Geschrieben am 19. Oktober 2011 von für Litmag, Porträts / Interviews

Zum Tod des italienischen Dichters Andrea Zanzotto

Kopfsprünge

– Der „Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie“ wurde im Jahr 1993 dem italienischen Lyriker Andrea Zanzotto verliehen. Um die Wahl eines in Deutschland kaum bekannten Lyrikers zu begründen, zitierte die Jury Eugenio Montale, einen der ganz Großen der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Die Dichtung von Zanzotto sei, so schrieb einmal Montale, „eine höchst gelehrte und ein wahrer Kopfsprung in jenen Vor-Ausdrucksbereich, der dem artikulierten Wort vorausgeht.“ Hier findet man tatsächlich alles, was die Lyrik von Andrea Zanzotto so einmalig – und fast unübersetzbar in eine andere Sprache macht. Von Carl Wilhelm Macke.

Geboren wurde er 1921 in einem kleinen Flecken inmitten des Veneto, einer einstmals ärmlichen und sehr katholischen Region des italienischen Nordostens. Zeitlebens hat der Dichter seine Geburtsheimat auch nie verlassen. In einem radikalen Modernisierungsprozess, der ein starkes Echo gefunden hat in der Lyrik Zanzottos, hat sich das Veneto zu einer heute extrem industrialisierten Region entwickelt. Mit Zähnen und Klauen wird heute dieser leidliche Reichtum der Region gegen alle verteidigt, die auch die Kosten dieses Wohlstands anklagen. Es hat Gründe, warum die „Lega Nord“ hier ihre Hochburg hat.

Dass ein Andrea Zanzotto ausgerechnet von den Wählern und Funktionären dieser Partei gelesen, geschweige denn verstanden wird, ist sehr unwahrscheinlich. Wenn dann aber der von der Lega Nord gestellte Präsident dieser Region den verstorbenen Dichter als großen Repräsentanten der Humanität und Freiheit des Veneto preist, ist das nur peinlich. Zanzotto integrierte zwar immer wieder die Heimatdialekte in seine oft sehr ausufernden Langgedichte, aber mit Nostalgie und Konservierung provinzieller Enge hat diese Poesie rein gar nichts zu tun. Zanzotto sei, so schrieb einmal ein Kenner der modernen Weltpoesie, „ein mit allen Wassern der Poesie, der Linguistik, des Films, der aktuellen Musik und der bildenden Kunst gewaschener Poet“ (Joachim Sartorius).

Andere Kritiker gingen sogar so weit, die Gedichte von Zanzotto auf das Niveau von Hölderlin und Celan zu heben. Dass sie ähnlich wie die Gedichte der beiden großen deutschen Dichter sich einer schnellen Interpretation verweigern, ist zweifellos richtig. Eine sehr erlesene deutschsprachige Edition der Gedichte von Andrea Zanzotto ist im österreichischen Folio Verlag erschienen. Gegen die Übersetzung der Gedichte in dieser Gesamtedition sind jedoch (von Maike Albath) heftige Einwände erhoben worden. Ob sie zutreffen, kann jedoch nur beurteilen, wer nicht nur die italienische Sprache, sondern auch noch die Dialekte des Veneto wirklich beherrscht.

In dem 2009 nur in italienischer Sprache publizierten Band mit Gesprächen hat der alte Zanzotto noch einmal mit großer Wucht und Klarheit vor den „neuen Barbaren“ gewarnt, die dem schnell verdienten Geld und dem Wohlstand alles opfern, die Landschaft, die humanitären Ideale und den Reichtum der Sprache. Und er hat dabei auch direkt diejenigen angegriffen, die ihn wie die Politiker der Lega Nord jetzt nach seinem Tod als einen der ganz großen intellektuellen Figuren des Veneto feiern.

Dass er sich immer der antifaschistischen Tradition der „Resistenza“ verbunden fühlte und nie ein Blatt vor den Mund nahm in der Verurteilung der politischen Rechten, wurde in diesen Nachrufen natürlich verschwiegen. Kopfsprünge in ein Meer von Dummheit hätte Zanzotto diese Krokodilstränen in einigen der ihm gewidmeten Nekrologen genannt.

Carl Wilhelm Macke

Foto: Giovanna Borgese