Geschrieben am 15. Mai 2013 von für Musikmag

25. Internationales Jazzfest Gronau – eine Nachlese

25. Internationales Jazzfest GronauAll that’s Jazz

– Mit der journalistischen Distanz und Objektivität ist das so eine Sache: Wer in einer Stadt lebt, die mit ihrem Selbstverständnis hadert, kann ja nur froh sein, wenn eben diese Stadt mit Veranstaltungen aufwartet, die ohne weiteres das Etikett „Weltklasse“ beanspruchen können. Wer wollte da mit feuilletonistisch-kritischer Naseweisheit am Bühnenrand stehen, wenn sich Größen wie Al Jarreau, Ian Anderson, Al McKay, Richard Galliano und Mezzoforte die Klinke in die Hand geben wie jüngst beim 25. Internationalen Jazzfest in Gronau? Von Christiane Nitsche.

Gronau? Wer noch nie hier war, hat vermutlich auch noch nie davon gehört. Es sei denn, er ist von hier aus in die weite Welt gezogen, wie etwa Gronaus berühmtester Sohn Udo Lindenberg. Oder er gehört zur Klientel derer, die die Internationale Jazz-Szene im Auge behalten. Seit 25 Jahren richtet die 45.000-Einwohner-Stadt an der äußersten westlichen Peripherie der Republik ein immer wieder hochkarätig besetztes Jazzfest aus. Allen wirtschaftlichen Problemen, Miesmachern und organisatorischen Problemen zum Trotz, die es in 25 Jahren durchaus reichlich gab.

Nicht, dass es die nicht auch heute noch gäbe: Im Jubiläumsjahr hat das Budget eine Größenordnung erreicht, die dauerhaft nur schwer zu finanzieren sein dürfte, selbst ernannte Kritiker und die von Organisator Otto Lohle gerne zitierte „Jazzpolizei“ waren wie gewohnt zur Stelle, und die Restriktionen, die mit der Verpflichtung manchen Weltstars einhergingen, trieben so einige im Hintergrund an den Rand der Verzweiflung.

Auf der großen Bühne in der Bürgerhalle aber, bei den Konzerten in der Stadtkirche, in den Kneipen und auf den Straßen der Stadt fand nur eines statt: Ein zwei Wochen andauerndes, mitunter schwindelerregendes Fest der Musik. Und ja: Das war längst nicht alles Jazz, was da geboten wurde. Aber darüber sollen sich die ärgern, die sich das zum Lebensinhalt gemacht haben. Mein Job ist das nicht.

I. Am. Jazzed.

Ich bin begeistert. Nicht von allem. Nicht von jedem Act. Nicht permanent. Aber unterm Strich, nach einem Marathon aus Jazz, Hip-Hop, Funk, Soul, Swing, Chanson, Muzette, Musical und viel, viel, viel Blech bin ich so erschöpft wie phon-selig.

941056_518269238236366_1820241708_nGrund 1: Best Sax I ever had

Ed Wynne heißt der Mann, der mich beinahe vergessen lässt, den Kamera-Auslöser zu betätigen, weil er spielt wie noch kein anderer Saxophonist, den ich je zuvor gehört habe. Bei der von Al McKay geführten „Earth, Wind & Fire Experience“ bekommt der blonde Kraftprotz jede Gelegenheit, sich an und mit seinem Instrument auszupumpen bis aufs letzte Quentchen Luft. Der Abend, der mit einem allein für sich schon großartigen Konzert der isländischen Fusion-Combo „Mezzoforte“ begann, wird zum schweißtreibenden Höhepunkt des Festivals: zwei Weltklasse-Acts in Perfektion an einem Abend. Dabei so mitreißend wie beglückend für das Publikum in der ausverkauften Halle. Strahlende Gesichter vor der Bühne reflektieren das scheinbar allgegenwärtige Lächeln der Akteure on stage. Nach zahllosen Mitsinger-Songs wie „September“, „Sing a Song“, „Boogie Wonderland“, die im übrigen aus Al McKays Feder stammen, werden von der Bühne herunter Hände geschüttelt und anschließend von der gesamten, hochkarätig besetzten Truppe CDS signiert und Autogramme gegeben.

935278_514154228647867_1915654959_nGrund 2: „I love you more“

Al Jarreaus Auftritt am ersten Jazzfest-Wochenende wird zur Liebeserklärung – an die Kraft der Musik, an ein einzigartiges Lebenswerk, an Generationen vor ihm und jene, die ihm folgen werden. Und nicht zuletzt an die Musiker, die ihn begleiten und das Publikum, das ihm über fünf Jahrzehnte hinweg die Treue gehalten hat.

Al Jarreau ist erkennbar gealtert. Die arthritischen Knochen zwingen ihn in eine gebückte Haltung, über die Bühne verteilte Barhocker helfen ihm beim Kampf gegen die unüberwindbare Schwerkraft. Doch irgendwo da unten holt er mit immer noch unvergleichlicher Stimme Töne hervor, von denen man sich unwillkürlich fragt, ob es dafür überhaupt eine Notierung gibt. Der Altmeister des Scat-Gesangs nutzt nach wie vor alles für seine Kunst, was er hat: Zunge, Gaumen, Kehlkopf, Lippen, Wangen, Nebenhöhlen, vermutlich sogar die Bronchien. Fast scheint es, als spielten die Stimmbänder eine Nebenrolle, wenn er die ausverkaufte Bürgerhalle mit Hits wie „Your Song“, „Morning“, „We got by“ und natürlich seiner einzigartigen Version von Dave Brubecks „Take Five“ begeistert.

