Geschrieben am 1. August 2012 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von und mit „50 Years of Reggae“, The Specials, The Flaming Lips, Shed, Ondatrópica, „London Rocks!“, Otto von Schirach, Karin Parks und DJ Maestro, gehört von Ronald Klein (RK) , Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).

Out Of Many: 50 Years of Reggae MusicParty und Politik

(MO) Sommerzeit – Reggaezeit: ob Sunsplash-Festival oder Beachparty in Offenbach, sobald die Sonne scheint und warme Nächte nach draußen locken, haben jamaikanische Riddims Hochkonjunktur. Es wäre jedoch falsch, Ska, Rocksteady und Reggae als reine Feiermusik abzutun. In kaum einem anderen Land spielt die Musik eine so wichtige, auch politische Rolle und trägt so stark zur Identitätsbildung bei wie Reggae in Jamaika.

Entstanden in den Armenvierteln Kingstons gaben Ska und Reggae den Unterdrückten einen eigenen Sound, der seit den 1960er-Jahren höchst erfolgreich um die ganze Welt geht. In diesem Jahr gibt es ein Jubiläum zu feiern: 1962 wurde die Antilleninsel Jamaika nach fast 300 Jahren britischer Kolonialherrschaft ein eigener Staat – perfekter Anlass für das Label VP Records, den 3-CD-Sampler „Out Of Many: 50 Years of Reggae Music“ zu veröffentlichen.

Jeder Song steht für ein Jahr Unabhängigkeit: von Chaka Demus über die Skatalites, Sean Paul, Augustus Pablo, Lady Saw oder Eek-A-Mouse sind (fast) alle dabei, die im Reggae Rang und Namen haben. Viele Stücke handeln von politischen und sozialen Missständen wie „Independent Jamaica“, das in seiner ursprünglichen Version von Lord Creator und in einer Neuaufnahme zu hören ist, „These Streets“ von Tanya Stephens oder Nicky Thomas’ „Love Of The Common People“, das als Remake von Paul Young ein internationaler Hit wurde.

Andere Tracks wie „Fattie Boom Boom“ (Ranking Dread), „Smoking My Ganja“ (Capital Letters), Shabba Ranks’ „Mr. Loverman” oder “Zungguzungguguzunnguzeng” von Elephant Man widmen sich der leichteren Seite des Lebens, womit „Out Of Many“ alle Facetten jamaikanischer Musik vereint – dass Künstler wie Elephant Man und Beenie Man wegen ihrer offenen Schwulen- und Frauenfeindlichkeit mehr als umstritten sind, soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben und mag ein Indiz dafür sein, dass auch im Paradies nicht immer nur die Sonne scheint.

Out Of Many: 50 Years of Reggae Music. 3-CD-Sampler. VP Records (Groove Attack).

More… Or Less. The Specials LiveNicht nur für Skanksters

(MO) Noch eine Hommage an die jamaikanische Musik: 1979 bildeten die Specials die Speerspitze des britischen Ska-Revivals. Die Specials präsentierten sich von Anfang an betont antirassistisch, was bei anderen Ska-Bands nicht immer selbstverständlich war – die Bandmitglieder um Sänger Terry Hall waren hell- und dunkelhäutig, Keyboarder Jerry Dammers rief überdies das Label Two Tone ins Leben, auf dem Bands wie The Selecter, The Beat und Madness erschienen und das schon im Logo schwarz und weiß vereinte.

Das musikalische Oevre der Ur-Specials ist begrenzt: die Band veröffentlichte nur zwei (fantastische) LPs und löste sich 1981 nach der grandiosen, düsteren Hitsingle „Ghost Town“ desillusioniert auf. Denn der Herzenswunsch der Specials, dass England ein nicht-rassistisches Land werden sollte, in dem Menschen von überall her friedlich zusammenleben und eine gute Zeit haben, erfüllte sich in Margaret Thatchers Britannia leider keineswegs. Missstände wie der sinnlose Krieg um die Falklands, die erdrückend hohe Arbeitslosenzahl und das Erstarken der National Front führten dazu, dass die Specials ihre Mission ernüchtert aufgaben. Terry Hall gründete Fun Boy Three und The Colourfield und veröffentlichte Soloalben, Jerry Dammers machte mit Special AKA („Free Nelson Mandela“) weiter, die Jahre zogen ins Land.

