Auch für mich
– Carl Wilhelm Macke über die Politikerin und Publizistin Rossana Rossanda, die am 23. April 90 Jahre alt geworden ist.
„Wir sind dabei“, schrieb die italienische Publizistin Rossana Rossanda einmal an ihren alten Freund, den Politiker Pietro Ingrao, „unser Leben mit einer Niederlage zu beenden, die mehr als persönlich ist, aber auch in persönlicher Einsamkeit.“ Für zwei linke Politiker und Intellektuelle, die ihr ganzes Lebens lang für eine solidarischere Gesellschaft kämpften als es der Kapitalismus bieten kann, ist das eine harte, eine sehr bittere Erkenntnis. In den Siebziger, Achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte „la Rossanda“ mit ihren unendlich vielen öffentlichen Kommentaren zur politischen Entwicklung nicht nur in Italien einen großen Namen. Seit Jahren jedoch findet die bis ins hohe Alter hinein schreibende Publizistin Rossanda kaum noch ein Echo in der Öffentlichkeit Italiens, geschweige denn jenseits dieses Landes. Sie gilt als eine alte Marxistin, die noch einer Generation angehört, deren Weltanschauung eingerahmt wird von Faschismus, Krieg, Widerstand und Klassenkampf. Aber hat dieser zeithistorische Rahmen denn, außer an irgendwelche Festtagen, noch irgendeine Bedeutung in den heutigen politischen Debatten…?
Die ersten politischen Erinnerungsbilder der Rossanda gehen auf die Zeit des 2. Weltkrieges und des Kampfes gegen den Faschismus zurück. „Ich sehe die Körper der auf den Plätzen erhängten Genossen und die nach der Erschießung in Mailand aufgeschichteten Leichen noch vor mir. Ich spüre noch die Kälte, die Mühsal jener Winter, die Zweifel und die labile Hoffnung, daß all dies etwas nützen werde…Wer in jenen Jahren erwachsen wurde, der vermag die Suche nach seiner Identität nie mehr als seine Privatsache aufzufassen.“
1943, in dem Jahr des faschistischen Zusammenbruchs, suchte die aus bürgerlichen Kreisen des italienischen Nord-Osten um Triest stammende und schon früh entschieden antifaschistische Studentin Rossana Rossanda den ersten, noch schüchternen Kontakt zu den Kommunisten. Fasziniert von ihrem Idealismus begann Rossana Rossanda damals ihre philosophischen Studien an der Universität zu verbinden mit der Kuriertätigkeit zwischen verschiedenen kommunistischen Zellen im Mailänder Hinterland. Langsam wuchs die bürgerliche Intellektuelle Rossanda so in die Kultur des der italienischen Arbeiterbewegung hinein. Sie solidarisierte sich mit ihr, verteilte Flugblätter für sie, schrieb für sie, aber sie leugnete ihre Herkunft aus der norditalienischen Bourgeoisie nie ab. „Ich bin eine typische bürgerliche Intellektuelle, die eine kommunistische Wahl getroffen hat.“
Geschult in jahrzehntelanger, organisierter politischer Arbeit, stilistisch geschärft durch die publizistische Tagesarbeit in den Organen der Partei, wurde Rossana Rossanda in den späten sechziger Jahren immer mehr zu der zentralen Figur einer Gruppe von italienischen Intellektuellen die sich als politisch links und gleichzeitig anti-stalinistisch verstanden. Sie gründeten die Zeitschrift „il manifesto“, die dann über Jahrzehnte hinweg zu einem Vorbild für die nicht-stalinistische Linke in Europa wurde.
