Geschrieben am 14. Dezember 2011 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von Esperanza, Kid Chocolate, Archie Shepp und Joachim Kühn, The Dale Cooper Quartet & The Dictaphones und Paul Simon, gehört von Tina Manske (TM) und Thomas Wörtche (TW).

Esperanza: dito Die Hoffnung überwiegt

(TM) Tja, so ist das mit der Hoffnung: mal schimmert sie kurz auf, mal ist sie unter düstereren Schichten verborgen. „Esperanza“, das Debütalbum der gleichnamigen Band aus Italien, verströmt genau dieses Wolkenaufbrechen durchsetzt mit Momenten, die dem vielzitierten David-Lynch-Movie gut zu Gesicht stünden. Die erste Single „Sirena“ ist mit ihren sehnsuchtsvollen Vocals (feat. Banjo Or Freakout) ein gutgelaunter Ausreißer, und „Aliante Giallo“ klingt für eine Schrecksekunde bedrohlich nach Robert Miles. Mich hatten sie jedoch spätestens mit der klagenden Gitarre auf „Fiore“ gepackt.

Matteo Lavagna, Carlo Alberto Dall’Amico und Sergio Maggioni kennen sich in der Musikgeschichte gut aus, und obwohl sie alle drei klassische Instrumente gelernt haben, interessieren sie sich offensichtlich besonders die Elektronik des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Schon wieder dienen Air als ein sehr grober Anhaltspunkt der meist instrumentalen Stücke, dazu der frühe Jean-Michel Jarre, Krautrock aus Düsseldorf, Techno aus Detroit. Die Hoffnung überwiegt am Ende also doch: Diese Jungs werden’s noch weit bringen.

Esperanza: dito. Gomma (Groove Attack).

Kid Chocolate: KaleidoscopeFacettenreich

(TM) Wie es der Plattentitel insinuiert, präsentiert uns Kid Chocolate auf seinem neuen Album einen bunten Reigen verschiedener Einflüsse und Situationen, durch die Bank begleitet von befreundeten Vokalisten. Tatsächlich ist „Kaleidoscope“ eine durch ihren Facettenreichtum bestechende Platte. Alles beginnt mit einer angejazzten Klaviermelodie („Rosemary Brown’s Ghost“), geht gleich über in einen relaxten Brassbeat mit den Vocals von Land Of Bingo („Let’s Form A Party“), danach der leichte House von „The Chains“ (mit Love Motel), bevor mit „A Lot Of Love“ der erste echte Partyknaller in die Blitzableiter fährt (feat. Tahiti 80). „Generation Admin“ (nochmals mit Land Of Bingo) wiederum ist einer der Hits, die Air in letzter Zeit nicht hatten (mit schön satirischem Blick auf unsere Verwaltungsgesellschaft), und Puma Mimi singt auf dem japanischen Dark-Dub-Titel „Square Moon“ so schön lasziv, dass man Kid Chocolate auch den einzigen Ausrutscher dieser chicen – und übrigens mit richtigen Instrumenten eingespielten! – Platte verzeiht: „Unbelievable“ als Trance-Stomper, oh nein.

Kid Chocolate: Kaleidoscope. Poor Records (Groove Attack). Kid Chocolate bei MySpace.

Archie Shepp/Joachim Kühn: Wo!ManDialog

(TW) Man könnte stundenlang zuhören, aber was soll man groß darüber schreiben? Archie Shepp und Joachim Kühn (die zum ersten Mal 1967 zusammen musiziert hatten) schnappen sich Standards wie Ellingtons „Sophisticated Lady“, Hagen/Rogers „Harlem Nocturne“ oder Ornette Colemans „Lonely Woman“, dazu ein paar Eigenkompositionen und gar zwei Ko-Kompositionen („Segue“ und „Sketch“), reduzieren die alle auf ihre wesentlichen harmonischen und melodischen Substanzen (den Rhythmus erledigen Kühns Anschlag und Shepps Phrasierung) und dann fangen sie an, zu dialogisieren. Eine Kunst, die die beiden seit Jahrzehnten mit wechselnden Partnern, aber immer auf höchstem Niveau kultiviert haben: Shepp mit Mal Waldron, Horace Parlan, Abdullah Ibrahim & Co; Joachim Kühn mit Heinz Sauer, Ornette Coleman, Michel Portal & Co. Ergibt Autorität und Akzeptanz der anderen Autorität, zwei ganz robuste Stimmen, die im Dialog unendlich nuanciert werden, ohne an Energie und Dynamik zu verlieren.

