Geschrieben am 14. Dezember 2011 von für Musikmag

„Art Of Almost” – der Rolling Stone Weekender 2011

Kann man wieder hinfahren

– Vom 10.  bis 12. November 2011 fand im Magnet Club (Berlin) und am Weißenhäuser Strand (Ostsee) das diesjährige Rolling Stone Weekender statt. Wolfgang Buchholz hat sich drei Tage lang rumgetrieben, Bands wie The Notwist und Wilco bewundert und auch sonst eine Menge zu berichten.

„Vor dem Spiel ist nach dem Spiel“. So oder so ähnlich heißt es doch bei den Fußballexperten. Der Wissenschaftler spricht von einer Vorstudie, der Cineast von einem Prequel. Wie auch immer, der Rolling Stone Weekender startet in diesem Jahr bei mir schon am Donnerstagabend in Berlin im Magnet Club mit An Horse und Tim Neuhaus and the Cabinet. Meine eher reservierte Haltung gegenüber Schlagzeug-Gitarren-Duos muss ich bei den australischen An Horse revidieren. Es klingt weder zu dünn, noch geht die Musik in einer Krachorgie unter, wie es häufig bei dieser Bandkonstellation der Fall ist. Zwar schrammelt Kate Cooper wild auf ihrer Gitarre, aber durchaus mit Sinn und Verstand, das klingt wirklich gut. Ihr Kompagnon Damon Cox hat sein Schlagwerk auch so im Griff, dass man die veritablen Songs recht differenziert ausmachen kann. An Horse spielen dann auch am Samstag den Opening-Gig am Weißenhäuser Strand und ich bin ein zweites Mal dabei – wieder prima.

Letztes Jahr war Tim Neuhaus mit einem sogenannten Wohnzimmer-Konzert beim Weekender vertreten. Inzwischen ist er richtig durchgestartet, hatte mit „As Life Found You“ einen kleinen Hit, war damit bei „Ina’s Nacht“ und gibt heute im Magnet das Abschlusskonzert einer Elf-Tage-Tour. Mein Begleiter meint, irgendwie zu glatt und zu perfekt die Band. Nun gut, es schadet aber auch nicht wenn man technisch versierte Musiker in seinem Reihen wähnt. Bei Wilco meckert man ja auch nicht, dass die Jungs zu gut spielen können. Dies ist bei The Cabinet auf jeden Fall gewährleistet, und auch zusammen singen können die vier Herren. Tim Neuhaus und seine Band spielen einen für eine deutsche Band sehr eigenständigen Stil. Heute hat er wohl auch noch ein Heimspiel, eine prächtige Stimmung herrscht im Club. Der Spaß- und Zufriedenheitsfaktor ist bei allen inklusive meiner Person hoch.

Die Ergebnisse der Vorstudie sind also so, dass sie Geschmack auf mehr machen, und am Freitag geht es an der Ostsee gegen 17 Uhr schon mit einem der Highlights des Festivals los, The Notwist starten auf der Hauptbühne und legen die Latte für den Rest schon verdammt hoch. Es ist kaum nachzuvollziehen, wie die Klänge, aus denen die Notwist-Musik besteht, überhaupt erzeugt werden. Was macht eigentlich der Gretschmann da? Der auch als Console bekannte Tausendsassa hat jeweils ein Hantel-ähnliches Gerät in jeder Hand und bedient damit ein Arsenal elektronischer Gerätschaften. Auch die beiden anderen Kernmitglieder der Band, die beiden Acher-Brüder, spielen neben Gitarre und Bass ebenfalls weiteres grandios klingendes Equipment. So verwendet Micha Acher einen Plattenspieler, mit dem er scratcht und Gesangssamples einstreut. Komplementiert wird die Band von Schlagzeug, einer weiteren Gitarre und einem Vibraphon.

