Geschrieben am 14. September 2011 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von Slow Club, Ladytron, Birgit Ulher, Robots in Disguise und Tarwater, gehört und besprochen von Janine Andert (JA),  Christina Mohr (CM) und Tina Karolina Stauner (TKS).

Slow Club: ParadiseRichtig hübsch

(CM) Die Rezensentin möchte ausdrücklich um Entschuldigung dafür bitten, dass an dieser Stelle so oft der Name Simon Reynolds fällt und dessen aktuelles Buch „Retromania“ zitiert wird, das sich mit der Vergangenheitsbesessenheit der Popmusik befasst. Aber Bands wie das aus Sheffield stammende Duo Slow Club sind Paradebeispiele für besagte Retromanie: auf ihrem gefeierten Debütalbum „Yeah So“ von 2009 schwelgten Rebecca Taylor und Charles Watson im US-amerikanisch geprägtem Indiepop und -folk der 1980er-Jahre, die neue Platte „Paradise“ schwebt auf Soul- und Doo Wop-Flügeln davon, begleitet von Siebzigerjahre-Singer-/Songwriterpop à la Carpenters, Eva Cassidy und Joni Mitchell.

Manchmal klingen sie aber auch wie eine Postcard-Band: „Two Cousins“ und „The Dog“ schrammeln und schrabbeln so ungebügelt los, dass es eine wahre Freude ist. Denn: trotz aller Zitatverliebtheit und der Gefahr des totalen Profilverlusts für Slow Club ist „Paradise“ eine richtig hübsche Platte. Streicher, Synthies und Schrabbelgitarren bilden mit engelsgleichen Chören und Sixties-Girlgroup-Harmonien so kontrastreiche wie superharmonische Allianzen. Charles‘ und Rebeccas Gesang bezaubert als Duett ebenso wie im Einzelvortrag, dass die Texte zu den zartschmelzenden Songs manchmal ganz schön herb (mindestens 85 % Kakaoanteil) sind, fällt erst bei genauem Hinhören auf: „Never Look Back“ könnte das kuschlige Liebesgeflüster eines verknallten Pärchens sein, der Song basiert aber auf  einem Traum Rebeccas, in dem sie versucht, ihren sterbenden Bruder zu retten und es nicht schafft. Solche edges gibt es aber nur in den Texten, die Musik ist „Paradise“ in Reinkultur. Mal abwarten, was passiert, wenn es dem Slow Club im Paradies zu langweilig wird…

Slow Club: Paradise. Moshi Moshi/Cooperative. Zum Label und zur Band.

Ladytron: Gravity The SeducerEigener Ausdruck

(CM) Es ist schon ulkig: eigentlich ist man geneigt, elektronische Musik mit Synthesizern grundsätzlich (oder immer noch) für modern zu halten. Andererseits hören sich viele Neuveröffentlichungen aus diesem Sektor ziemlich altertümlich und rückwärts gewandt an, „Gravity The Seducer“ zum Beispiel, fünftes Album des Liverpooler Quartetts Ladytron. Die Band (Daniel Hunt, Reuben Wu, Helen Marnie, Mira Aroyo: alle Synthie/Gesang), die sich nach einem Roxy Music-Song benannte, existiert seit 1999 und
läutete mit ihrem Clubhit „Playgirl“ das Achtzigerjahre-Wavepop-Revival ein. Ladytron vermischen die unterschiedlichsten Synthiepop-Bezüge: Human League, Depeche Mode, Kraftwerk oder vergessene One-Hit-Wonder aus den Achtzigern nähren den Sound, der durch Helens und Miras hellzarten Gesang etwas Entrücktes bekommt.

Die Band bezeichnet „Gravity The Seducer“ als „ihr schlüssigstes Werk im Sinne von Stimmungen und Themen“, und tatsächlich haben Ladytron mit dieser Platte zu ihrem eigenen Ausdruck gefunden: Sphärisch-flächige, filmmusikartige Synthielandschaften, sanft pluckernde Beats, moderate Gothic-Anmutungen. Zu „Age of Hz“, „Ambulances“ oder „White Elephant“ kann man gut tanzen, „Mirage“ oder „White Gold“ verführen zu romantischer Träumerei, „90 Degrees“ erinnert an Enya und bewegt sich nah am Rande des Kitschs. Ladytron haben eine treue Fangemeinde, die sich über „Gravity The Seducer“ sehr freuen wird – alle anderen werden eine gewisse Bravheit und Betulichkeit im Sound entdecken, was bei einer Platte aus dem Jahre 2011 irgendwie rührend, jedoch nicht gerade zukunftsweisend wirkt.

Ladytron: Gravity The Seducer. nettwerk (Soulfood). Zur Homepage.

