Geschrieben am 24. Juni 2018 von für Musikmag

Fünf Bücher Sommer 2018

Der Buchbranche geht es schlecht: Mehr als sechs Millionen KäuferInnen kamen den Verlagen und Geschäften in den letzten Jahren abhanden, über die Gründe kann nur gemutmaßt werden. Ist Netflix an allem schuld oder lenkt uns generell dieses Internetz viel zu sehr ab, ist ja schließlich noch immer Neuland für uns alle? Was immer die Leute auch vom Lesen abhält: An spannenden Titeln aus dem Pop-/Musikbereich mangelt es jedenfalls nicht. Eine kleine, lesenswerte Auswahl präsentieren wir hier:

a_reedJeremy Reeds Roman „The Nice“ beginnt mit einem Gig der Rolling Stones in einem Londoner Club, anno 1964. Die Band ist noch jung und wild, reißt sich den Blues unter die Nägel und tut so, als seien sie Misfits von der Straße – das Publikum rastet aus, die Mädchen kreischen, die Jungs versuchen, auf engstem Raum so zu tanzen wie Mick Jagger. Bis auf diejenigen, die lieber draußen bleiben, damit sie sich nicht ihre schicken Anzüge ruinieren: Mods, echte und Nachmacher, alle darum bemüht, cool zu erscheinen. Rauchen und an den Scooter lehnen geht da gerade noch, auf keinen Fall jedoch verschwitztes Rumhopsen und -schreien. Unbestrittener King of Cool ist The Face, ein junger schöner Mod, dessen echten Namen niemand kennt. The Face verliebt sich vor besagtem Club in einen anderen schönen jungen Mod, der den richtigen Pullover trägt – und die atemlose, koks-, musik- und sexgesättigte Story, angesiedelt im London der Swinging Sixties und sechzig Jahre später, nimmt ihren Lauf. Gegenwart und Vergangenheit verdrehen sich ineinander, „The Nice“ ist ein Rausch in Buchform, bei dessen Lektüre man hibbelig den Beat mittrommelt – als liefen die ganze Zeit „Come On“ von den Stones und „My Generation“ von The Who im Hintergrund. Autor Jeremy Reed schreibt seit vielen Jahren viele Bücher und gilt als „kontroversester und avantgardistischster Poet Englands“ – „The Nice“ wird dieser Beschreibung mehr als gerecht.

a_lossEins wird schnell klar: „Nothing Has Been Done Before“ von Robert Loss, Professor an der Universität von Ohio, entstand als Gegenreaktion auf Simon Reynolds’ „Retromania“. In diesem Buch von 2010 vertritt Poptheoretiker Reynolds die These, dass Pop seit Jahrzehnten von der eigenen Vergangenheit so besessen sei, dass im Grunde überhaupt nichts Neues entstünde. Jeder vermeintlich neue Sound beziehe sich auf etwas längst Dagewesenes, Pop kreist um sich selbst und frisst sich schlussendlich auf. Diese zugegebenermaßen ziemlich deprimierende Analyse brachte Robert Loss dazu, nach Beispielen zu suchen, die belegen, dass Pop auch und vor allem heutzutage in der Lage ist, Neues, Unge- und Unerhörtes zu produzieren – also das, wofür Pop einst angetreten ist beziehungsweise erfunden wurde. Fündig wird Loss – aus dessen Zeilen eine ähnlich große, leidenschaftliche Begeisterung für Musik spricht wie bei seinem „counterpart“ Reynolds – zum Beispiel bei Prince, für ihn einer der wichtigsten Erneuerer des Pop, buchstäblich bis zu dessen letzten Tönen, aber auch bei Superbowl-Auftritten von Katy Perry oder dem neuen Rap-Superstar Kendrick Lamar. Manche Argumentationslinie wirkt ein wenig bemüht, dennoch sollte man Robert Loss für sein Ansinnen dankbar sein. Ja, Pop ist eine unermüdliche, gierige Wiederverwertungsmaschinerie – aber es wird immer wieder jemand wie Prince geben, der oder die die Gitarre so unerhört neu und anders spielt, wie es noch niemand zuvor getan hat.