Und dann, 2009: die Specials (bis auf Dammers) fanden tatsächlich für Konzerte in London anlässlich ihres 30. Gründungsjubiläums wieder zusammen – und wurden von zahlreichen Skanksters euphorisch gefeiert. Ausverkaufte Auftritte in ganz Europa schlossen sich an: jetzt erscheint mit „More… Or Less. The Specials Live“ ein überschäumend lebendiger Zusammenschnitt ihrer Konzerte von 2011 – tolle Stimmung, Band in Bestform und alle Songs wie „Nite Klub“ „Do Nothing“ (bei dessen bitteren Texten man spätestens heute genauer hinhören sollte), „Too Much Too Young“, „Gangsters“, „Monkey Man“ und natürlich „(A Message to you) Rudy“.

More… Or Less. The Specials Live. Doppel-CD. EMI catalogue. www.thespecials.com

The Flaming Lips: The Flaming Lips And Heady FwendsStatt Drogen

(TM) Wenn man wie die Psychadelicrocker The Flaming Lips seit 30 Jahren Musik macht und durch die Gegend gondelt, hat man so einige Freunde, die sich gern bereit erklären, für ein weiteres durchgeknalltes Album zu kooperieren. Und so hört man auf „The Flaming Lips And Heady Fwends“ unter anderem Nick Cave zu dröhnenden Gitarren und einem zugedröhnten Chor ein herrlich eierndes „You Man Human“ intonieren, erlebt Yoko Ono als Furie, die den Instrumenten nichts weiter als ein ewiges „Do It!“ entgegenschleudert und Jim James von My Morning Jacket, der aber mit „That Ain’t My Trip“ und seinen wunderbaren fuzzy guitars nur den zweitbesten Song des Album beisteuert.

Denn alles überragt doch Erykah Badus in kaugummizäher Langsamkeit vorgetragene, zehnminütige Version des Klassikers „The First Time I Ever Saw Your Face“ (1972 ein großer Hit für Roberta Flack). Badus hallbegelegter, sehnsüchtiger Gesang wird hier einer Feedbackwand gegenübergestellt, die sie wie ein Wassertropfen den Stein ganz geduldig durchhöhlt. Wer also in diesem Monat kein Geld mehr für Drogen hat, dieser halluzinogen Musikbatzen tut es auch.

The Flaming Lips: The Flaming Lips And Heady Fwends. Bella Union/Cooperative Music (Universal).

Shed: The KillerWurzeln in Techno

(RK) Nein, betont das Promo-Blatt, das Album habe weder mit Massenmördern, Krieg noch mit Militär etwas zu tun. Der Titel leite sich programmtisch von der Qualität der Musik ab. Sie sei „der Killer“. Dem gegenüber stehen jedoch Songtitel wie „Silent Witness“ oder „I Come By Night“. Leichte Verwirrung zu Beginn, die sich rasch in Wohlgefallen aufgelöst. Veröffentlichte René Pawlowitz aka Shed seine ersten beiden Alben auf dem Ostgut Ton-Label, wechselte er nunmehr zu 50 Weapons, das dem Berliner Duo Modeselektor untersteht und das Anfang des Jahres mit dem kongenialen Erstlingswerk von Doc Daneeka and Benjamin Damage aufwartete.

Auch Shed gelingt mit seinem dritten Album ein Risenschritt. Sein Debüt (2008) lief außer Wertung, da es sich um eine Kompilation früherer Tracks handelte. „The Traveller“ (2010), das Shed mittlerweile selbst als „überambitioniert“ bezeichnet, verlor sich in einer bisweilen richtungslosen Mischung unterschiedlicher Stile der elektronischen Musik, die das technoide Soundgerüst anreicherte. Ganz anders hingegen „The Killer“, das viel stärker im Techno wurzelt. Reiner Minimalismus ist dem Berliner, der eine große Vorliebe für den UK-Techno der 90er-Jahre besitzt, ohnehin fremd. So lebt die Platte am Anfang von Antagonismen wie pumpenden Beats, die wirklich die Boxen zur Verzweiflung treiben, und anschließenden Ruhephasen, deren fragile Klangflächen sanft die Membrane streicheln.

Dieses Konzept löst sich ab der Mitte des Albums („Day After“) zugunsten eines homogeneren, aber nie monotonen Klangbildes ab. Dieses hält die Spannung konsequent bis zum Ende durch, erstaunlich schnell ist „The Killer“ wieder entschwunden. Erstaunlich schnell? Die elf Tracks, die eine reguläre Albumlänge ergeben, beweisen, wie relativ tatsächlich die Zeit ist. Außergewöhnlich starkes Klangwerk!