Birgit Ulher: choicesWie Textur

(TKS) Konsequent experimentell in der internationalen Improvisationsszene ist Birgit Ulher mit ihrer Trompete. Oft in einem vollkommen freien Bereich, in dem ohne Themen und Absprachen aus dem Moment improvisiert wird, real time music genannt – Töne wie in einem Kontext einer ureigenen Schrift mit eigener Grammatik und Rechtschreibung.  Enthalten auf „choices“ mit Tondämpfer und Radio und in Kollaboration mit Lucio Capece an Sopransaxophon, an Bassklarinette und an Minimegafon sind drei Stücke, die „physical“, „chance“, „orbital“ bezeichnet sind. Dem Stück „physical“ ist ein vorsichtiges, aber auch hart werdendes Pulsen und Vorwärtsbewegen integriert, neben den oft wie schwirrenden, klirrenden Tönen, und es wirkt insgesamt beinahe zerbrechlich. Die Klänge des lang ausgedehnten „chance“ sind auch versehen mit nervös sirrendem Kreischen und Scheppern neben leisen, sinnlichen, manchmal auch stark spitzen hellen oder dumpf dunklen Unter- und Obertönen.

In dem kurzen „orbital“ ist Fiepen, Dröhnen in sich besonders räumlich entfaltenden Klangschichten zu finden. Blasinstrumente können brummend, murmelnd, keuchend, kratzend, klopfend und in vielen weiteren oft unüblichen Schattierungen erklingen und experimentell eingesetzt werden. Statt konventionelle Musik kann man damit alle möglichen Geräuschklangwelten produzieren. „choices“ ist wie Textur in der bildenden Kunst. Ulher studierte ursprünglich Malerei. Nur wenn man unbedingt will kann man mit dem Musikkosmos von „choices“ auch Realismus absolut oder relativ frei assoziieren in einem Strom der Ideen, der der freien Improvisation entspricht und mentale Entspannung oder Irritation evozieren kann.

Birgit Ulher: choices. Another Timbre. Zur Homepage.

Robots in Disguise: Happiness V SadnessVerve und Spaß

(CM) Das Tolle am London-Berliner Duo Robots in Disguise und ihrem neuen Album ist, dass der schon etwas in die Jahre gekommene Electroclash hier so klingt, als wäre er gerade erst erfunden worden. Dabei wäre es ein Leichtes, an „Happiness V Sadness“ herumzunölen, weil Peaches, Princess Superstar, Chicks on Speed und Robots in Disguise herselves seit ungefähr zehn Jahren immer wieder dieselbe Platte herausbringen – aber Dee Plume und Sue Denim hauen mit so viel Verve und Spaß auf die Tasten, in die Saiten und sonst wohin, dass man gar nicht anders kann, als mitzumachen und abzutanzen. Munter mixen Plume und Denim auf ihrem vierten Album 80er-Jahre-Elektropop mit Riot Grrrl-Attitüde, Gameboy-und Atari-Sounds, Fun und Punk, Disco und Rummelplatzatmosphäre. Robots in Disguise sind aber keine durchgeknallten Ballermann-Luzies, sondern schreiben richtig gute Songs: „Don´t Go“ und „Let´s Get Friendly“ sind so eingängig und poppig, wie es eben nur Popmusik aus dem United Kingdom sein kann, beim Titeltrack und „Hey Watcha Say“ brillieren die Robots mit beherztem Call-and-Response-Shouting, bei „Lies“, „Sink in the Dirt“ und „Sorry“ packen sie nachdenkliche Themen an und drosseln sogar das Tempo ein wenig, was aber am Schluss mit dem ironischen „I´m A Winner“ wieder reingeholt wird. Ihren Fans sind Robots in Disguise jedenfalls ganz schön was wert: „Happiness V Sadness“ wurde durch Vorabbezahlung via Pledge Music finanziert.

Robots in Disguise: Happiness V Sadness. President (Cargo). Zur Homepage.

