst zu recht für eines seiner stärksten Songs hält).
„Two Sides“ ist eine ideale Einstiegsmöglichkeit für Menschen, die bisher nur die offensichtlichen Werke Oldfields kennen („Moonlight Shadow“ als Hintergrundmusik im Supermarkt, jaja). Es wäre doch zum Beispiel zu schade, niemals im Leben den wie hingetupften Bodensee von „The Lake“ vor dem inneren Auge zu sehen.
Mike Oldfield: Two Sides. The Very Best of Mike Oldfield. 2 CD. Mercury (Universal).
Zeitloser Indie-Pop
(MO) Als Robert Forster nach dem Tod von Grant McLennan 2006 das endgültige Ende der Go-Betweens verkündete, war die Trauer groß, aber auch das Verständnis: die Go-Betweens ohne McLennan – das fühlte sich einfach nicht richtig an. Aber dass die hinterbliebenen Bandmitglieder weiter Musik machen würden, war auch irgendwie klar: Forster veröffentlichte sein Soloalbum „The Evangelist“, Schlagzeuger Glenn Thompson nannte sich Beachfield und brachte die hübsche Platte „Brighton Bothways“ heraus. Thompson kam wie Bassistin Adele Pickvance (Sleater-Kinney) erst zur 2000er-Reunion zu den Go-Betweens, die beiden blieben bis zum Schluss die „Neuen“ neben Forster und McLennan.
So etwas schweißt zusammen und führt im Fall von Adele & Glenn zu den schönsten musikalischen Weiterentwicklungen: ihr gemeinsames Album „Carrington Street“ ist (natürlich, möchte man beinah sagen) stark vom Sound der Go-Betweens beeinflusst. Zeitloser, luftiger Indie-Pop auf akustischen und elektrischen Instrumenten, ein bisschen Folk und Country, aber immer typisch australisch-relaxt. Adele & Glenn klingen keineswegs wie die unvollständige Hälfte der Über-Band Go-Betweens, sondern finden durch das Zusammenspiel ihrer Stimmen und Ideen gleich zur eigenen Note.
Die Texte sind mal melancholisch wie in „Earthly Air“, das den Tod eines engen Freundes beschreibt; aber auch lustig wie in „Remembering Names“, in dem Adele & Glenn selbstironisch die Begleiterscheinungen des Alters beklagen. „Carrington Street“ ist eins dieser Alben, die auf den ersten Blick wenig Aufregendes bieten, aber schon mit den ersten Tönen ihren Platz bei den Lieblingsplatten gesichert haben.
Adele & Glenn: Carrington Street. Glitterhouse.
Perfekt und indie
(MO) Viele Menschen kennen Kimbra Johnsons Stimme, ohne zu wissen wer sie ist: die Neuseeländerin singt auf Gotyes Megahit „Somebody That I Used to Know“ und wurde dadurch quasi nebenbei zum Weltstar. Dass die 22-jährige, die schon als Kind erste Songs schrieb, mehr kann als das Sahnehäubchen auf den Hits anderer Leute zu sein, zeigt sie auf ihrem Debütalbum „Vows“. Produziert von Hip-Hop-Producer M-Phaze und Filmmusikkomponist Francois Tetaz präsentiert sie mit den zwölf überwiegend von ihr selbst getexteten Songs eine überraschende stilistische Bandbreite von Soul über Balladen, Groove, Swing und Elektropop.
„Settle Down“, „Cameo Lover“ oder das live eingespielte „Plain Gold Ring“ setzen sich sofort in Ohr und Herz fest und sind erfreulicherweise kein bisschen auf Charthit gebürstet, sondern klingen bei aller Perfektion immer auch ein bisschen „indie“. Das Beeindruckendste an „Vows“ ist aber natürlich Kimbras Stimme, die – wie unter anderem Promiblogger Perez Hilton nicht müde wird zu erwähnen – an Björk, Nina Simone und Florence Welch erinnert. Und tatsächlich wirken Songs wie „Something In The Way You Are“ oder „Posse“, als hätte die junge Björk heimlich die Soul-Laufbahn eingeschlagen.
Vergleiche dieser Art können natürlich auch eine Bürde sein, an der eine junge Künstlerin schwer zu schleppen hat. Aber Kimbra wird das gewiss nicht belasten, schließlich ist sie schon jetzt daran gewöhnt, dass ihre Stimme auf dem gesamten Erdball bekannt ist.
Kimbra: Vows. Warner. Zur Homepage.
Verzicht auf E-Gitarren hält jung
(MO) Mit dem Sampler “Electrospective” und einer aufwändig gestalteten Website zollt EMI den vielen wegweisenden Elektrobands und -künstlern aus den eigenen Reihen Respekt und zeigt die Entwicklung der elektronischen Popmusik seit den späten 1950er-Jahren bis heute auf.
Weil Labels wie Virgin, Mute, Astralwerks oder Parlophone zur Mutterfirma EMI gehören, war es für die Kompilatoren Stuart Paterson und Jon Wilson keine allzu schwere Aufgabe, 39 passende Tracks auszusuchen: angefangen mit dem „Doctor Who Theme“ von 1962 über Roxy Music, The Normal, Human League, Telex, Cabaret Voltaire über Nitzer Ebb, Depeche Mode, Daft Punk und Chemical Brothers befinden sich viele „übliche Verdächtige“ auf „Electrospective“ und beweisen, dass auch der Elektropop inzwischen veritable Klassiker aufweist –„Warm Leatherette“, das „Smoke On The Water“ des Elektro? Nun, so weit muss man nicht gleich gehen; aber ganz offenbar hält der Verzicht auf E-Gitarren länger jung, denn viele Elektro-Tracks, die stolze 35 oder gar 40 Jahre auf dem Buckel haben, klingen auch heute noch erstaunlich knackig.
Auf Seite zwei der Compilation zeigen sich die Auswirkungen der 70er-Jahre-Experimente: Synthiesounds sind Mainstream geworden. „Go!“ von Moby, Air mit „Kelly Watch The Stars“, Inner Citys „Big Fun“ und (schluck) Tracks neueren Datums von David Guetta oder Eric Prydz entstanden ausschließlich auf elektronischen Geräten und klingen für heutige Ohren kaum noch experimentell – die Zukunft ist längst in der Gegenwart angekommen. Linernotes von Martyn Ware (Human League, Heaven 17).
Various: Electrospective. 2 CD. EMI Gold. Mehr hier.