Shed: The Killer. 50 Weapons (Rough Trade).

Ondatrópica: dito Moderner Klassiker

(TM) Ich habe gerade darüber nachgedacht, was jemanden dazu bewegen könnte, dieses Doppelalbum ‚insgesamt irgendwie nicht so komplett supi‘ zu finden. Insistierende Depression? Musikalischer Analphebitismus? Schwere Beine? Mehr eventuelle Gründe sind mir auf die Schnelle nicht eingefallen, und vielleicht gibt es auch gar keine. Mario Galeano (Mitglied der Band Frente Cumbiero) und Produzent Will ‚Quantic‘ Holland, die treibenden Kräfte hinter Ondatrópica, bringen auf ihrem selbstbetitelten Album all das zusammen, was jemals an kolumbianischer Musik großartig war, egal ob klassisch oder modern.

Im Januar dieses Jahres trommelten sie in den Discos Fuentes Studios von Medellín die legendären Musiker der kolumbianischen Musikgeschichte (darunter der Perkussionist Fruko und Pianist Juancho Vargas) und jüngere Kollegen zusammen, mit einer Vision im Kopf: das musikalische Erbe des Landes neu zu interpretieren, ins 21. Jahrhundert zu holen durch neue Kompositionstechniken, Arrangements und eine neue Produktion. Herausgekommen ist dieser moderne Klassiker, der Cumbia, Salsa, Ska, Hip-Hop und Funk feiert und der den Spätsommer noch bis weit in den Winter retten wird. Wer die Möglichkeit hat, die Band live zu sehen, sollte das nicht verpassen.

Ondatrópica: dito. 2 CD. Soundway Records (Indigo). Ondatrópica live: 4.8.2012 Berlin, Haus der Kulturen der Welt

London Rocks! – Music Made in the UKDer Bildung halber

(MO) Rechtzeitig zum Beginn der 30. Olympischen Spiele in London re-releast Sony in der Reihe „London Rocks!“ ausgewählte Erfolgsalben britischer Provenienz, die klarmachen sollen, dass es Wichtigeres im Leben gibt als Sport, Musik nämlich. Dass die Auswahl diskussionswürdig ist und sowieso von den Sony-eigenen Verwertungsrechten abhängt – geschenkt. Und dass in fast jedem Haushalt, in dem Menschen über 35 leben, Platten von Jamiroquai („Travelling Without Moving“), Paul Potts („One Chance“), Alison Moyet („Alf“), Judas Priest („British Steel“), Dido („Life For Rent“) oder – etwas aktueller – die Ting Tings („We Started Nothing“) zu finden sind und deshalb die Neuanschaffung unsexy designter Digipaks nicht zwingend nötig ist: auch geschenkt.

Nehmen wir „London Rocks!“ also zum Anlass, auf die Perlen der Reihe aufmerksam zu machen, das Best-of-Album „Like You Do“ der Lightning Seeds zum Beispiel: die fluffigen Songs von Ian Broudie und seiner Band machten ab 1989 die Britpop-Welle sympathisch und werden auch heute noch gerne von ergrauten Damen und Herren mitgepfiffen („Life Of Riley“, „Lucky You“, „Pure“ und natürlich der WM-Hit „Three Lions“). Ebenfalls unverzichtbar sind das Debütalbum der Stone Roses und „Screamadelica“ von Primal Scream, deren Existenz in den bereits erwähnten 35+-Haushalten leider weit weniger flächendeckend ist als Jamiroquai und schon allein der Bildung halber in diesen Fällen gerne zum Re-Release gegriffen werden darf.

London Rocks! – Music Made in the UK. Epic(Sony). Promo-Team.deBeispiel The Lightning Seeds.

Otto von Schirach: SupermengHumangenetisches Experiment

(RK) Acht Jahre lang veröffentlichte der Amerikaner mit kubanischen und deutschen Wurzeln in steter Regelmäßigkeit durchgeknallte, eklektische Werke. Doch nach dem 2009er-Album „Magic Triangle“ kam erst einmal nichts mehr. Dabei schrien phänomenale Songs wie „My Supernatural Motorcycle Gang Will Knife You“, „Homosexual Mannequin“ oder „Alien Visiting Me“ nach einer Fortsetzung. Was war passiert? Hatten die außerirdischen Besucher den Klangtüftler Otto von Schirach in ferne Galaxien entführt?

