Geschrieben am 12. Juni 2011 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue (und wiederveröffentlichte) Platten von Tuxedomoon, Josef & Erika, Jessica 6, Danja Atari, Sound of Rum, Scott Matthew, Battles und Hans-Joachim Roedelius, gehört von Thomas Backs (TB), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (CM).

http://media2.libri.de/shop/coverscans/149/14929963_14929963_xl.jpgWerdegang

Kaum eine andere Band nutzte die musikalische Freiheit der Postpunk-Ära so sehr wie Tuxedomoon aus San Francisco, oder anders gesagt: Tuxedomoon machten vor, wie frei und wagemutig Musik nach der Punk-Explosion sein konnte. 1977 von Blaine L. Reininger und Steven Brown, damals Studenten der elektronischen Musik, gegründet, avancierten Tuxedomoon schnell zu Lieblingen der Popkultur. Andy Warhol featurete sie in seinem Magazin Interview, Devo nahmen Tuxedomoon mit auf Tournee, ihre ersten Alben erschienen auf Ralph Records, dem Label der Residents. Mit der EP „No Tears“ gelang Tuxedomoon 1978 ein Hit, der bis heute in allen Wave-Discos der Welt gespielt wird.

„No Tears“ ist aber gar nicht mal besonders typisch für Tuxedomoon, die sich zwar durchaus der kühlen, eckigen New Wave-Ästhetik bedienten, aber auch mit Kraut-, Art- und Psychedelikrock und Jazz experimentierten. Tuxedomoon konnten eiskalt und gleichzeitig schwülheiß klingen, Saxofon und Trompete waren für den Sound mindestens so wichtig wie die Gitarren. Aber warum reden wir nur von der Vergangenheit? Tuxedomoon existieren noch, 2007 erschien das Album „Vapour Trains“, mit dem die Band erfolgreich um die Welt tourte. Für die nächsten Monate sind eine neue Platte plus Tour geplant.

Die CD/DVD-Kopplung „Unearthed“ war ursprünglich Bestandteil der inzwischen vergriffenen Box „7707“, die Tuxedomoons europäisches Label Crammed Discs anlässlich seines 30-jährigen Bestehens herausgab.Jetzt gibt es „Unearthed“ wieder zu kaufen – eine lohnende Anschaffung. Im Unterschied zu anderen „Rare Tracks“-Samplern gibt es auf „Unearthed“ nämlich keinen zu Recht bisher unveröffentlichten Kram, sondern wirklich gute Live- und Demoaufnahmen, die den Werdegang der Band ebenso wie ihre exorbitante Qualität von Anfang an aufzeigen. Die beigelegte DVD „Found Films“ enthält seltene Videos, und ja, auch eins zu „No Tears“. (CM)

Tuxedomoon: Unearthed (CD + DVD). Crammed (Indigo). Die Band auf Myspace sowie bei Facebook. Die Website der Künstler.

Josef & Erika: FloodsMelancholische Welt

Was zuerst klingt wie ein Volksmusik-Duo, sind zwei Musiker aus Schweden, die in ihrer Heimat bereits zwei beachtete Alben herausgebracht haben. Das zweite namens „Small small small small sounds“ war sogar für den schwedischen Grammy nominiert. Jetzt kommt mit „Floods“ das dritte, das diesmal hoffentlich auch hierzulande einschlägt, denn Josef Kallerdahl und Erika Angell (die nicht umsonst fast so heißt wie der englische Engel – diese Stimme!) haben ihr Repertoire aus Satzgesang und traditionell arrangierten Melodien erweitert um die Blasinstrumente Flügelhorn (gespielt von Emil Strandberg), Almhorn (Ayman Al Fakir) und Tuba (Sami Al Fakir). Das, zusammen mit Josefs Bass und Erikas Orgel- und Zitherspiel, gibt ihren entrückten Folksongs eine beeindruckende emotionale Tiefe. „Blow Life In My Soul“ zieht einen sogleich hinein in diese melancholische Welt. Ein weiterer Höhepunkt dieser an Glanzlichtern nicht armen Platte ist „Unpack Your Heart“, eine dunkle Moritat, bei der auch Kallerdahl sein stimmliches Können zeigt. (TM)

Josef & Erika: Floods. HOOB Records (Broken Silence). Die Homepage (auf Schwedisch, aber Teile auch auf Englisch) des Duos. Die Künstler auf Myspace.