a_fieldsDer inzwischen fast 80-jährige Danny Fields ist Impresario und Motor des amerikanischen Punk: Der Filmemacher, Ex-Assistent von Andy Warhol und Radiomoderator managte The Stooges, MC5, Jonathan Richman – und die Ramones, die er seit ihrer ersten Begegnung 1974 im New Yorker Club CBGBs immer wieder fotografierte. Bildbände über die Punk-Ära und ihre ProtagonistInnen gibt es inzwischen ja jede Menge, „My Ramones“ ist dennoch etwas Besonderes: Auf jedem Foto ist die freundschaftliche Beziehung zwischen Fields und seinen Schützlingen förmlich greifbar – und natürlich sind nicht nur Johnny, Joey, Dee Dee und Tommy zu sehen: Fans, FreundInnen, Familie und viele andere New Yorker Szeneikonen wie Debbie Harry und Kollegen wie Leslie McKeown von den Bay City Rollers (!) tummeln sich auf den hunderten Schwarz-Weiß-Fotografien. New York ist nicht der einzige Schauplatz für den Ramones-Schlachtruf „Gabba Gabba Hey“: Als Manager war Fields mit der Band in Europa und Asien unterwegs. Apropos unterwegs: Erst kürzlich war der fröhliche Mr. Fields im Berliner Ramones-Museum zu Gast, um sein schönes Gedenkbuch vorzustellen.

a_hipDass es Gemeinsamkeiten zwischen Pink Floyd und Throbbing Gristle geben könnte, war der Verfasserin dieser Zeilen nicht bekannt, bis die Lektüre von „Vinyl. Album. Cover. Art.“ sie eines Besseren belehrte: Throbbing Gristle-Gründungsmitglied Peter „Sleazy“ Christopherson war auch Teil des Londoner Grafikdesigner-Trios Hipgnosis, das seit den späten sechziger Jahren bis in die mittleren Achtziger spektakuläre, rätselhafte, bahnbrechende, oft großformatige Ausklapp-Plattencover schuf, unter anderem das berühmte Kuh-Cover für Pink Floyds Album „Atom Heart Mother“ von 1970. Lesen bildet, sagen wir doch! Das Buch ist natürlich nicht nur wegen der TG-PF-Verbindung interessant: Der einzige noch lebende Hipgnosis-Künstler Aubrey Powell (Christopherson starb 2010, Storm Thorgerson 2013) stellte die Werke zusammen und schrieb ein ausführliches Einleitungskapitel. Das Vorwort stammt von Peter Gabriel, der sich für sein Soloalbum anno 1978 ein Hipgnosis-Cover wünschte – und stundenlange Experimentiersessions mit hunderten Polaroid-Fotografien von seinem Gesicht mitmachen musste, beziehungsweise durfte, denn die Arbeit mit den drei „Verrückten“ von Hipgnosis war in jeder Hinsicht ein Erlebnis. Powell erinnert sich beispielsweise daran, dass Led Zeppelin-Sänger Robert Plant beleidigt reagierte, als er auf einem Cover-Entwurf die durchgestrichenen Namen anderer Bands entdeckte – keine böse Absicht von Hipgnosis, denn: „eine gute Idee ist eine gute Idee – wenn sie nicht zu Band x passt, dann zu Band y“. Led Zeppelin bekamen (und nahmen!) ihr Hipgnosis-Cover, das die Erwartungen an die visuelle Gestaltung eines Hardrock-Albums nicht im Geringsten erfüllte: kein phallischer Zeppelin, keine im Anschlag gehaltene Gitarre, sondern eine Familie am Tisch, auf dem ein obskures Objekt liegt. Das war die große Kunst von Hipgnosis: Verwirrung stiften, Geschichten erzählen, Neugier auf die Musik wecken – und auf die Frage „warum ausgerechnet dieses Motiv?“ stets zurück zu fragen, „warum nicht?“. Im Lauf der knapp zwei Hipgnosis-Jahrzehnte entstanden unvergessliche, ikonische Covergestaltungen, wobei sich Powell, Christopherson und Thorgerson musikalisch nicht festlegten. Die bereits erwähnten Pink Floyd und Led Zeppelin gehörten ebenso zu ihren Kunden wie XTC (die passend zur Wave-Ära eine nur mit Worten bedruckte Hülle bekamen: „This is a record cover …. / this is the back of a record cover“), T. Rex oder Olivia Newton-John. Mitte der Achtziger war die große Zeit von Hipgnosis und dem Albumcover überhaupt vorbei: Die CD bot nur wenig Platz für Covergestaltung, die Hipgnosis-Macher wandten sich anderen Medien wie beispielsweise dem Videodreh zu. Interessante Leute – und tolle freakige Cover zum Gucken.

