Schluss
– „Maligne“ ist die entscheidende Vokabel in Pschyrembels Klinischem Wörterbuch über das Glioblastom. Bösartig. Aggressive Zellen infiltrieren die Hirnsubstanz bis in feinste Verästelungen hinein, so dass sie nie vollständig entfernt werden können. Unerbittlich wachsen sie nach, selbst wenn der Kerntumor ausgeräumt ist. Wer davon erwischt wird, stirbt in der Regel innerhalb von zwei Jahren. Und je nach Hirnregion leiden die Betroffenen während dieses Untergangs unter schweren Ausfällen (Lähmung, Verlust der Sprache).
Wolfgang Herrndorf hat es drei Jahre lang geschafft, mit der Krankheit zu leben. Das heißt: an ihr zu sterben. Sein Blog „Arbeit und Struktur“, zunächst nur für Freunde bestimmt und nicht öffentlich, dann lesbar für alle, dokumentiert die ständige Drohung, das immer präsente Bewusstsein der Unheilbarkeit, der Progression des Schlimmeren ins Schlimmste. So ein Blog schreibt man vor allem für sich selbst, aus existentieller Not und Notwendigkeit, um die Situation halbwegs auszuhalten.
Dennoch gibt es den Drang, die Wunde zu zeigen, öffentlich davon zu sprechen. Und es hilft wohl auch zu wissen, dass andere Anteil nehmen und den Skandal empfinden, den eine solche Krankheit darstellt. Trösten im altmodischen Sinn können Zehntausende Leser allerdings nicht, darauf war Herrndorf auch nicht aus, er schottete sich ab. Und der zuständige Leser wäre ja Gott, aber der existiert hier nicht mal als gestrichen.
Wahrscheinlich blieb gerade bei denen, die dem Blog mit Anteilnahme folgten, immer auch ein Unbehagen, eine Beklommenheit. Was mache ich hier? Lese ich ein Real-Life-Docu-Drama in Fortsetzungen? Schaue ich jemandem beim Sterben zu, obwohl das nur Freunde und Verwandte angeht? Suche ich den Grusel? Schaue ich schnell mal ins Netz, um mich zu vergewissern, dass er noch lebt, und wirkt das seltsamerweise wie eine Ermutigung des eigenen Lebens?
Herrndorfs Blog ist nicht nur Konfession, sondern Literatur. Jeder Satz darin musste sich gegen den Tod behaupten und das heißt vor allem: gegen den Kitsch, die Larmoyanz, die Phrasen. Immer wieder habe ich bewundert, wie ihm die Balance gelang zwischen Zeigen und Verschweigen, Zorn und Empfindsamkeit, Sarkasmus und Emotion, Lakonie und heftigem Ausbruch. Nüchterne Beobachtungen in der Psychiatrie, knappe Sätze über Depressionen. Manchmal auch: Glück. Schwimmen im See, Fußballspielen mit Freunden, Fahrrad fahren. In der Sonne sitzen, von der ersehnten Dachterrasse aus auf die Stadt blicken. Bücher lesen und prüfen, ob sie standhalten, auch in dieser Situation, oder plötzlich nichts mehr taugen. Zum Beispiel „Das große Heft“ von Agota Kristof. Ja, die kannte die Bitterkeit.
„Arbeit und Struktur“ ist niemals redselig, niemals aufgedonnert. Immer wieder aber voll geballter Wut auf das sinnlose, schmähliche, täglich fortschreitende Zugrundegehen. Die letzten Notizen erwähnen die, die ihm „beim Blog helfen“, die, die die Einträge für ihn einstellten, als er es nicht mehr selber konnte. Und die wohl halfen, die Blogtexte zu lektorieren und für den Druck vorzubereiten. Außerdem scheint Herrndorf es noch geschafft zu haben, „Isa“ fertigzustellen, die Erzählung, an der er bis zuletzt gearbeitet hat und die an „Tschick“ anknüpft, denn dort begegnen sich Isa und Maik, und jeder „Tschick“-Fan wird erfahren wollen, wie die Geschichte der beiden weitergeht. Weit über den Tod hinaus wird Herrndorfs Stimme zu hören sein.
Herrndorf, der Autor, hat ein gutes Stück Zeit gebraucht, um Leser zu erreichen. Als aber Tschick und Maik in die Welt geschickt und auf Tour gegangen waren, breitete sich die Liebe zu ihnen nach Art eines Schneeballsystems aus. Es waren die Leser, die diesen Erfolg „machten“, nicht die Werbung, nicht die Kritik. Inzwischen ist das Buch an der Schule angekommen und wird per Lehrplan eine Generation definieren wie einst „Die neuen Leiden des jungen W.“ „Tschick“ ist jetzt der Roman, dem kein Jugendlicher entkommen kann. Kein leichtes Schicksal für ein Buch.
Mit ein paar Freunden flog Herrndorf im Frühjahr nach Marokko und stellte danach ein Foto ins Netz: nebeneinander stehen fünf oder sechs junge Männer am Strand, barfuß, braun gebrannt, strahlend und scheinbar sorglos unter blauem Himmel. Er fällt da nicht auf. Die Haare sind nachgewachsen, das Lachen ist das der anderen. Keine Allüren, kein Sonderstatus. Ich glaube nicht, dass es sein Ziel war, der „Bestsellerautor“ zu werden, als der er nun in allen Meldungen tituliert wird. Ich denke, er wollte gute Bücher schreiben, die einigen, vielleicht sogar vielen Menschen viel bedeuten. Ein ziemlich verbreiteter, schwer zu realisierender Wunsch. Er hat es geschafft.
„Schluss“, lautet der letzte Eintrag seines Blogs. „Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen“.
Gisela Trahms
Zum Blog „Arbeit und Struktur“. Gisela Trahms in CM über Wolfgang Herrndorfs Erzählung „Der Weg der Soldaten“ hier, eine kurze CM-Rezensionen von „Tschick“ finden Sie hier. Foto: Wikimedia Creative Commons, Autor: Genista, Quelle.
Apostrophe
Wikipedia: The apostrophe ( ’ although often rendered as ‚ ) is a punctuation mark, and sometimes a diacritical mark, in languages that use the Latin alphabet or certain other alphabets. →