Au contraire: Man höre z. B. bei Shepps „Nina“, welche Figuren Kühn auf dem Piano unter dem grantigen Saxophon entwickelt und dann zunehmend nach oben spielt … Meine Güte … Und so geht es weiter und weiter und weiter. Und weil ich meine Sentimentalitäten habe, ist mir besonders das gute, alte „Harlem Nocturne“ ans Herz gewachsen. Diese Version hier fügt zu der Ironie des Originals noch einen Hauch Melancholie dazu, die wiederum ironisch gefedert ist.

Archie Shepp/Joachim Kühn: Wo!Man. Archieball (Harmonia Mundi). Zur Homepage von Archie Shepp.

Dale Cooper Quartet & The Dictaphones: MétamanoirDunkelschrauben

(TM) Apropos David-Lynch-Filme: Ohne das neue Album der Drone-Jazzer des Dale Cooper Quartets dürften Fans derselben diesen Winter nicht auskommen. Auf dem Nachfolger ihres Erstlings „Parole de Navarre“ ziehen die Franzosen die Dunkelschrauben noch weiter an und erzeugen wieder einmal eine Stimmung, als befinde man sich mitten im Auge eines Sturms. So etwas muss in der stürmischen Bretagne aufgenommen werden, und wurde es natürlich auch. Mit Hilfe der Vocals von Zalie Bellacicco, die auch auf dem Debüt bereits mit von der Partie war, sowie weiterer Vokalisten wie Gaëlle Kerrien (Yann Tiersens Sängerin auf seinem letzten Album bei Mute) führt das Dale Cooper Quartet den Hörer auf eine beunruhigende und faszinierende Reise. Fans von Bohren und der Club of Gore nutzen „Métamanoir“ wahrscheinlich als Uptempo-Partymucke, gefallen wird es ihnen auf jeden Fall. Musik für die Stunden nach Mitternacht.

Dale Cooper Quartet & The Dictaphones: Métamanoir. Denovali Records (Cargo). Zu MySpace.

Paul Simon: SongwriterÜberklassiker

(TM) Zum Schluss noch eine echte Weihnachtsempfehlung: mit „Songwriter“ liegt eine Doppel-CD vor, die Paul Simon mit all den Lieblingstiteln seiner Solokarriere präsentiert. Naja, bis auf die ersten drei Titel: die Simon & Garfunkel-Klassiker „Sound Of Silence“, „The Boxer“ und „Bridge Over Troubled Water“ sind wahrscheinlich Zugeständnisse ans Publikum, das diese Überklassiker einfach nicht missen will. Aber warum sie nicht mal wieder in einer anderen (Live-)Version hören, diese Kompositionen, denen selbst das Rund-um-die-Uhr-im-Radio-laufen nichts anhaben kann? Die Zeitspanne, die mit dieser Werkschau abgedeckt wird, ist mehr als beachtlich: den ältesten vertretenen Song schrieb Simon im Alter von 21 Jahren, den jüngsten mit 68. Eine tolle Weihnachtsplatte (mit ausführlichen Linernotes, die den Musiker in seine Zeit einordnen und in seinem Impetus zu verstehen suchen) und nicht zuletzt eine gute Gelegenheit, mal wieder zu begreifen, warum „Graceland“ eines der besten Alben der Musikgeschichte ist.

Paul Simon: Songwriter. 2 CD. Sony Music/Legacy Recordings. Zur Homepage.