Geschrieben am 15. April 2015 von für Musikmag

Billie Holiday: Autobiographie und Best Of

holiday buchEssenziell, ohne Diskussion.

„Man hat mir gesagt, dass niemand das Wort Hunger so singt wie ich. Genauso das Wort Liebe. Vielleicht liegt das daran, dass ich weiß, was diese Worte bedeuten. Vielleicht liegt das daran, dass ich stolz genug bin, mich an all das erinnern zu wollen, an Baltimore und Welfare Island, das katholische Heim und das Jefferson-Gericht, an den Sheriff vor unserm Haus in Harlem und die Städte in ganz Amerika, wo ich meine Beulen und Narben abbekommen habe, Philadelphia und Alderson, Hollywood und San Francisco, an jede Kleinigkeit. Alle Cadillacs und Nerze der Welt und ich hatte von beiden schon einige können das nicht aufwiegen oder vergessen machen. Alles was ich je von den Menschen gelernt habe, liegt in diesen beiden Worten. Zuerst braucht man etwas zu essen und ein bisschen Liebe, bevor man sich die Predigt von irgendjemandem über richtiges Verhalten anhören kann. Alles, was ich bin und was ich vom Leben will, sagen diese beiden Wörter.“ (Billie Holiday, aus ihrer Autobiografie „Lady Sings the Blues“).

Billie Holiday, eigentlich Elinore Harris oder Eleanora Fagan – so genau weiß man das nicht, denn über ihre Kindheit in Baltimore existieren widersprüchliche Angaben – wäre am 7. April dieses Jahres 100 Jahre alt geworden. Ein Alter, das auch die Gesündesten nur selten erreichen, und Lady Day, nein, sie führte wahrlich kein „gesundes“ Leben. 1959, mit nur 44 Jahren starb sie in unwürdigen Umständen: Polizisten standen um ihr Krankenhausbett, um sie wegen Drogenbesitzes festzunehmen, um ihre Beine hatte sie sich Dollarnoten geklebt, weil sie nicht mittellos ins Gefängnis einrücken wollte. Doch Billies Herz, ihr ganzer Körper waren vom jahrzehntelangen Übergebrauch vieler giftiger Substanzen zu schwach, sie starb um drei Uhr früh – und entging so der x-ten Gefängnisstrafe. Holidays Leben war ewiger Kampf, herumgestoßenes Kind, jugendliche Prostituierte, Call-Girl, Putzfrau – und seit frühester Jugend leidenschaftliche, unvergleichliche Sängerin, vielleicht die bedeutendste des vergangenen und aktuellen Jahrhunderts. „Ich sang eigentlich immer“, schreibt Holiday in der ihr eigenen lapidaren Weise, beim Putzen, beim Kellnern, und seit den frühen 1930er-Jahren auch in New Yorker Clubs wie dem Pod’s and Jerry’s, wo sie von zwei Plattenproduzenten entdeckt wurde, die von ihrem Improvisationstalent beeindruckt waren. Sie nahm den Künstlernamen ihres musizierenden Vaters an, den Spitznamen Lady Day verlieh ihr Musikerkollege Lester Young. Mit den ersten Aufnahmen mit Benny Goodman begann ihre unvergleichliche Karriere, bis heute wird kaum ein Name so häufig genannt wie ihrer, wenn es um Jazzikonen geht. Dabei war Lady Days Art zu singen ein Affront gegen damalige Gepflogenheiten: Billie Holiday konnte keine Noten lesen und weigerte sich standhaft, sie zu lernen; ihre Stimme war weder geschliffen noch trainiert, im Grunde dünn, kratzig, „verlebt“ schon als junge Frau. Doch sie verströmte einen nie gehörten, leidenschaftlichen Zauber, der das Publikum in Bann schlug, ob in kleinen verqualmten Clubs oder in der Carnegie Hall. Liest man ihre Autobiografie, deren Wahrheitsgehalt umstritten ist – Lady Day neigte zur Legendenbildung – fällt die Beiläufigkeit auf, mit der sie drastische Szenen ihres Lebens schildert wie die Vergewaltigung als Zehnjährige durch einen Verwandten, ihre Drogenabhängigkeit und die damit verbundenen häufigen Gefängnisaufenthalte, demütigende, rassistische Beleidigungen noch und noch – auch, als sie längst weltberühmt ist und ihre heißgeliebten Nerzmäntel trägt (mit einem von ihnen wärmt sie später ihren empfindlichen Chihuahua Pepi, den sie mit ins Gefängnis nehmen darf). Aber es ist ganz gleich, ob Holidays Erinnerungen „stimmen“ oder nicht. Auf Fakten kommt es in diesem Leben nicht an. Ihre Stimme, ihre Musik erzählen mehr, als es minutiöse Tagebucheinträge könnten: Frank Sinatra sagte über sie, ‚Wie keine Zweite drang sie zum emotionalen Kern eines Songs vor.‘

holidayNeben den Interpretationen bekannter Standards wie „Summertime“ sind es vor allem ihre Eigenkompositionen wie „God Bless the Child“,  und natürlich Klassiker wie „Strange Fruit“,  die Holidays Renommé begründen. „Strange Fruit“, komponiert von Abel Meeropol, dessen Text die Ausbeutung schwarzer Sklaven im Süden der USA behandelt, bewegte sie selbst so stark, dass sie das Lied manchmal nicht singen konnte – auch wenn das Publikum noch so sehr danach verlangte. Diese drei Stücke und siebzehn weitere unsterbliche Songs der großen, unglücklichen, unsterblichen Lady Day finden sich auf ‚Centennial Collection‘ mit Aufnahmen aus den Jahren 1935 – 45. Essenziell, ohne Diskussion.

Christina Mohr

Billie Holiday: Lady Sings the Blues (Edition Nautilus, Broschur, 224 Seiten). Billie Holiday: The Centennial Collection. Sony Music.

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