Die Konsensplatte der Stunde…
… in der CULTurMAG-Redaktion ist „Shaking The Habitual“ von The Knife. Kein Wunder, dass sich Janine Andert (JA), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO) auch in der Rubrik 3:1 ziemlich einig sind.
(MO) Auf den ersten Blick ist das neue Album von The Knife ein gewaltiger Brocken: über hundert Minuten Spieldauer, davon gehen über zwanzig Minuten auf einen einzigen Track („Old Dreams Waiting To Be Realized“). Auch der Albumtitel signalisiert mit dem Verweis auf ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Francois Ewald, dass es hier nicht um handelsüblichen Pop geht, sondern dass eingefahrene Gewohnheiten über den Haufen geworfen werden.
Nun standen die schwedischen Geschwister Karin und Olof Dreijer sowieso noch nie im Verdacht, konfektionierte Mainstream-Ware abzuliefern: Auf ihren Platten finden sich zwar stets Dancehits, aber immer von der irgendwie beunruhigend-düsteren Art wie zum Beispiel der Klassiker „Pass This On“ von 2003.
Seit dem letzten gemeinsamen Album von The Knife „Silent Shout“ sind ganze sieben Jahre vergangen; 2009 veröffentlichte Karin Dreijer ihr Soloalbum unter dem Projektnamen Fever Ray, 2010 erschien noch das Opern-Konzeptwerk „Tomorrow, In A Year“, eine Gemeinschaftsarbeit von The Knife, Mt. Sims und Planningtorock. Jetzt endlich wieder: The Knife gemeinsam, und erratisch wie eh und je. „Shaking The Habitual“ ist auch auf den zweiten Blick kein Pop und kein Mainstream: das Elektro-Duo rüttelt und schüttelt am Habituellen, mit hektisch-flirrend-zappligen Beats, gigantisch anmutenden Steeldrums und verfremdeten Field Recordings vom Amazonas, die beim besten Willen kein Vogelpiepsen oder Flussrauschen mehr erkennen lassen – The Knife überließen weitgehend selbstständig arbeitenden Computerprogrammen das Studio, dementsprechend anti-naturalistisch, „entfremdet“ und artifiziell klingt die Platte, die sich inhaltlich mit den großen Weltfragen auseinandersetzt: angefangen bei zwischenmenschlichen Beziehungen („Without You My Life Would Be Boring“, „A Tooth For An Eye“) bis zum umstrittenen Erdgasgewinnung („Fracking Fluid Injection“). Sich über Texte Gedanken zu machen, hat wenig Sinn, denn auch Karin Dreijers Vocals wurden so stark bearbeitet, dass allenfalls Wortfetzen erkennbar sind.
Dass The Knife trotz dieser enormen Aufgabenstellungen nicht ins Ungoutierbare abdriften, ist schier unglaublich, aber es gelingt – die Single „Full Of Fire“ und das auf schiefen Hip-Hop-Beats schlingernde „Raging Lung“ übernehmen die Rollen der „zugänglichen“ Tracks. Mit „Shaking The Habitual“ sind The Knife so weit von Pop im Sinn des Populären entfernt, wie kaum ein anderer Act und dennoch fühlt man sich den Dreijers stets nahe, scheint die Sprache und das Ansinnen der Aliens zu verstehen. Das mag ein Trugschluss sein, der die hundert Minuten von „Shaking The Habitual“ umso faszinierender macht. Großartige Platte.
(TM) Die Kollegin vom Tagesspiegel schrieb in ihrer Rezension zum neuen Album der Geschwister Karin Dreijer Andersson und Olof Dreijer alias The Knife den schönen Satz: „Sie spielen mit den Kategorien, wenn sie sich etwa beide als Frauen verkleiden.“ Als Frauen! Beide!! Schöner kann man das Diktum, wonach wir eben ALLE IMMER in drag sind, kaum in einen Satz fassen. Waren The Knife schon immer auch politisch, so sind sie’s mit „Shaking The Habitual“ mehr denn je. Allein schon, wie das Cover knallt!