a_huckWas ist überhaupt Populärkultur? Musik, Filmstars, TV-Serien, Mode, Zeitschriften? Ist Volksmusik dann nicht die Popkultur schlechthin? Oder gilt nur alles, was aus Amerika und anderswo herkommt, also über die große transatlantische Strecke? Christian Huck, Kieler Professor für Kultur- und Medienwissenschaften setzt in seinem Buch viele Schlaglichter – und stellt weniger eine Chronologie der Ereignisse zusammen, sondern zeigt anhand verschiedener Stories, wie die Populärkultur in Deutschland Einzug hielt. Als Anfangspunkt (also doch chronologisch) definiert Huck die Bar – genauer die Hamburg-Amerika Bar, die 1902 am Hamburger Spielbudenplatz eröffnete und nach amerikanischem Vorbild das Nachtleben revolutionierte: Neue Getränke, neue Räume, neue Formen der Kommunikation, Bardamen – in der Bar (das Wort kommt vom englischen „barred“ – scharfe alkoholische Getränke wurden hinter verschlossenen Riegeln aufbewahrt) galten andere Gepflogenheiten als im Wirtshaus, das fortan als überkommen galt.
Die anderen Kapitel sind nicht weniger unterhaltsam: Vom Aufkommen der Jeans in den Fünfziger Jahren bis zum Versuch, HipHop im deutschen Fitness-TV (bitte lesen Sie nach: Eisi Gulp als Vortänzer in der ZDF-Sendung „Enorm in Form“) zu etablieren, über Jazz in Deutschland und das Saxophon als geradezu magisch aufgeladenes Instrument oder die Faszination von Westernheftchen und Detektivromanen – Popkultur wie wir sie heute zu kennen glauben, ist nicht mit der ersten BRAVO vom Himmel gefallen, sondern aus überraschend abwegigen Quellen entstanden. Das Schöne an Hucks Buch ist, dass es gänzlich ohne schon tausendmal erzählte landmarks des Pop in Deutschland (Elvis in Bad Nauheim, die Beatles im StarClub) auskommt. Wenn der Autor auf seiner Lesereise in Ihrem Ort Station macht, sollten Sie unbedingt hingehen: Die Entstehung der Populärkultur könnte sich in einem Cocktail (Highball, Swimmingpool) offenbaren.

Christina Mohr

Jeremy Reed: The Nice (Roman, bilgerverlag 2018, Gebunden, 350 Seiten)
Aus dem Englischen von Pociao
ISBN 978-3-03762-071-7
www.Bilgerverlag.ch

Robert Loss: Nothing Has Been Done Before. Seeking the New in 21st-Century American Popular Music (Bloomsbury Academic 2017, Broschur, 280 Seiten)
ISBN 978-1-5013-2202-0
www.bloomsbury.com

Christian Huck: Wie die Populärkultur nach Deutschland kam (Textem Verlag 2018, Broschur, 319 Seiten, viele Abbildungen)
ISBN 978-3-86485-187-2
www.textem.de

Danny Fields: My Ramones (Reel Art Press 2018, Hardcover, 176 Seiten, mehr als 250 Abbildungen)
ISBN 978-1-909526-55-6
www.reelartpress.com

Aubrey Powell: Vinyl Album Cover Art. Hipgnosis – Das Gesamtwerk. Vorwort von Peter Gabriel (edel ear books 2018, Hardcover, 320 Seiten, viele Abbildungen)
Deutsch von Sonja Kerkhoffs)
ISBN 978-3-8419-0608-3
www.edel.com