Die Symbiose aus feiner Melodie und Krach auf der einen Seite sowie Elektronik- und Gitarrenmusik auf der anderen Seite wird von kaum einer anderen Band so beherrscht wie von The Notwist. Sie spielen Hit auf Hit ihrer drei letzten Alben von Day 7 bis Pilots sowie zwei mir nicht bekannte Lieder, die aber auch auf Anhieb zünden. Auch Sound und Licht sind für einen Festival-Opener außergewöhnlich perfekt – absolut Headliner-tauglich, so dass nach der ersten Band schon ein staunendes und begeistertes Publikum zurück bleibt.

Welche Band kann es sich erlauben, mit einer ganz ruhigen Folknummer zu starten?

Dann ist Festivalhopping angesagt: Death Cab for Cutie, etwas zu zappelig und Stadion-kompatibel, All Mankind, böse Mainstream-mäßig, Fleet Foxes, Hippiemusik mit verzwirbelten Gesangslinien, heuer nichts für mich, Anna Calvi, tolle Sängerin mit coolem Gitarren-Sound und Timber Timbre… Stop, hier lohnt es sich länger zu verweilen. Im stockdunklen, kleinen Rondell sitzen drei Herren auf der Bühne und bedienen zwei Gitarren, ein Keyboard und Berge von Halleffekten. Der Sänger hat auch noch eine Bass-Drum an seinem Fuß hängen. Was ist das für eine Musik, die Timber Timbre spielen? Elektronischer Swamp-Blues? 22 Pistepirkko mit Barriton-Gesang? So oder so ähnlich klingt die Band. In jedem Fall fesselnd und Appetit auf mehr machend. Herrn Gretschmann gefällt’s auch, sehr interessiert beäugt er das verwendet Effekte-Sammelsurium. Beim Lokationswechsel trifft man derweil Thees Ullmann beim Biertrinken mit seinen Buddies, er spielt ja erst am Samstag.

Letzter Act im großen Zelt und würdiger Abschluss des ersten Tages sind die großartigen Wilco. Welche Band kann es sich erlauben auf einem Festival mit der über zwölf Minuten dauernden, ganz ruhigen Folknummer „One Sunny Morning“ zu starten? Beeindruckt klebt das Publikum an Jeff Tweddy’s Lippen, unterbrochen durch aufbrausenden Jubel bei den eingestreuten Gitarrenlicks von Über-Gitarrist Nels Cline. Ein gewaltiger Start, und auch nach knapp einer halben Stunde haben Wilco erst ihren dritten Song beendet, und das war „The Art Of Almost“, der Opener des neuen Albums und neben „DMD KIU LIDT“ von Ja, Panik mein Song des Jahres. Das Lied startet mit elektronisch verfremdeten Drums, geht über in zarte und leise Gesangsparts und endet in einer wüsten Gitarrenorgie, bei der alle Heavy-Metal-Flitzfinger die Ohren anlegen können. Wer denkt sich solche abgefahrenen Arrangements aus? Bezüglich der weiteren Setlist braucht man bei Wilco keine Bedenken zu haben, der Fundus an großen Songs ist gewaltig und in 90 Minuten geht halt nicht alles. Das neue Album wird hinreichend gewürdigt und Jeff Tweedy tänzelt sogar ab und an und lüftet hin und wieder seinen ihn heute schmückenden Hut. Irgendwie erinnert er mich an Dylan, den alten Grantler. An ihrer eigenen Legende arbeiten Wilco jedenfalls fleißig.

Am Samstag starten nach An Horse die englischen Archive auf der Hauptbühne das Programm. Auch diese Band ist stilistisch äußerst vielfältig, Elektronik und Pop wechselt sich ab mit Prog und Hip-Hop. In unterschiedlichen Konstellationen agieren die acht Musiker und machen ebenfalls Lust auf die intensivere Beschäftigung mit ihrer Musik. Leider muss ich eher weg, da nun Thees Uhlmann mit Band im kleinen Saal spielt und da muss man früh da sein, um noch rein zu kommen. Und es lohnt sich, hier gibt es ein klassisches Rockkonzert mit einem bis auf die Haut nassgeschwitzten Uhlmann und einer Bombenstimmung. Mir war eigentlich nicht recht klar, warum es eines Soloalbums bedurft hatte, der Unterschied zwischen den vorab gehörten Liedern und der Tomte-Musik schien mir nicht so groß. Aber live war das dann doch noch einmal eine andere Nummer. Extrem nach vorne gehende Versionen, dargeboten von einer prima Begleitband. Wohl dem, der einen Tobias Kuhn, früher Miles, heute Monta, als Backgroundsänger dabei hat, und der bedient auch noch ganz passabel seine Gitarre.