„I love you“, rufen ein paar eingefleischte Fans in den ersten Reihen. „I love you“, bekennen auch seine Musiker, als er sie einzeln ausgiebig vorstellt. „I love you more“, antwortet Jarreau. Man muss es glauben, denn er lässt ihnen allen Raum. Allen voran Bassist Chris Walker, der sich als begnadete Soul-Stimme entpuppt, als er seine Ballade „How do you heal a broken heart?“ zum Besten gibt. Und selbst einige sehr anhängliche Fans bekommen backstage noch geduldig Autogramme und ein Foto mit ihrem Liebling.

309996_516888988374391_12980439_nGrund 3: The Art of Acting

Die Inszenierung beginnt im Grunde schon lange vor dem Auftritt. Eine Handvoll entsprechend verlesener Fotografen bekommt präzise Instruktionen, wie lang (8 Minuten) und von wo (nur von links) Ian Anderson fotografiert werden darf. Dass sich der ehemalige Frontmann von Jethro Tull als Alter Ego einen jungen Schauspieler mit auf die Bühne geholt hat, scheint da nur konsequent. Der Schotte Ryan O’Donnell füllt diese Rolle im übrigen vollkommen aus – er tanzt nicht nur im Duett mit dem großen Meister, er singt auch, als hätte er eine Musical-Ausbildung absolviert. Jeder Schritt, jeder Ton, jedes Wort ist bei der „Thick as a Brick“-Show perfekt inszeniert. Musikalisch lässt Anderson’s Flying Circus nichts zu wünschen übrig. Die Stücke von einst klingen so sauber – wie eben die Stücke von einst. „Man könnte eigentlich eine CD laufen lassen“, sagt einer im Publikum. Das aber im übrigen höchst zufrieden ist, auch wenn keine Kommunikation, kein Kontakt stattfindet zwischen dem Flötenmagier und seinen Anhängern. Die Blicke, die er mit aufgerissenen Augen in die Menge wirft, wirken eher wie Bannstrahle, direkte Ansprache kommt allenfalls von der Video-Leinwand, wo sich der Barde selbstironisch als englischer Landadliger in Szene setzt. Dass mein persönliches Highlight an diesem Abend der einzige deutsche Musiker auf der Bühne ist, ist wahrhaftig keiner etwaigen Anglophobie geschuldet, denn: I love the British, I really do. Aber Gitarrist Florian Opahle liefert mit seiner hammerharten Version von Bachs Toccata ein kleines Meisterwerk ab.

164985_515013175228639_289880965_nGrund 4: Götzi in Gronau

Natürlich hat Götz Alsmann als Münsteraner eine Art Lokalmatador-Bonus. Doch der schnellsprechende Multiinstrumentalist und Haartollenträger hätte den gar nicht nötig. Im Stil des Hazy-Osterwald-Sextetts lässt er gemeinsam mit seinen Musikern Erinnerungen an die Hochzeit des Chansons aufleben – natürlich in entsprechend hellblauen Abendjaketts. Eigentlich sei man allein deshalb hier: „Um in unseren nigelnagelneuen, baby-blauen Sakkos zu debütieren.“ Das Debut gilt natürlich der CD „Paris“, die Alsmann ebenda einspielte, in den berühmt-berüchtigten Studio Ferber, wo noch das Sofa steht, auf dem Serge Gainsbourg „und unzählige Praktikantinnen“ DNA-Spuren hinterlassen hätten, wie er leutselig erzählt.

Alsmann erweist sich einmal mehr als begnadeter Entertainer. Ein Tränen lachendes Publikum erfährt, wie Klein-Götzi im Flanell-Pyjama vor dem Fernseher seine Vorbilder in Gilbert Bécaud und Eddie Constantine entdeckte und wie er bei dem Versuch, die Flirttaktik des Filmhelden zu kopieren, im Jugendzentrums-Partykeller kläglich scheiterte. Umso gekonnter die Darbietung der mit deutschen Texten versehenen Chansons und Swing-Nummern aus der Zeit der 30er- bis 60er-Jahre. Alsmann spielt Flügel, Akkordeon und die von ihm so geliebte Ukulele. Er singt, flötet, swingt und freut sich diebisch an seinen eigenen Pointen. Das Ganze wird garniert von so kreativen wie hochklassigen Musikern: Markus Paßlick etwa, der schon mit den Ärzten Percussion gespielt hat und schonmal zum Baguette greift, wenn es an die Trommel geht. Oder Altfrid M. Sicking, der mit dem Vibraphon, aber auch am Xylophon und sogar per Tubular Bells Akzente setzt.