In den Anfangsjahren bis hinein vielleicht in die achtziger Jahre hatte eine Journalistin wie Rossana Rossanda noch einen eingrenzbaren Adressat ihrer unendlich vieler Kommentare, Polemiken und theoretischen Einmischungen. Es war eine Linke, die zwar in verschiedene Parteien zersplittert war, aber noch über einen großen Vorrat gemeinsam erlebter und ähnlich interpretierter Geschichte verfügte. Diese Gemeinsamkeiten jedoch sind heute jedoch längst zerbrochen. „Die italienische Linke“ gibt es nicht mehr. Sie ist längst Geschichte – auch und vielleicht vor allem, wegen ihrer eigenen Fehler. Die überragende Autorität hat Rossana Rossanda auch in den ihr nahestehenden Kreisen immer mehr verloren, auch wenn der Stil und die Leidenschaft, mit denen sie ihre linken Ideale gegen jeden Zeitgeist verteidigte, ihr Respekt selbst bei den Gegnern verschaffte. Als politische Publizistin hat Rossana Rossanda weder sich selbst noch die Gegner nie geschont. Der Kompaß der Geschichte, der Niederlagen genauso sensibel anzeigt wie die wenigen Erfolge, war für sie das wichtigste Instrument im Kampf für Emanzipation und Befreiung in einem häufig zu emphatischen Sinne. Jahreszahlen wie 1789, 1917 und 1968, Städtenamen wie Paris, Prag, Danzig und Länder wie Chile, Spanien und Portugal waren ihr zum Teil des „eigenen Knochengerüstes“ (Elias Canetti) geworden. Die Erinnerungen an die mit diesen Daten und Namen verbundenen historischen Ereignissen, ihren Glanz und ihre Tragik wachzuhalten, war eine der großen Triebfedern ihrer unaufhörlichen Einmischungen in den Lauf der Zeit.
Die promovierte Philologin Rossanda ist in der Renaissance ebenso zu Hause wie in den Archiven der kommunistischen Bewegung. Sie kennt sich in der klassischen Literatur genauso aus wie in den Schriften der marxistischen Klassiker. Völlig selbstverständlich folgt etwa in dem, Band „Anche per me“ (Auch für mich) ein Essay über den Kunsthistoriker Aby Warburg einem Beitrag über die italienischen Gewerkschaften. Reflektionen über Virginia Woolf folgt eine Polemik gegen die verrottete Classe politica in Italien. Die Utopie des gemeinsamen „Wir“ ist genauso ihr Thema wie die Realität des oft einsamen „Ich“. Sie versteht es, an einem Tag einen gestochen scharfen Essay über die Widersprüche einer aktuellen Justizreform zu schreiben und am nächsten Tag sehr einfühlsame Gedanken anläßlich des Todes eines jungen Linken zu finden. Wer, wie sie einmal an einer Stelle geschrieben hat, die „Endlichkeit als einen großen Wert“ ansieht, findet vielleicht auch leichter als andere die richtigen Worte angesichts des Todes.
In den Texten der Rossana Rossanda scheint noch eine Ahnung oder wenigstens ein Wunsch von einem klassischen Politikbegriff auf, der heute vollkommen verschwunden zu sein scheint. „Das erste Wort der Politik ist unstreitig Politik. Was meint es? Es kommt vom griechischen Polis, was Stadt bedeutet. Politik bezeichnet die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten der Stadt, des organisierten Gemeinwesens… Politik ist also der Ort, an dem über die öffentlichen Angelegenheiten verhandelt und befunden wird.“ Wenn Politik tatsächlich so einfach ist, warum mischen wir uns da denn nicht mehr ein?
„In der Zerstörung der Formen“, wie das Schlusskapitel ihres vielleicht besten Buches „Vergebliche Reise“ (1982) überschrieben ist, gewinnen die Leser einen nachhaltigen Eindruck von der Art, wie die Rossanda komplizierte gesellschaftliche Prozesse in Bilder zu übersetzen versteht, wie man Politik immer auch als eine „education sentimentale“ verstehen muss, die „durch Leiden und Leidenschaften, durch Freundschaften und Kontroversen, durch Vertrauen und Abschied“ führt. Mit dieser Vorstellung von Politik, mit ihren Idealen, ihrem Stil zu leben und zu schreiben, ist es in den letzten Jahren um linke Intellektuelle wie Rossana Rossanda tatsächlich sehr einsam geworden.
Carl Wilhelm Macke
Foto: Rossana Rossanda 1963. Wikimedia Commons, Quelle. Autor.