Thees macht derweil die klassische Rampensau, erzählt witzige Geschichten zwischen den Liedern („Europas ältester Newcomer“) und hat einen Riesenspaß: ein großes Kind, das ausgiebig mit seinem Lieblingsspielzeug „Rock’n’Roll“ spielen darf. Das Publikum feiert kräftig mit und kann die neuen Lieder schon mitsingen. Das ist alles sehr pathetisch und, wenn mal will, recht dick aufgetragen, aber letztendlich doch in sich stimmig. Nur einmal wird Tomte in einer Akustikversion von „New York, New York“ strapaziert, ansonsten spielt Uhlmann das komplette Album inkl. seinem St. Pauli-Lied und kann damit ein 75 Minuten-Konzert locker gestalten. Das Schwitzen im knallvollen Baltic-Saal hat sich gelohnt.

Keine normalen Zigaretten

Der nächste Komplett-Act auf der Hauptbühne, den ich mir anschaue, sind Nada Surf. Das Trio hat in der Vergangenheit einige gelungenen Indie-Rock Scheiben gemacht. In den letzten Jahren habe ich die Band etwas aus den Augen verloren, da der Innovationsgrad der neueren Platten eher gering erschien. Dies hat wohl auch die Band gesehen und ist mittlerweile zum Quintett angewachsen. Ein zweiter Gitarrist zum Spielen von „James Honeyman-Scott-Licks“ und ein Keyboarder und Trompeter von Calexico verstärken die Band. Blickfang ist aber nach wie vor der mit langen blonden Rastazöpfen geschmückte Bassist Daniel Lorca. Der zündet sich bei jedem zweiten Stück eine Zigarette an, wahrscheinlich keine normalen Zigaretten, und lässt es sich auch nicht nehmen nach dem letzten Song seinen Bass in seinen Verstärker zu werfen. Sowas hat man wahrlich schon lange nicht mehr gesehen. Musikalisch bieten Nada Surf neues Material vom Angang 2012 erscheinenden Album sowie einen Querschnitt durch ihr bisheriges Schaffen. Die Band hat super-melodiöse Gesangslinien, manchmal vielleicht etwas zu zuckrig, und kommt sehr kompakt rüber. Vor zehn Jahren war diese Musik nicht nur bei mir schwer angesagt. Heute fehlt irgendwie der letzte Kick. Macht nichts kaputt, begeistert aber auch nicht richtig.

Die letzte Band sind dann Elbow, die mit ihren letzten beiden Alben ziemlich erfolgreich waren. Sänger Guy Garvey betritt mit einem geistigen Getränk in der Hand die Bühne und beginnt den Set mit dem Opener des neuen Albums „The Birds“. Keine klassische Songstruktur, sondern eine sich steigernde Dramaturgie zeichnet dieses für meinen Geschmack beste Lied des neuen Albums „Build A Rocket Boys!“ aus. Garvey parliert mit dem Publikum und animiert es zum Mitmachen, das ist ganz nett gemeint, mir aber ein bisschen zu volkstümlich. Mein Nebenmann meint: „Der sieht aus wie Paul Potts“. Na ja, ganz so füllig ist Garvey nicht, aber gut singen kann er schon. Mir ist das etwas zu behäbig für den letzten Act eines tollen Festivals, dem Publikum gefällt es aber. Drei Tage Konzerte sind auch ganz schön anstrengend, sodass Elbow die letzte halbe Stunde ihres Konzertes ohne mich auskommen müssen. Das sollten sie geschafft haben. Was bleibt? Der Rolling Stone Weekender 2011: tolles Line up, entspannte Atmosphäre, schöne Lokation – kann man wieder hinfahren.

Wolfgang Buchholz

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