Die neue Platte ist nicht weniger als ein feministisches Manifest in Musikform – wo die Femen blankziehen, machen The Knife Stimmung mit Tönen. Hauptsächlich natürlich über die Texte, die, wie Frau Mohr schon anmerkte, tatsächlich kaum zu verstehen sind. Dem Studiotermin ging die Lektüre von Büchern über Gender und Queer Studies voraus, der Titel des Albums ist ein Zitat des Philosophen Michel Foucault, der dazu anriet, gewöhnliche Betrachtungsweisen über den Haufen zu werfen.
Und auch sonst finden sich interessante Bonmots auf dieser Platte, die man aufschnappen kann. „No vagina, an option“, heißt es bei „Full Of Fire“, das zusätzlich mit einem knalligen Video aufwarten kann, in dem SM-Motorradlesben ebenso auftreten wie Cross-Dresser im Best-Ager-Alter und Frauen, die auf die Straße urinieren. „Stay Out Here“ ist eine Zusammenarbeit mit der großartigen Shannon Funchess von Light Asylum und Emily Roysdon, in dem es kryptisch heißt: „You have the most beautiful way of putting one foot in front of the other“. Auch eine schöne Liebeserklärung. „Raging Lung“ dagegen könnte mit seiner Mischung aus Exquisität und Zugänglichkeit ein Anwärter auf einen neuen The-Knife-Klassiker sein – „Oh what a difference a little difference would make“.
Ja, „Shaking The Habitual“ ist düster und fügt dem sowieso schon nicht eben rosaroten Universum der schwedischen Band ein neues, dunkelschwarz glitzerndes Sternchen hinzu. Wie aber kann eine queere Platte klingen? Was macht sie feministisch über die Texte hinaus? Vielleicht dies: dass hier eben keine leichten Erklärungen angeboten werden, dass hier niemand von oben herab „liefert“ (im Sinne von Strophe – Refrain – Strophe – Refrain – Brücke – Refrain). Und dass Überraschungen eher die Regel sind: „Without You My Life Would Be Boring“ und „Networking“ zum Beispiel führen wunderbare asiatische Harmonien ein. Fazit: Eine Platte für die Ewigkeit.
(JA) Nach sieben Jahren Abstinenz ist „Shaking The Habitual“ ein heiß erwartetes Album. Im Hinterkopf schwirren noch die düsteren Solopfade von Karin Dreijer Andersson, die sie 2009 unter dem Namen Fever Ray mit ihrem selbstbetitelten Album beschritt. Oder das hochintellektuelle „Tomorrow, In A Year“, auf dem The Knife 2010 zusammen mit Mt. Sims und Planningtorock Charles Darwins „On the Origin of Species“ vertonten. Damals ein harter Brocken, der ganz weit entfernt von eingängiger Popmusik war. Was also erwartet den Hörer auf „Shaking The Habitual“?
Ganz klar ein Konglomerat und somit eine konsequente Weiterentwicklung des bisherigen Schaffens der dänischen Geschwister. Und trotzdem ist alles frisch und neu. Mit frickeliger, ja dämonischer Hektik reißen The Knife aus der winterbedingten Rotweinmelancholie. „Full Of Fire“ könnte problemlos den Soundtrack für einen Film über Dark Rooms abliefern. Diese dunkle Club-Atmosphäre zieht sich durch das gesamte Album und verleiht „Shaking the Habitual“ ein ganz eigenes Klangkolorit.
Eine animalische Stimmung, die den Eindruck primitiver Tänze und Götzenanbetung vermittelt, kommt vor allem in „Without You My Life Would Be Boring“ zum Tragen. In diesem Sinne, vermittels archaischer Tribals, gewinnt „Shaking The Habitual“ eine physische Ebene, die den Pulsschlag des Hörers manipuliert.
Unnötig zu erwähnen, dass ein Entziehen unmöglich ist. Jeder Durchlauf eröffnet eine neue Ebene. Scheinbar nicht vorhandene Melodien entspinnen sich mehr und mehr. Neben dem Elektro kommen zudem klassische Noise-Elemente zum Einsatz. Musikalische und lyrische Vielschichtigkeit, wie sie nur The Knife abliefern. Schon jetzt eines meiner Alben des Jahres.
The Knife: Shaking The Habitual. Rabid/Cooperative Music. Zur Homepage mit Album-Stream.