Neue Platten von Tonia Reeh, dEUS, WATERS, Erdmöbel, Laura Marling und The Duke Spirit, gehört von Janine Andert (JA), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (CM).
AufrührerInnentum
(CM) Unter ihrem Künstlernamen Monotekktoni zelebriert die Berliner Musikerin Tonia Reeh brachialen, experimentellen Lärm aus verzerrten Elektroniksounds und sloganhaften Texten. Auf ihrem aktuellen Album firmiert Tonia Reeh als Tonia Reeh – und macht schon durch die Namenswahl deutlich, dass „Boykiller“ ganz anders klingt als Monotekktonis Musik. Reeh arbeitet auf ihren elf neuen Stücken fast ausschließlich mit Klavier und Stimme, und doch ist „Boykiller“ von fragilen Singer-/Songwriterinnenklängen meilenweit entfernt. Denn ob Monotekktoni oder Tonia Reeh, die charakteristische Mischung aus Emotionalität, Intensität, AufrührerInnentum und Dekonstruktionswillen bleibt dieselbe. Für „Boykiller“ greift Tonia Reeh auf ihre klassische Klavier- und Gesangsausbildung zurück, rückt ihre voluminöse Opernstimme und ihr kompositorisches Können in den Mittelpunkt.
Die Songstrukturen sind so komplex wie eingängig, die Lyrics mehr als verstörend: wo Monotekktoni mit den gesellschaftlichen Verhältnissen abrechnet, bohrt Tonia Reeh eher im Privat-Persönlichen. Weh tut es immer: „Please hand me the dynamite, there´s a lot to do outside“ heißt es bei Monotekktoni, Tonia Reeh singt: „Your dick is not dignified, so I can cut it off“ („Happy Knife“). Auch wenn Tonia betont, man solle alles, was sie sagt und singt, nicht so ernst nehmen, ist es „Boykiller“ ganz besonders zu gönnen, dass genau hingehört wird.
Tonia Reeh: Boykiller. Cloudshill. Zur Homepage.
Genreüberschreitungen
(JA) Selbstredend wiederholen sich dEUS nicht. Überraschend ist eher die Gefälligkeit von „Keep You Close“. Oder auch nicht. Immerhin dreht sich das Personalkarussell der Belgier schon länger nicht mehr – einst Bedingung für durch Reibung evozierten Ideenreichtum. Beim aktuellen Langspieler gab der bekennende Kontrollfreak Tom Barmann, Kopf von dEUS, sogar das Zepter aus der Hand, um die Songs mit der Band zusammen zu entwickeln. Um die Vielschichtigkeit der dichten Kompositionen würdigen zu können, empfiehlt sich unbedingt der Gebrauch von Kopfhörern. Wuchtig inszeniert das Quintett teils überwältigende Oberburner, die kurz bevor der Zenit überschritten ist, zurückgenommen und durch lässige Down-Tempo-Nummern abgelöst werden.
Der Einstieg ins Album ist schon extrem pathetisch, und einem entfährt bei all den orchestralen Streichern ein kleines Grinsen, wenn man liest, dass David Botrill (MUSE, Tool) für die Produktion der Scheibe verantwortlich ist. Dennoch zu keiner Zeit kitschig oder abgedroschen stehen dEUS auch nach fast zwanzigjähriger Bandgeschichte für entgrenzte Genreüberschreitungen, die auf „Keep You Close“ in fesselnde Melodien transformiert werden. Das Album ist von erhabener Schönheit mit versteckten kleinen Widerhaken, die es braucht, um nicht uninteressant zu klingen. Als Gastsänger durfte sich Greg Dulli von den Twilight Singers betätigen – eine Ehre für den bekennenden dEUS-Verehrer.
dEUS: Keep You Close. Play It Again Sam (Rough Trade). Zur Homepage und Facebook.
Befreiungsschlag
(JA) Wer hätte gedacht, dass Ex-Frontmann Van Pierszalowski nach der Auflösung von Port O’Brien ein Bekenntnis zum Rock hinlegt? Mit seiner neuen Band WATERS setzt er uns zehn gut produzierte Songs auf die Ohren und weiß mit Hitpotential und überraschenden Details zu punkten. „Out In The Light“ klingt schon nach dem ersten Hören wie ein moderner Klassiker. Wen wundert’s, wenn hier der Charme 90er-Indie-Classics wie Sebadoh oder Dinosaur JR auf 70er- und 80er-Rock-Giganten trifft. Knarzig wird auf den Gitarren geschrammelt. Die Stimme hat Weite und Tiefe. Auf den Punkt wird immer im richtigen Moment an den passenden Schrauben gedreht. Mitunter ist das schon fast zu perfekt und irgendwie auch vorhersehbar. Aber gleichzeitig einfach nur schön.
Nach Todesfall und Beziehungskrise in der Port-O’Brien-Vergangenheit ist „Out In The Light“ ein Befreiungsschlag, der nicht aufarbeitet, sondern neu ansetzt. Unbedingt hörenswert. Besonders, weil sich der Sog des Albums erst nach dem vierten Durchlauf so richtig entfaltet. Dann kann es aber in Endlosschleife abgespielt werden, ohne der Musik überdrüssig zu werden.
WATERS: Out In The Light. City Slang (Universal). Zur Homepage, Facebook und Albumstream.
Wort? Mehr Akkord.