Jessica 6: See The LightStrahlende Zukunft

Ob Ex-Hercules-&-Love-Affair-Sängerin Nomi Ruiz an das von Prince kreierte Trio Vanity 6 dachte, als sie ihr Soloprojekt Jessica 6 aus der Taufe hob, wissen wir nicht, aber die divenhafte Anmutung aller Genannten könnte ein Hinweis auf die mögliche Absicht sein. Jessica 6′ Album „See The Light“ zitiert viele Phasen der Dancemusic, von Chicago House über Paradise Garage-Disco, europäisch geprägten Elektropop und R’n’B, aber Nomi und ihre Begleiter (Andrew Raposo/Bass, Morgan Wiley/Keyboards) machen so viel mehr als tanzbare Clubgrooves aneinanderzureihen: Wie in der New Yorker Keimzelle Hercules & Love Affair geht es bei Jessica 6 um Begehren, Freude, Vergänglichkeit, Unendlichkeit, das Leben überhaupt. Nomis honigdicke, enigmatische Soulköniginnenstimme (singt hier ein Mann, eine Frau? Alt oder jung?) gibt den Songs Tiefe, macht todtraurig und herzüberströmend glücklich zugleich.

Ja klar, „White Horse“ und „Fun Girl“ sind in erster Linie Dancetracks, die mit pulsenden Beats jede Party auf Vordermann bringen. Den – gar nicht sooo kontrapunktischen Gegenpol – liefern die Midtempoballaden „Champagne Bubbles“ und „Blessed Mother“, nicht zu vergessen „Prisoner Of Love“, der Höhepunkt des Albums, in dem sich die Stimmen von Nomi Ruiz und Antony Hegarty zu einer transsexuellen, überirdischen, beseelten Feier der Liebe vereinen. „See The Light“ ist hemmungslos nostalgisch und weist mit ausgestrecktem Finger in eine strahlende Zukunft – kein Widerspruch, sondern das Verdienst von Jessica 6. (CM)

Jessica 6: See The Light. Peacefrog (Rough Trade). Die Künstlerin auf Myspace und bei Facebook sowie die Website von Jessica 6..

Danja Atari: At The Back Of Beyond She Found An ArtichokeJede Menge Einflüsse

Nein, Danja Atari ist nicht die Schwester von Ira Atari – aber wenn man bürgerlich Danja Mathari heißt, liegt es nur allzu nahe, „Atari“ als Künstlernamen zu wählen. Verwechslungsgefahr besteht schon ein bisschen, schließlich bespielen beide Atari-Ladies das weite Feld elektronischer Clubmusik.

Allerdings operiert Ira Atari im Techno-Sektor, Danja Atari kombiniert viele Stile zu ihrem ganz persönlichen Mix. Geboren in Berlin als Tochter tunesisch-französisch-deutscher Eltern, aufgewachsen im Ruhrgebiet und als Künstlerin im Electro-HipHop-Kollektiv Tengu Basement verortet, vereint Frau Mathari schon von vornherein jede Menge verschiedener Einflüsse in sich. Musikalisch lässt sie sich erst recht nicht festlegen: Rap, Chanson, Achtzigerjahre-Pop und US-amerikanisch geprägter R’n’B, französische und englische Lyrics – woraus schnell konturloser Kuddelmuddel entstehen könnte, macht Danja Atari zu einem ziemlich tollen Album.

Der Opener „97“ und das Duett mit Labelkollege Sola Plexus „Golden Shoes“ sind klare Dancefloor-Magneten, unruhige Jungle- und Drum’n’Bass-Rhythmen gibt’s bei „Something“, schroffen Berlin-Style-Elektro auf „La vie est belle“. Die Ballade „Soeurette“ ist verzichtbar, Danja Atari wollte neben dem Bewegungsprogramm offenbar auch was fürs Herz bieten, na gut. Bei „Trying Goodbye“ bilden verschleppte Knarzbeats einen schönen Kontrast zu Ataris mädchenhaft heller Stimme – ein Effekt, der manchmal ein bisschen überstrapaziert wird, zum Beispiel auch beim House-inspirierten Popsong „Sans Ailes“. Andererseits: kann man mit einer Stimme wie Vanessa Paradis wirklich etwas falsch machen? Nein, kann man nicht. (CM)

Danja Atari: At The Back Of Beyond She Found An Artichoke. Z-Muzic (Broken Silence). Die Homepage der Künstlerin. Danja Atari auf Myspace und bei Facebook.

