Music, Art, Performance, Club und Dexys
– Das Lüften Festival 2012 bot ein großes Spektakel rund um die Frankfurter Jahrhunderthalle – mit Music, Art, Performance, Club und Dexys. Wolfgang Buchholz hat es sich angesehen.
Selbstbewusstsein kann man den Namensgebern der Jahrhunderthalle in Frankfurt-Höchst nicht absprechen. Vor ungefähr 50 Jahren erbaut, ist die Halle ein Relikt der miefigen 60er- und 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Senatorbar oder das Vorstandscasino zeugen vom Stil und Selbstverständnis dieser Zeit. Aus heutiger Sicht verstörend, seltsam oder einfach nur cool.
Kräftig durchgelüftet wird das gesamte Gelände der Jahrhunderthalle beim Lüften Festival an einem Wochenende im Juni. Das Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm veranstaltet das Festival mit den Bereichen Music, Art, Performance, Club, und kein Ort der Welt scheint besser dafür geeignet als das Gelände in und um die Jahrhunderthalle. Über das ganze Gelände verteilt werden draußen wie drinnen eine Vielzahl an künstlerischen Darbietungen aus den vier genannten Kategorien geboten. Als fünftes Gebiet der Kultur könnte man noch Fußball ergänzen, denn auch die Viertelfinalspiele der EM kann man auf vielen kleinen Fernsehern im Foyer der Halle stilgerecht verfolgen. Autorennen auf Vinylschallplatten, auf bewegten Luftkissen balancierende schwitzende Cowboys, eine Punkband im Käfig oder singende Grillen bilden einen kleinen Ausschnitt aus dem breiten Kulturprogramm.
Im Fokus steht natürlich bei den meisten Besuchern (auch bei mir) das feine Musikprogramm des Festivals mit dem alles andere überstrahlende Live-Comeback von Dexys. Ansprechende Line-ups bei Festivals bergen das Problem in sich, dass man die Bands, die man toll findet schon oft gesehen hat. Da man seine Lieblinge natürlich auch hier nicht verpassen will, fehlt oft der Raum für Neuentdeckungen, da man nicht alles auf einem Festival „mitnehmen“ kann.
Der Freitag geht bei mir los mit Get Well Soon: Gewohnt opulent, abwechslungsreich instrumentiert und mit einigen Liedern vom demnächst erscheinenden neuen Album. Danach dann The Notwist, ebenfalls mit einigen neuen Liedern und wie immer ein Erlebnis. Beim Konzert kommt mir der Gedanke, dass manche Bands eher Rhythmus können (Bsp. Fehlfarben), andere eher die Melodie beherrschen (Bsp. I am Kloot). The Notwist beherrschen zweifelsfrei beides und das auf höchstem Niveau.
Weiter geht‘s im Casino mit einer meiner momentanen Lieblingsgruppen: Ja, Panik. Diese Gruppe sehe ich heute zum vierten Mal und bin erneut begeistert von der Präsenz und vom Charisma des Sängers und Gitarristen Andreas Spechtl. Im letzten Jahr ist Ja, Panik mit „KMD KIU LIDT „ein Opus Magnum gelungen, dessen Songs auch heute im Mittelpunkt stehen. Bemerkenswert ist eine krachige Version von Body Count‘s „Cop Killer“, das Spechtl mit großer Wut ins Mikro bellt.
Headliner auf der Open-Air-Bühne sind dann The Shins. Grandioses Songwriting ist die Stärke von James Mercer, dem Kopf der ansonsten mit wechselnden Musikern arbeitenden amerikanischen Band. Auf jedem Album – vier an der Zahl – befinden sich zwei bis drei absolute Songperlen, neben z. T. auch etwas schwächelndem Material. Hier jagt heute eine dieser Songperlen die nächste (New Slang, Girl Sailor, Phantom Limb); das ist genau das richtige zum Sonnenuntergang an einem lauen Juniabend. Am Ende franselt das Konzert dann leider etwas aus. Trotzdem reicht die überzeugende Vorstellung der Shins, dass man dafür die ersten 60 Minuten von Deutschland – Griechenland sausen lässt. Um Mitternacht spielen dann noch The Whitest Boy Alive im großen Saal der Jahrhunderthalle zum Tanz auf. Bestens aufgelegt führt Erlend Oye durch das Programm der norwegisch-deutschen Band, denen es gelingt, auch in der nicht ganz gefüllten Halle Clubatmosphäre zu schaffen. Der sehr transparente Sound von The Whitest Boy Alive mit treibendem Schlagzeug, groovy Bass, funky Gitarre und perlendem Piano ist der bestens passende Abschluss eines sehr schönen Festivaltages. Die DJs vom Robert Johnson legen danach noch bis 7 Uhr im Casino auf; gute Kondition ist also von Nöten beim Lüften Festival.
Pflichttermin ist am Samstag um 15 Uhr Jochen Distelmeyer auf der Open Air Bühne. Gewohnt cool spielt sich Distelmeyer im weißen Sakko und großer Sonnenbrille mit seinen drei Musikern eine Stunde lang durch das Repertoire seiner Solo- und der diversen Blumfeld-Platten. Er kann dabei natürlich was Songmaterial angeht aus dem Vollen schöpfen, und die Band liefert ein üppiges Gitarrenbrett ab. Alten Blumfeldnummern wird hier mit „mächtig Rums“ ganz schön der Garaus gemacht – nicht schlecht, Herr Distelmeyer. Jemanden eine Zigarette anzünden und diese dann zwischen Saiten und Gitarrenkopf befestigen sieht man heute auch nur noch selten bei Konzerten. Jochen Distelmeyer beherrscht diese Spielart der Rock’n’Roll-Coolness natürlich. Man stelle sich vor, einer dieser Pop-Bubies wie Tim Bendzko würde das praktizieren – undenkbar.
