Neue Platten von und mit Trailer Trash Tracys, Tom Waits, Fjoralba Turku, Miles Davis Quintett und Merzouga, gehört von Janine Andert (JA), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (CM).
Musikmixtur aus fünfzig Jahren Popgeschichte
(CM) Die Trailer Trash Tracys sind eine Band, bei der Vergleiche nicht wirklich weiter helfen, ganz ohne Referenzen kommt man aber auch nicht aus – also bringen wir gleich mal ein paar richtungsweisende Namen und Begriffe ins Spiel: The XX! Dum Dum Girls! David Lynch! Phil Spector! Shoegaze! Lo-Noise! Dream Pop! So, und jetzt ist es aber auch gut, denn das Londoner Quartett, bestehend aus Jimmy Lee (Gitarre), Suzanne Aztoria (Gesang), Dayo James (Drums) und Adam Jaffrey (Bass) macht vieles sehr anders als andere. Zum Beispiel leisten sich die Trailer Trash Tracys den Luxus, keinen einzigen „Abgeh-Hit“ auf ihrem Debütalbum „Ester“ unterzubringen. Die Single „Candy Girl“ ist zwar ziemlich eingängig, von gewohnten Indiepop-Strukturen aber meilenweit entfernt.
Auch die anderen Stücke des Albums erweisen sich als zart und halsstarrig zugleich: für eine Shoegaze-Band sind die Gitarren viel zu kernig, Suzannes Vocals erinnern dagegen eher an selige Cocteau Twins-Zeiten denn an retromanische Girlbands. Sehr schön und seltsam: Die Fans der Vaccines beispielsweise, in deren Vorprogramm TTT auftraten, zogen sich nach den ersten Tracks verwirrt an die Bar zurück, denn es gab nichts zum Mitsingen oder -klatschen. TTT zeigen sich von derlei Reaktionen gänzlich unbeeindruckt, sie wollen es ja so. Sie wollen ihre ganz und gar unkommerzielle, berückende, experimentierfreudige Musikmixtur aus fünfzig Jahren Popgeschichte genau so unters Volk bringen und dabei selbst eine gute Zeit haben. Seine eigene Zeit sollte man nicht mit Rumhängen an der Bar verschwenden, sondern den Trailer Trash Tracys gut zuhören. Könnte sich lohnen.
Trailer Trash Tracys: Ester. Double Six Records/Domino. Zur Homepage.
Zeitlose Fragen des Seins
(JA) Tom Waits gehört zu den Musikern, die das Telefonbuch grandios vertonen könnten. Eigentlich ist es fast egal, was er auf seinem zwanzigsten Studioalbum „Bad As Me“ zum Besten gibt – ob experimentell oder dem Blues verhaftet, der Ausnahmekünstler hat seines eigenes Genre geschaffen und kann nur noch mit sich selbst verglichen werden. Die Frage war also von Anfang an, ist das Album durchgängig hörbar oder ein Sammelobjekt für die Fans? Artig zur runden Albumzahl ist „Bad As Me“ eine Art Jubiläumsalbum geworden, das das bisherige Schaffen von Waits zusammenfasst.
Die kautzige Whiskeystimme beweist einmal mehr wie sich melancholische Songs mit Gänsehautfaktor anzuhören haben. Selbstredend, dass Waits Alben eigentlich mit einem Rotwein- oder Whiskey-Abo verkauft werden sollten. Tracks wie „Pay Me“ schreien einfach nach dem Alkoholabsturz in einer Hafenkneipe und jeder einzelne Ton auf „Bad As Me“ hat etwas so sehnsuchtsvoll Trauriges, dass das Album getrost als Soundtrack für den versprochenen Weltuntergang 2012 eingesetzt werden kann. Andererseits ist diese Wehmut warm und erfüllend, und immer wieder wird der Hörer durch eine poltrige Rumpeligkeit aus der Lethargie geweckt.
Hier ist jeder Ton perfekt inszeniert. Es orgelt, fiept und knarzt durch die Abgründe der Seele; ein klimperndes Barpiano und Saxophon geben Trost und Halt für die Geschundenen dieser Welt. „Bad As Me“ ist eine Katharsis, ist die Antwort auf die zeitlosen Fragen des Seins. Zeitlos, erhaben und in ihrer Kantigkeit vollkommen, wie Tom Waits Musik. „Bad As Me“ ist ein wunderbares Einsteigeralbum für Menschen, die Tom Waits noch nicht für sich entdeckt haben.