945765_515274541869169_463761506_nGrund 5: „Hallo Welt! Hallo Gronau!“

Ließe man ihn, würde er vermutlich die ganze Nacht weitermachen: Max Herre hat „noch Lust“, auch nach der dritten Zugabe, auch als längst ein Strom von Besuchern die Halle verlässt. Egal. „Hallo Welt!“ Max Herre ist da. Und er macht Party. Aber richtig. Mit Hiphop, Rap, Reggae und Soul. „Wer Jazz mag, mag auch Soul, oder?“, so die rhetorische Frage von Herre an sein Publikum. Eine hervorragende Band – „The Voice“-Zuschauern aus der gleichnamigen Casting-Show bekannt – der Rapper Afrob und die Soul-Sängerin Grace Risch sorgen für den fetten Sound, der das Durchschnittsalter der Jazzfest-Besucher in den Sinkflug schickt. Die Rechnung der Veranstalter ist aufgegangen: Gemeinsam mit dem Bremer Soul-Sänger Flo Mega lockt Herre ein Publikum, das dem Festival sonst eher gelangweilt den Rücken kehren würde. Wer sich unbeleckt diesem Experiment aussetzt, zahlt mit strapazierten Trommelfellen, wird aber bereichert etwa durch die melancholisch-herben Texte von Flo Mega und seine spezielle Bühnenpräsenz, die tänzerisch an Joe Cocker denken lässt und in Sachen Gesang an eine Mischung aus Jan Delay und Herbert Grönemeyer. Aber wieso haben die lautesten eigentlich das netteste Publikum? Bei keinem anderen Konzert machen die Leute so bereitwillig Platz für die Fotografen wie bei den Hiphopern.

27132_517873098275980_2123245045_nGrund 6: Brass’n’Blues

Die „Nacht der Nächte“ ist legendär beim Gronauer Jazzfest. Und sie ist eine originäre Gronauer Erfindung, denn erst im Laufe der Jahre zogen andere Festivals mit ähnlichen Konzepten nach. Innerhalb einer Art Bannmeile spielen Bands in den Kneipen, Zugang gibt’s per Armbändchen. Geboten wird dabei vom New Orleans Blues über Dixie bis hin zu Gipsy Jazz, Klezmer, Soul, Funk und Swing alles, was der Jazz seine Kinder nennt. Brassbands teilen sich dabei das Revier der Straße. „Dej sen litro“ zum Beispiel – die Slowenen waren schon mehrfach in Gronau und sorgen immer wieder mit schön schrägem Blech für Stimmung. Auch bei „Umsonst & draußen“, wenn am zweiten Jazzfestwochenende die Fußgängerzone mit Bands bevölkert ist und auf mehreren Open-Air-Bühnen in der Stadt wieder unterschiedliche Bands spielen. Meine persönliche Entdeckung in diesem Jahr: Mojo Workings aus Budapest – drei Jungs mit Schlägerkappen, eindringlichem, klassischen Blues-Gesang und gaaanz großer Mundharmonika.

295308_520810291315594_299028418_nGrund 7: Jazz und Kunst

Das Jazzfest ist auch ein Treffpunkt für Künstler. Nicht nur, weil einige offizielle Ausstellungen das Festival begleiten, darunter eine im Rock’n’Popmuseum mit Musikerporträts des offiziellen Jazzfest-Fotografen Hartmut Springer und des slowenischen Fotografen Jože Požrl. Die Skulptur 25/25 feiert weithin sichtbar leuchtend vor dem Hauptveranstaltungsort, der Gronauer Bürgerhalle, das Jubiläumsjahr. In den Banken hängen Fotos und Gemälde, die die Historie des Jazzfestes illustrieren. Und am Rande gibt es ein Wiedersehen mit Arvo Wichmann, der Al Jarreau eines seiner Gemälde überreichen wird.

73915_513697172026906_1956327614_nGrund 8: Auftakt mit Akkordeon

Auch wenn für viele das Jazzfest mit dem Konzert von Al Jarreau erst beginnt, ist das offizielle Eröffnungskonzert mit Richard Galliano und dem aus Polen stammenden Gronauer Akkordeonisten Piotr Rangno ein mehr als würdiger Auftakt. Im schönen Schiff der Stadtkirche mit ihrer besonderen Akustik lassen die beiden Virtuosen auf ganz unterschiedliche Weise den Atem ihrer Instrumente klingen. Altmeister Galliano ist ganz den Musette und dem mediterranen Stil verhaftet und tritt mit Ensemble an, bei dem besonders der Violinist Francois Arnaud herausragt. Immer wieder treten beide in Dialog, mitunter in fast sportlichen Wettstreit, wenn es um Tempi- oder Harmoniewechsel geht. Dass Rangno seinem Vorbild Galliano in vielem bereits auf Augenhöhe begegnen kann, beweist er eindrucksvoll mit seinen Klezmer-Interpretationen.

Dazu gibt es Eigenkompositionen und Bearbeitungen von Stücken seines Landmanns Chopin. Mein erster und einziger CD-Kauf des Jazzfestes. Prognose: Da geht noch was. Bestimmt nicht nur in Gronau.

Christiane Nitsche

Das Jazzfest Gronau im Netz.

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