Sound of Rum: BalanceJenseits ausgetretener Pfade

In der von Männern bevölkerten Welt des Hip-Hop ist Kate Tempest eine echte Ausnahme. Sie als kleine Schwester des großen Mike Skinner zu bezeichnen klingt vielleicht etwas despektierlich, könnte aber hinkommen. Denn was Tempest (think of Shakespeare!) zusammen mit Archie Marsh an der Gitarre und dem Schlagzeuger Ferry Lawrenson als Sound of Rum mit ihrem Debütalbum vorlegt, lässt auf eine große Zukunft hoffen.

Anker der Platte sind Songs wie das eröffnende „Rumba“ mit seinen Jazzbeats, über die Tempest ihre peitschenhiebharten Rhymes ausspuckt, oder das titelgebende „Balance“, eine textlich anspruchsvolle Geschichte rund um die Freunde talent, ambition, envy und pride, die sich im besten Fall zu einem gelungenen Künstlerleben ergänzen. „Ed Would Be“ spottet sehr unterhaltsam über Tendenzen in der Hip-Hop-Szene, die eigene realness allein durch die richtige Wahl des Klamottenlabels zu untermauern, dabei aber die skills zu vernachlässigen. Bereits jetzt von einer sehr loyalen Fangemeinschaft begleitet, dürften Sound of Rum auch in Zukunft noch für Überraschungen jenseits der ausgetretenen Hip-Hop-Pfade sorgen. (TM)

Sound of Rum: Balance. Sunday Best Recordings/PIAS (Rough Trade). Die Website des Trios. Sound of Rum bei Facebook sowie auf Myspace.

Scott Matthew: Gallantry`s Favorite SonHoffnungsschimmer

Es sind wirklich gute Zeiten für Singer/Songwriter, amerikanischen Folk und akustische Gitarren. Auch der Exil-Australier Scott Matthew schickt sich nun an, mit seinem dritten Album „Gallantry`s Favorite Son“ ein größeres Publikum zu erreichen. Der bärtige New Yorker mit der gar nicht so bärtigen Stimme und den traurigen Liedern verabschiedet auch hier mit Songs wie „Sinking“ und „True Sting“ („It`s taken this song to expel the dirt“) vergangene Liebschaften.

Zusammen mit Produzent/ Percussionist Mike Skinner (nein) und Musikern wie Clara Kennedy (Cello) und Eugene Lemcio (Piano) kann er auf Album Nummer 3 zum Glück aber auch fröhlicher, beschwingter. Das pfeifende Ständchen „Felicity“ und die harmonischen Gesänge von „The Wonder Of Falling in Love“ etwa versprühen eine Hoffnung und Zuversicht, die „Gallantry`s Favorite Son“ komplettieren. Und eben zu einem richtig guten, facettenreichen Longplayer machen. Live zu hören waren die Songs gerade bei einer kurzen Stippvisite. Eine ausgedehnte Europatournee soll im September und Oktober 2011 folgen. (TB)

Scott Matthew: Gallantry`s Favorite Son. Glitterhouse (Indigo). Die Website des Künstlers. Scott Matthew auf Myspace und bei Facebook.

Battles: Gloss DropExperimentierfreudig

Wow, was für ein Album! Dabei stand „Gloss Drop“, zweite Platte der amerikanischen Avantgarde-Rocker Battles unter keinem guten Stern: mitten in den Aufnahmen verließ Gitarrist und Sänger Tyondai Braxton die Band, weil er sich der anstehenden Ochsentour aus Promotion und Tournee nicht gewachsen fühlte. „Gloss Drop“ hätte also auch unfertig in der Schublade verschwinden können, Braxtons Ex-Kollegen aber krempelten die Ärmel hoch und machten das Beste aus der Situation – und das Beste aus dem Album.

„Mirrored“, Battles‘ Debüt bei Warp Records, rüttelte vor vier Jahren Fans und Kritiker gehörig durch, „Gloss Drop“ setzt noch einen obendrauf. Die Schrumpfung zum Trio macht Battles konzentrierter und experimentierfreudiger zugleich. Im Opener „Africastle“ durchwebt die Band krautiges Gedaddel mit afrikanischen Rhythmen; Hardcore, Postrock, Math Rock (was immer das ist – Battles verwenden diesen Begriff), Techno, Classic Rock und minimalistische Elektrosounds bilden faszinierende Symbiosen und Kontrapunkte, die manchmal so klingen, als hätten sich Tortoise zu einer Session mit Helmet getroffen.