Man könnte es glauben, denn „Supermeng“ erzählt von dem gleichnamigen „Übermenschen“, der nicht von Nietzsche, sondern von mysteriösen Aliens konzipiert wurde. Ein humangenetisches Experiment, als das sich das Alter Ego Schirachs begreift, das seine Superkräfte einsetzt um Super-Musik zu produzieren. Gleich der erste Track „Salpica“ funktioniert als lebendiges Beispiel dessen. Ein fetter Beat, stark vom Miami Bass inspiriert, sorgt für die volle Aufmerksamkeit.

Danach ist Ruhe im See resp. in der Milchstraße. „Ultimate Universe“, The Blob“ und „Breathe The Meat“ stehen nicht nur für lyrische Reisen in unbekannte Welten, sondern auch exemplarisch für den Klangkosmos des Musikers, dessen Erkundung zahlreiche Achterbahnfahrten im Space Shuttle erfordert, um die Reichhaltigkeit an IDM, Hip-Hop, Breakbeats und Noise aufzunehmen. Ein buntes Album – das ist der Pop des 21. Jahrhunderts!

Otto von Schirach: Supermeng. Monkeytown Records (Rough Trade).

Karin Park: Highwire PoetryMonolith aus Schweden

(MO) Im Presseinfo zu Karin Parks viertem Album „Highwire Poetry“ gibt man sich alle Mühe, die Schwedin und ihre Musik so unheimlich wie möglich darzustellen: Karin wurde „in den dunklen Wäldern von Dalarna in eine tiefreligiöse Familie geboren“, steht dort zu lesen, und dass sie in einer „leerstehenden alten Dorfkirche“ wohnt und arbeitet. Die 35-jährige Elektromusikerin und Sängerin war aber nicht immer so düster gestimmt: ihr in Norwegen veröffentlichtes Debütalbum „Superworldunknown“ bot netten Folkpop und Park trug fröhliche Glitzerklamotten dazu.

Nun wäre Karin Park ja nicht die erste Musikerin, die sich im Lauf ihrer Karriere zu einem Imagewechsel entschließt – und die Zusammenarbeit mit den Producern Barry Barnett und Christoffer Berg (Fever Ray/The Knife) führte schließlich zu ihrer Metamorphose zur ernstzunehmenden New Goth-Künstlerin, die in einem Atemzug mit Zola Jesus, Austra oder eben Fever Ray genannt wird. Gesanglich erinnert Park mit ihren langgezogenen Vocal-Schleifen auch an Björk (besonders bei „Tiger Dreams“ und „Tensions“), der Sound auf „Highwire Poetry“ ist aber durchgehend kühl, fast kalt, synthetisch, mit Hardrock- und Dubstep-Anleihen.

Ganz vereinzelt werden auch Discobeats eingestreut („Explosions“), die aber eher der atmosphärischen Abwechslung dienen statt zur Tanzfläche zu locken. Die zehn Songs sind monolithisch, dramatisch inszeniert und wenig zugänglich – aber wir gehen mal davon aus, dass das genau so sein soll.

Karin Park: Highwire Poetry. State of the Eye Recordings (Alive). www.karinpark.com

Maestro: Blue Note Trip Vol. 10 - Late Night / Early MorningsEnde einer Dekade

(TM) Seit 10 Jahren besteht die Reihe „Blue Note Trip“, dementsprechend erscheint in diesem Jahr Volume 10 der erfolgreichen Reihe ausgegrabener Schätze des Blue Note Universums. Der Herausgeber DJ Maestro ist dabei ein Phänomen an sich: er hat selbst nie einen Song komponiert, aber er weiß, in welcher Reihenfolge man Sachen aus einen Sampler packt, um damit dann auch das Publikum zu packen – und zwar auch Menschen, die mit Jazz bisher nichts am Hut hatten.

Maestro hat mal wieder in den Archiven gewühlt und präsentiert auf zwei thematisch getrennten CDs insgesamt 33 Stücke querbeet durch etwa 60 Jahre Musikgeschichte, von musikalischen Jazzgrößen wie Donald Byrd, Nancy Wilson, Nina Simone und Al Caiola.

„Late Night“ konzentriert sich standesgemäß aufs Grooven zwischen Vocal-Jazz und Funk, während „Early Mornings“ etwas Ruhe ins Spiel bringt und eher die Balladen featuret. In den Linernotes schreibt Maestro, dass mit dieser CD das Ende einer Dekade erreicht sei und ein Neuanfang anstehe. Was er wohl als nächstes ausgräbt?

Maestro: Blue Note Trip Vol. 10 – Late Night / Early Mornings. 2 CD. EMI.