Tom Waits: Bad As Me. Anti (Indigo). Homepage; Facebook; Reinhören bei Soundcloud; Video ansehen.
Albanisches Temperament
(TM) Ihr Debüt „Joshua“ begeisterte 2010 die Kritiker ebenso wie das Publikum, nun erscheint mit „Serene“ die zweite Platte der Albanerin Fjoralba Turku. Spätestens beim mitreißenden „Joyfully“ ist man in den Fängen dieser unprätentiösen, aber feinen Jazzstimme, die sowohl in englisch als auch in ihrer Muttersprache singt. Sie hat sich sogar an zwei Texte von Lord Byron gewagt, die sie nun zu Gehör bringt: „There Be None Of Beauty’s Daughters“ und „She Walks In Beauty“.
Aber nicht nur textlich, auch kompositorisch kommt das albanische Temperament erfreulich zum Tragen – wie im schon erwähnten „Joyfully“ und seinem 7/8-Takt. Nicht zuletzt hat Turku eine stilsichere Band um sich geschart, allen voran Songwriter und Arrangeur Paulo Cardoso am Bass, Florian Trübsbach an Saxophon, Klarinette und Flöte sowie Jonas Burgwinkel an den Drums. Beachtlich ist die emotionale Fülle, die „Serene“ bietet: von überbordender Freude bis zur unendlichen Trauer ist alles dabei. Mit Turku könnte sogar der Scat seinen Weg zurück in die deutsche Vocal-Jazz-Szene finden.
Fjoralba Turku: Serene. Traumton Records (Indigo). Zur Homepage.
Auf dem Zenit
(CM) Der Jazz-Impresario George Wein kommentierte Miles Davis‘ Europa-Tournee im Jahre 1967 mit den Worten: „That group was not ahead of its time. They were the time.“ Davis‘ Quintett bestand neben ihm selbst aus Wayne Shorter (Tenorsaxofon), Herbie Hancock (Piano), Ron Carter (Bass), Tony Williams (Schlagzeug) – die Crème de la Crème des amerikanischen Jazz.
Es lag gewiss auch an der Zeit, dass das Miles Davis Quintet auf den bisher unveröffentlichten und sorgfältig restaurierten Liveaufnahmen so experimentell und avantgardistisch klingt: Die ausgehenden sechziger Jahre machten vieles möglich, Rock und Jazz gingen erste Verbindungen ein. Davis freundete sich mit Jimi Hendrix an, und wäre jener nicht so früh verstorben, wer weiß, welche Crossover-Fusion-Sets die beiden gespielt hätten. Die Kombination Davis/Shorter/Carter/Hancock/Williams präsentierte sich anno ’67 dem erfahrungsgemäß offeneren europäischen Publikum in aufmüpfiger Bestform, sowohl Band als auch bemerkenswerte Solisten.
Jazztraditionen sind noch erkennbar, erste Fusion-Elemente halten Einzug. Davis‘ Trompete hüpft und sticht, kümmert sich wenig um Harmonie und Wohlklang. Herbie Hancock und Ron Carter konterkarieren Melodien und Taktschemata, Wayne Shorter und Tony Williams setzen neue Maßstäbe in punkto Tempo und Rhythmus. Stücke wie „’Round Midnight“, „Agitation“ oder „Footprints“ erfahren in jeder Stadt der Tour neue Interpretationen – das Boxset versammelt Konzertmitschnitte aus Kopenhagen, Antwerpen, Paris, Karlsruhe und Stockholm.
Das Quintett überwindet feste Definitionen von Anfang und Ende, ohne den Faden zu verlieren: Davis, Shorter und die anderen sind tight und konzentriert, dabei fantasievoll und spielfreudig. Fürwahr auf dem Zenit ihres Schaffens und ein auch heute noch beeindruckendes Dokument einer Musik, die Genregrenzen aufhob.