Künstliche ParadieseTarwater: Inside The Ships

(JA) Instrument des Jahres 2011 ist das Saxophon. Es macht auch vor Tarwaters neuem Album „Inside The Ships“ nicht halt. Tarwater schließen sich allerdings keinem Trend an, sondern haben schon vor zwei Jahren, zu Beginn der Arbeit am Album, den kommenden Zeitgeist erahnt. Faszinierend, wenn die anfängliche Idee eine space opera ist, die zwar nicht realisiert wurde, aber Zukunftsentwürfe und Wissensfiktionen Folie für die Arbeit an „Inside The Ships“ blieben. Genau genommen hört sich das Album nach einer fortgeschrittenen Idee von Weltraumutopien der 60er-Jahre an. Der Kontrast zwischen Bläsern (Tuba, Saxophon, Horn, Trompete und Posaune) und Boardcomputer-Woops und -Piepsern, insbesondere bei „In A Day“, klingt schon verdächtig nach Spaceship. „Get On“ erschafft das Bild eines Roboters. Und dann kommt doch immer wieder die Wärme der Bläser durch, die erden und „Inside The Ships“ zu einem Wechselbad der assoziativen Bilder machen. Im Kopf läuft ein Film ab, der weit über die Musik hinaus geht. Es ist ein schöner und beruhigender Film! Naheliegend, dass „Inside The Ships“ tatsächlich als Vorlage und Inspiration für den Kurzfilm „Der Adler ist fort“ von Mario Mentrup und Volker Sattel diente. Der spielt allerdings auf dem Berliner Alexanderplatz und nicht im Weltraum. Musik kann eben unterschiedliche Assotiationen hervorrufen.

Tarwater überraschen auch mit einem Novum. „Sato Sato“ ist der erste deutsche Text auf einem Tarwater-Album. Ursprünglich ein Song der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft (DAF), nutzen Tarwater die Lyrics, um sie in eine neue Komposition einzubetten. Also keine wirkliche Coverversion, sondern eine Adaption. Dahinter steht der Versuch, die Stimme als ein weiteres Instrument einzusetzen. Gleiches geschieht bei „Do The Oz“, im Original von John Lennon und Yoko Ono. Nun ja, es ist ein wenig schwieriger, den Text zu verstehen. Besonders bei „Do The Oz“ verwebt er sich harmonisch mit den Instrumenten und Soundcollagen. Der Unterschied zu anderen Tracks, die eine Stimme beinhalten, ist aus der Perspektive der Hörer dennoch nur maginal.

„Inside The Ships“ steht zudem als Metapher für den Innenraum. Der auf einem Gedicht von Charles Baudelaire basierende Song „Palace At 5 AM“ greift das Thema der durch Rausch ausgelösten Bilder und Emotionen – bei Tarwater der Rausch durch Musik, bei Baudelaire der Drogenrausch – sowie die Wahrnehmung von Raum und introspektiver Anschauung, einem doppeldeutigen Innenraum, wieder auf. Inspirationsquelle für den Track war Tarwaters Mitwirkung am im März erschienenen Hörbuch „Charles Baudelaire – Die künstlichen Paradiese“.

Seien es Opium und Haschisch, sei es der Versuch, durch Musik synästhetisch Grenzen zu überschreiten – Innen und Außen verschwimmen, das Tor zu Utopien (griechisch: Nicht-Ort) wird geöffnet. Damit wäre der Bogen zu den Weltraumutopien gespannt, allen voran zu Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ über die das Lexikon des internationalen Films schreibt: „Kubricks fantastisches Abenteuer vereint technische Utopie und kulturphilosophische Spekulation zu einer Weltraumoper von überwältigendem Ausmaß.“ Da schimmert sie wieder durch, die anfängliche Idee zu einer space opera nebst Zukunftsentwurf und Wissensfiktion.

Ronald Lippok und Bernd Jestram formieren seit 1995 als Tarwater. Seitdem hat das Berliner Elektronik-Duo zehn reguläre Studioalben veröffentlicht, Unmengen an Filmen und Theaterproduktionen (u. a. an der Volksbühne in Berlin) musikalisch begleitet und mit unzähligen Musikern kooperiert. Letzteres vor allem mit Label-Mates bei ihrer ehemaligen Plattenfirma Morr Music. Mit dem neuen Album „Inside The Ships“ wechseln Tarwater nach langer Zusammenarbeit von Morr Music zu Bureau B. Das passt in Anbetracht der zunehmenden musikalischen Verschiebung von Morr in Richtung Indie-Pop. Eine Band, die sich dem experimentellen Klangkosmos zwischen computergenerierten und analogen Soundfrickeleien verschrieben hat, dürfte sich bei einem Label, das auch Cluster und Faust unter Vertrag hat, musikalisch deutlich wohler fühlen.

Die hiesige Presse behilft sich bei der Beschreibung von Tarwaters Musik mit der Bezeichnung „Indietronics“, was nicht ganz passen mag. Die Briten, die sich auch sonst mehr für die Band interessieren als wir Deutschen, sind da schon treffsicherer: Neo-Krautrock heißt es dort. In der Tat weist Tarwaters Schaffen mehr Parallelen zum Krautrock auf als zu elektronischer Indie-Musik. Bei den vielschichtigen Entwicklungen der 16-jährigen Bandgeschichte ist aber auch das nur ein behelfsmäßiger Versuch der Einordnung, der zumindest für „Inside The Ships“ ganz brauchbar erscheint.

Tarwater: Inside The Ships. Bureau B (Indigo). Zur Band und zum Label.

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