Gegen 17:30 Uhr nimmt dann langsam die Schirmmützendichte vor der Open Air-Bühne zu; noch eine halbe Stunde bis zum Auftritt von Dexys. Die Dexys Midnight Runners hatten sich ja in den 80ern nach drei großartigen Platten (wobei ich die dritte, kommerziell völlig gefloppte „Don’t Stand Me Down“ am besten finde) verabschiedet. Die Sologehversuche von Kevin Rowland waren dann auch nur einer kleinen Gruppe von Spezialisten eine Beachtung wert. Oder wer kennt das großartige Coverversionen-Album „My Beauty“ aus dem Jahr 1999? So kam es, dass dieser begnadete Künstler ein jahrelanges Dasein in der musikalischen Bedeutungslosigkeit fristete. Neunzig Minuten später ist das für mich dann noch einmal mehr unverständlich. Der Dexys-Gig war ohne Zweifel – und damit lehne ich mich im Juni schon gewaltig aus dem Fenster – das Konzert des Jahres. Die neue Platte habe ich bis dato noch gar nicht gehört, aber der Gedanke daran, das in Kürze tun zu können, lässt schon den Speichel die Mundwinkel herunterlaufen.
Dexys bestehen aus zehn Personen, einer acht-köpfigen Alt-Herren-Riege und zwei etwas jüngeren Damen. Die Band sieht aus, als wäre sie genau für diese Dexys-Reunion gecastet worden – absolut perfektes Outfit. War eben schon bei Distelmeyer von Coolness die Rede, ist das hier das Coolste überhaupt, was man sich bei einer Band jenseits der 50 vorstellen kann. Bei der Performance handelt es sich weniger um ein Konzert, sondern mehr um eine Art Singspiel, das Kevin Rowland mit Sangespartnerin und -partner auf der Bühne zelebriert. Kevin Rowland, diese kleine eher schmächtige Erscheinung, besitzt eine unglaubliche Ausstrahlung und nach wie vor eine Wahnsinns-Kraft in der Stimme. Er schraubt sich in die höheren Tonlagen, variiert die Dynamik und schmachtet seine Gesangspartner herzzerreißend an. Er stolziert wie ein Pfau von links nach rechts über die Bühne und lebt seine Musik völlig aus. Und die Musik dazu? In stoischer Ruhe spielen Rhythmussektion, Gitarre, Keyboard und Bläser eine grandiose Melange als Pop, Soul und Folk. Selten gehören Bläser notwendiger zu der Musik als dies bei Dexys der Fall ist. Posaunist Big Jim Patterson wirkt als hätte er kurz sein Snooker-Spiel im Stamm-Pub gegenüber unterbrochen, um ein paar Nummern mit seinem alten Kumpel Kevin zu spielen. Und nicht nur mir stehen die Tränen der Freude in den Augen, wenn ich in die offenen Münder der um mich herum stehenden Konzertbesucher (Frau Mohr war auch dabei) schaue. Dann kommen noch ein paar alte Nummern, sogar „Listen To tTis“ und „This Is What She’s Like“ vom dritten Album aus 1985. Zum Schluss dann eine leicht verlangsamte Version von „Come On Eileen“. Nochmal: Wie konnte dieses musikalische Talent über zwanzig Jahre in der Versenkung verschwinden? Wie viel tolle Musik ist uns hier entgangen? Sei’s drum, Blick nach vorne und große Freude über ein denkwürdiges Comeback-Konzert einer formidablen Band. Allein für dieses Booking gehören den Lüften-Veranstaltern die Füße geküsst. Danke!
Zur Prime-Time spielen dann noch Jan Delay und Disko No 1, der sich nicht zuletzt durch seinen Album-Titel „Searching for the Jan Soul Rebels“ auch als Dexys Midnight Runners-Fan geoutet hat, er steht beim Dexys-Konzert auch mit offenem Mund vor der Bühne. Es fällt natürlich nicht leicht, nach dieser überbordenden Begeisterung sich auf einen neuen Künstler einzulassen. Ohne Zweifel ist Jan Delay ein gewiefter Entertainer, der sein Publikum voll im Griff hat, mit einer sehr versierten Band, oder besser Orchester, in seinem Rücken. Das ist Unterhaltung auf höchstem Niveau, aber einfach nicht die von mir präferierte Musikrichtung. Am Schluss hat es Herr Delay dann eilig. Vor der Zugabe verlässt er nicht die Bühne, um Zeit zu sparen, er will noch die zweite Hälfte von Spanien – Frankreich schauen – „Allez les bleus“.
Nach Mitternacht spielt dann noch James Blake. Hier reicht es aber nur zu einem kurzen Abstecher, ist mir auch irgendwie zu nervöse Musik am Ende des Tages. Am Sonntag gibt es dann noch u. a. Maximo Park, Christof Schreuf, Palais Schaumburg und Wreckless Eric, um meine Favoriten zu nennen. Leider nicht mehr für mich – vier Stunden Zugheimreise stehen auf dem Programm.
Fazit:
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In der Summe eine Super-Veranstaltung mit einem breiten und sehr hochwertige Kulturangebot.
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Die neunzigminütige Dexys-Show war schlichtweg der Hammer.
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Für die Sound-Nerds: Fast alle Gitarristen spielten auf einer Telecaster und über einen Fender-Röhren-Verstärker.
Epilog: Zu Hause ist endlich das Glitterhouse-Paket mit den neuen Scheiben da und Dexys „One Day I‘m Going To Soar“ kann auf Rotation gehen.
Wolfgang Buchholz