Miles Davis Quintet: Live in Europe 1967. The Bootleg Series Vol. 1. Boxset mit 3 CDs + DVD, Booklet mit vielen Fotos. Columbia/Sony. Zur Homepage.
Mehr als nur field recordings
(TM) Der Mekong ist einer der größten Flüsse der Erde. Auf mehr als 4.000 Kilometern Länge, ausgehend von seiner Quelle in den tibetischen Bergen bis hin zu seiner Mündung ins südchinesische Meer in Vietnam, fließt er durch sieben Länder und drei Klimazonen und beherbergt unzählige Arten von Pflanzen und Tieren. Das Duo Merzouga (Eva Pöpplein und Janko Hanushevsky) hat sich, ausgestattet mit Mikrofon und Aufnahmegerät, auf den langen Weg gemacht und den Fluss durch Laos, Kambodscha und Vietnam begleitet.
Dabei entstanden mehr als nur field recordings: die Aufnahmen von tropfendem Wasser, zirpenden Grillen und den Geräuschen der Wasservögel werden zusammengemischt mit elektronisch bearbeiteten Klängen von Hanushevskys E-Bass. Dabei werden die Feldaufnahmen wie musikalische Klangäußerungen behandelt, ihre tonale und rhythmische Qualität ausgelotet. „Mekong Morning Glory“ erhält so eine Qualität, die weit über einen dokumentarischen Versuch hinausreicht.
Merzouga: Mekong Morning Glory. Gruenrekorder. Zur Homepage.
Spannend, lustig…
(CM) Schon wieder The Cure? Hatten wir die nicht gerade erst? Jaja, stimmt, aber Mitte Dezember lag Frau Mohr noch nicht „The Cure Classic Album Collection“ vor. In diesem Boxset befinden sich nämlich die ersten fünf Cure-Alben aus den Jahren 1979 bis 1984, der unbestreitbar wichtigsten Schaffensperiode von Robert Smith und seinen schon damals häufig wechselnden Mitmusikern.
Die erste Cure-Platte „Three Imaginary Boys“ von 1979 inspirierte den Melody Maker zur Headline „The Eighties start here“ – dreizehn knackig-kurze Postpunk-Wave-Tracks, die selbstbewusst zwischen den 1970ern und -80ern hin- und herbouncen, Hits wie „Fire In Cairo“ und „10:15 Saturday Night“, urbane Gruselschocker wie „Subway Song“. Auf dem 1980 erschienenen „Seventeen Seconds“ zeichnet sich Smiths prägnante Handschrift immer deutlicher ab, die Band klingt insgesamt mehr „jangly“.
Auf „Faith“ von 1981 machen sich zum ersten Mal Depressionen und eine dunkle Grundstimmung bemerkbar, Titel wie „The Funeral Party“ und „Other Voices“ sprechen Bände. Tourstress, Drogenmissbrauch, persönliche Streitigkeiten und allgemeiner Überdruss finden ihren Höhepunkt auf „Pornography“, der einzigartig deprimierenden, kalten und todesschwarzen Platte von 1982 – einem Jahr, das ansonsten für lebensfrohen Pop à la Adam and the Ants, Bananarama oder ABC stand.
The Cure versanken im Leid, Smith lamentierte „It doesn´t matter if we all die“ („One Hundred Years“). 1983 hatten The Cure bzw. Robert Smith genug von all der Schwere und Schwärze und veröffentlichten tanzbare Singles wie „The Love Cats“, „The Walk“ und „Let´s Go To Bed“, die auf der EP „Japanese Whispers“ erscheinen, die nicht zum Boxset gehört.
1984 eröffnen The Cure mit „The Top“ ihre experimentelle Phase: arabische Elemente, Psychedelic, Prog-, Jazz- und Postrock lassen sich in Songs wie „The Birdmad Girl“, „Piggy In The Mirror“ und dem verspielten Hit „The Caterpillar“ ausmachen. Spannend, lustig – und die großen Zeiten von The Cure sollten ja erst noch kommen…
The Cure: Classic Album Collection (1979 – 1984). Boxset mit fünf CDs. Polydor/Fiction (Universal). Enthaltene Alben: „Three Imaginary Boys“, „Seventeen Seconds“, „Faith“, „Pornography“, „The Top“. Zur Homepage.