Wobei der Vergleich mit Helmet durchaus nahe liegt: Battles-Schlagzeuger John Stanier begann seine Karriere in ebendieser Band. Vielleicht ist es ohnehin Staniers Vielseitigkeit zu verdanken, dass Battles so radikal wie unbeschwert sind: Als DJ mixt John Stanier Techno, Jazz, Hardcore und Disco, zudem ist er Mitglied von Mike Pattons All-Star-Band Tomahawk. Dass Stanier von Sun Ra getauft worden sein soll, vervollständigt das Bild.

Zurück zu „Gloss Drop“: unüblich für eine Rockband (aber was ist bei Battles schon üblich) ist der Einsatz von Gastsängern, Battles machen genau das. Gary Numans Stimme (ja, der Gary Numan mit „Cars“) ertönt zu den Tribalbeats von „My Machines“, Kazu Makino von Blonde Redhead singt auf dem erstaunlich gefälligen und tanzbaren „Sweetie & Shag“, Minimal-Techno-Spezialist Matias Aguayo ist auf „Ice Cream“ zu hören, Yamantaka Eye, Shouter der japanischen Extrempunk-Combo Boredoms mc’t beim Space-Schamanismus-Track „Sundome“. „Gloss Drop“ ist komplex, anstrengend, fordernd, kühn und glorios – eine der besten Platten 2011 so far. (CM)

Battles: Gloss Drop. Warp (Rough Trade). Die Band bei Facebook und auf Myspace sowie die Website von Battles.Weitere Infos gibt es hier.

Hans-Joachim Roedelius: Momenti FeliciNeue Re-Releases von Hans-Joachim Roedelius

Das Label Bureau B bringt auch in diesem Jahr wieder zahlreiche ältere Alben von Hans-Joachim Roedelius als Re-Release heraus. Im Mai erschien „Momenti Felici“, erstmals veröffentlicht im Jahr 1987 bei Venture. Roedelius hatte sich seit Beginn der 80er-Jahre immer mehr von der mit Kluster/Cluster zur Blüte gebrachten Elektronik entfernt und experimentierte mit akustischen, sehr organischen Klängen. Die durch nichts zu zügelnde Fantasie Roedelius‘, der er immer und unter allen Umständen nachgab, bewahrte ihn vor dem Formalismus eines Eric Satie (den er trotz allem sehr bewundern dürfte).

Alles ist im Universum dieser Klänge erlaubt, solange man es ertasten kann im wahrsten Sinne des Wortes. Der Hinweis auf Roedelius‘ Ausbildung zum Physiotherapeuten, in der er das Erspüren und Heilen mit den Händen erlernt hatte, ist da tatsächlich hilfreich. Nur mit solch einem Gespür erfindet man Stücke wie „aufwachen“, bei dem schon beim ersten Hören weiß, dass es so heißen muss – ungebremster Optimismus ist da zu hören und das Zwitschern der Vögel zwischen den Zweigen. Hin und wieder ergänzt das Saxophonspiel von Alexander Czjzek das Klavier. Die Neuveröffentlichung enthält mit „vor Ohren“ und „Molldau“ zwei bisher unveröffentlichte Stücke.

Hans-Joachim Roedelius: Piano PianoGerade eben erschienen ist außerdem „Piano Piano“, erstveröffentlicht 1991 auf dem italienischen Label Materiali Sonori. Auch hier sagt der Name viel: Piano piano, also pianissimo, sehr leise geht es zu auf diesem Album. Ausladende Stücke wie „Die Gunst der Stunde“ oder „In der Dämmerung“ werden konstrastiert durch Miniaturen wie das scheinbar simple und naive wie geniale „Einfach so“. Hier erforscht ein Musiker sein Instrument ohne intellektuelle Beschränkungen, und wir dürfen ihm dabei zuhören – noch immer faszinierend. (TM)

Hans-Joachim Roedelius: Momenti Felici; Piano Piano. Beide Bureau B (Indigo).
Die Website des Musikers. Hans-Joachim Roedelius auf Myspace sowie bei Facebook.