Neue Platten von Hanna Hartman, Itchy Poopzkid, Julia Hülsmann Trio und Wolfram, gehört von Jörg von Bilavsky (JvB), Tina Manske (TM) und Thomas Wörtche (TW).
Hyperrealität
Die in Berlin lebende schwedische Klangkünstlerin und Komponistin Hanna Hartman folgt einem strengen Konzept: alle ihre Werke basieren auf sogenannten ‚authentischen‘ Sounds, also Feldaufnahmen, die sie auf ihren Reisen an die verschiedenste Orte dieser Welt aufgenommen hat. Indem sie diese Sounds ihrem Umfeld entreißt und in einen neuen Zusammenhang stellt (und durchaus auch produktionstechnisch verändert – es geht hier nicht um ‚Natürlichkeit‘), kreiert sie faszinierende Klangkunst, kreiert etwas, das es vorher noch nicht gab. Bestes und aufs erste Hören nachhaltig verstörenstes Beispiel auf ihrem neuen Album „h^2“ ist der Track „Circling Blue“, der das Geräusch eines seine Runden drehenden Formel-Eins-Fahrzeugs mit dem Gesang einer Operndiva kurzschließt. Dabei entsteht ein fantastisches Hörerlebnis, das endlich einmal tatsächlich diesen Namen verdient und dabei auch noch extrem ironisch und witzig ist. Aber auch das Tschirpen der Schwalben im Sommer bekommt bei Hartman eine Qualität, die über reines Berührtsein weit hinausgeht. Nach dem Hören von „h^2“ und all den anderen Hartman-Werken hört man seine gesamte Umwelt mit anderen, mit aufmerksameren Ohren. Wie der Performance-Künstler Genesis P-Orridge bereits (so oder so ähnlich) sagte: alle Realität ist letztlich nur Rohmaterial. P-Orridge dürfte ein großer Fan von Hanna Hartman sein, denn sie macht das Beste aus solchen Realitäten – Hyperrealität. (TM)
Hanna Hartman: h^2. Escudre (Komplott). Die Website von Hanna Hartmann und die Künstlerin bei Facebook.
Meer Lärm
Wer wissen möchte, was Walen und Delfine mächtig auf den Gehörgang schlägt, der zappe einfach mal in das Video „Why Still Bother“. Gut, dass die die lautstarke Rocknummer der Itchy Poopzkid an den hörempfindlichen Meeresbewohnern vorbeirauscht. Die Bewohner an Land jedoch werden nicht verschont, sie müssen – Unsinn – natürlich dürfen sie dem punkigen Protestsong der engagierten Walschützer lauschen. Mit Lärm gegen den Lärm lautet die scheinbar paradoxe Devise. Nur dass ihr „Lärm“ niemanden stört, sondern seit über zehn Jahren immer mehr Hörer anlockt.
Gern lässt man sich von den drei Schwaben zudröhnen, halten sie doch wie die Punkrocker von Green Day geschickt die Balance zwischen energiegeladenem Gitarrenrock und unterschwelligen Melodielinien. So auch auf ihrem neustem Album, das mit Songs wie „Mute Somebody“ auch dem ein oder anderen Metal-Fan gefallen dürfte und mit einem Stück wie „It’s Tricky“ auch Hip-Hoppern etwas zu sagen hat. Mit Ausnahme des britpoppigen „Where Is The Happiness“ gelingt ihnen mit fast allen anderen Tracks der kunstvolle Spagat zwischen Rock, Pop und Punk. Sei es das zugleich rasante wie ausbremsende „It’s Definitely Be Great, Hopefully“, das lässig-beschwingte „Down, Down, Down“ oder das pophymnische „Away From Here“: Itchy Poopzkid werden vielen Geschmäckern gerecht, ohne sich anzubiedern oder andere Stile einfach zu adaptieren. Langweilig wird’s mit ihrer Musik jedenfalls nie, dafür aber immer laut. Getreu dem Motto einer früheren Single: “Silence Is Killing Me“. Nur lasst das niemals die Wale hören. (JvB)
Itychy Poopzkid: Lights Out London. Findaway Records (Alive). Die Website der Band. Itychy Poopzkid bei Facebook und auf Myspace.
Spektakulär unspektakulär
Keine großen dynamischen Ausschläge, höchste Präzision, konzentrierte Interaktion, bewährtes, aber immer prekäres Format – Piano, Bass, Schlagzeug -, keine besonders akzentuierten „Genres“ wie hardbop, cool oder sonst dergleichen. Ruhiger Flow, kaum Standardmaterial, sondern Eigenkompositionen der Bandmitglieder (nur „Kauf dir einen bunten Luftballon“ von Anton Profes/Aldo Pinelli ist auch nicht wirklich ein Standard). Selbstverständliche Virtuosität ohne virtuoses Showgehabe. Kreatives Kalkül ohne genialische Pose, Sensibilität ohne Sentiment, analytisches Angehen des Materials. Kühle und kluge Musik ohne Gefühligkeiten. Deswegen aber mit hohem ästhetischen Reiz. Spektakulär unspektakulär: Julia Hülsmann (p), Marc Muellbauer (b), Heinrich Köbberlin (dr). (TW)
Julia Hülsmann Trio: Imprint. ECM. Die Homepage von Julia Hülsmann. Die Band auf Myspace.
Vokalmatador
Jetzt ist es also soweit. Nachdem ein ganzes Jahrzehnt im 1980er-Jahre-Revival aufging, sind jetzt die 1990er dran. Hercules & Love Affair haben mit ihrem diesjährigen Knaller „Blue Songs“ ja schon einen Meilenstein gesetzt, MUNK schickte uns alle in die Italo-Disco, nun kommt der Österreicher Wolfram (auch bekannt unter seinem Pseudonym Diskokaine) mit seinem selbstbetitelten Debütalbum und schlägt weitere Schneisen ins Dickicht der nineties. Da ist alles dabei, von Euro-Dance bis hin zu Plasktiktechno. Und natürlich viele, viele Vocals, wie es sich gehört. Die Liste der Kollaborateure, die sich Wolfram ins Studio geholt hat, ist beachtlich: allen voran Andrew Butler und Kim Ann von den bereits erwähnten Hercules & Love Affair, die die Single „Fireworks“ veredeln, über – man höre und staune – Haddaway himself, der mit seinem Hit „What Is Love?“ anno 1993 sogar meine Mutter betörte und dem man immer noch jede Menge Soul unterstellen muss, bis hin zur Schwulenikone Paul Parker, dessen „Right On Target“ im Jahr 1982 ein großer Hit war. Wolfram ist aber kein stuller Retrofizierer, sondern zeigt uns, welches Potenzial noch immer in diesem Sound steckt und wie er nach wie vor die Hitparaden beherrscht – zum Beispiel verklausuliert in Tracks von Lady Gaga & Co. (TM)
Wolfram: dito. Permanent Vacation (Groove Attack). Der Künstler auf Myspace.