(TM) Erdmöbel, diese Band, die mit wenigen Worten ganz spezielle und dennoch ganz allgemeine Geschichten erzählen kann, ist jetzt schon 16 Jahre unterwegs, 15 (!) Alben sind in dieser Zeit entstanden. Es wird also Zeit, dieses deutsche Pop-Phänomen entsprechend zu würdigen, und wie ginge das besser als mit einem sehr viele dieser schönen Geschichten zusammenfassenden Best-of-Album. Zwischen Bossa-Nova-Beats, Lounge-Musik, französischem Chanson und Westdeutschcoast-Pop bewegen sich die Songs dieses Quartetts, dazu die entrückten Texte von Markus Berges, einem der begabtesten Poeten dieses Landes.
Und so hört man beglückt immer wieder Lieder wie „Busfahrt“, dieses Liebeslied von Gnaden, oder das „Lied über gar nichts“, das laut Text „fällt und verglüht“ wie „ein kaputter Satellit“, das aber in Wirklichkeit immer weiter kreist im Kopf, auch wenn sich der Player längst ausgeschaltet hat. Berges‘ Texte sind selbst Instrumente, so lautmalerisch wie sie gebaut sind, aber das merkt man erst, wenn man sich länger mit dieser unheimlich musikalischen Band beschäftigt, und das kann und sollte man anhand der „Retrospektive“ doch jetzt wirklich mal wieder tun.
Erdmöbel: Retrospektive. Edel. Zur Homepage.
Bewundernswert
(CM) Kaum eine Besprechung über Laura Marling kommt ohne die Erwähnung ihres Alters aus: die Britin ist jetzt ganze 21 Jahre alt, als sie die Band Noah and The Whale mitbegründete, war sie erst 16. Mit ihren Soloalben „Alas, I Cannot Swim“ und „I Speak Because I Can“ erspielte sie sich eine große Fangemeinde und gilt seither als Wunderkind, begabte Erneuerin und große Hoffnung des Singer-/Songwriterfolks. Auf ihrer neuen Platte „A Creature I Don´t Know“ macht Marling alles richtig: sie packt mit den zehn Songs das Album nicht zu voll, so dass kein Stück auf der Strecke bleibt. Marling hat ihr Talent fürs Storytelling entdeckt und unterfüttert ihre Geschichten mit spanischen Gitarren, irischen Fiddles, Banjos und Trauermarsch-Trompeten, mal dreckig-bluesig, mal eher countryesk oder psychedelisch angehaucht. Sie ist mutig genug, um neue Wege abseits ausgetretener Pfade zu gehen, bleibt aber zugänglich.
„Sophia“ zum Beispiel beginnt mit einem langen Violinintro, um sich dann zu einem jubilierend-fröhlichen Gospelsong zu entwickeln, den man sich sehr gut im Radio vorstellen kann. Die Country-Ballade „Salinas“ steigert sich vom einsamen Saloon-Einsamkeitslamento zum druckvollen Roadtrack; in „All My Rage“ leistet sich Marling gar einen Ausflug ins heikle Irish Folk-Genre, das sie von jeglicher whiskyseligen Rotnasigkeit befreit. Im zentralen „The Beast“, das in seiner unheimlichen Intensität an Nick Caves düstere Bluesmoratorien erinnert, zieht Marling alle Register ihrer Gesangskunst, sie knurrt und grollt und klingt im nächsten Vers so engelsgleich und klar wie sie auch aussieht. Als HörerIn bleibt einem nur, staunend zu verfolgen, wie Laura Marling punktgenau Stimmungen abruft und perfekt intoniert. Man bewundert sie, ist mit dem Herzen aber anderswo.
Laura Marling: A Creature I Don´t Know. Cooperative (Universal). Zur Homepage.
Geradlinig
(JA) Sexy, gierig und voller Leben stellen sich The Duke Spirit dem Herbst entgegen. Unbestritten wird „Bruiser“ die Tanzflächen der Clubs erobern. Die Stimme von Frontfrau Liela Moss geht durch Mark und Knochen. Der Bass fegt wie ein Donnerhall durchs Blut. Die Drums sind der Herzschlag des Teufels und die Gitarren spucken der Welt ins Gesicht. Rotzig, auf die Zwölf zeigen die Briten der Welt, was dreckiger Rock ist. Weil Rocker bekanntlich einen weichen Kern haben, dürfen die obligatorischen Balladen nicht fehlen. Aber selbst Stücke wie „Villain“ wummern, was das Zeug hält. Liela Moss besingt mal zerbrechlich, mal wütend die Höhen und Tiefen der Liebe.
Auch sonst bleiben The Duke Spirit sich treu. Was bei anderen Musikern als Stagnation wahrgenommen wird, muss hier beklatscht werden. Besonders weil das dritte Album mindestens genauso viel Feuer hat wie das erste, wenn nicht sogar mehr. Reduktion ist das Zauberwort. Ein paar Noise-Elemente und schnörkliger Schnickschnack mussten einer neu gewonnenen Geradlinigkeit weichen. The Duke Spirit dulden in ihrer musikalischen Entwicklung keine Zäsuren, sondern verdichten die Essenz ihrer selbst von Album zu Album. Was uns bei dem dämonischen Sound bloß in Zukunft erwarten mag?
The Duke Spirit: Bruiser. Fiction/Cooperative Music. Zu Homepage und Facebook.