Geschrieben am 10. Juli 2008 von für Litmag, Porträts / Interviews

Zum 77. Geburtstag von Alice Munro

Anrührende Tücke

Die kanadische Erzählerin Alice Munro wird 77. Von Gisela Trahms

Kein runder Geburtstag, keiner mit Pauken und Trompeten. Und natürlich kann Alice Munro 100 werden, und dann hat die Schwedische Akademie tatsächlich noch Zeit mit der Zuerkennung des Nobelpreises. Doris Lessing war 88, Harold Pinter kurz vorm Grabe. Offenbar figuriert Alice Munro auf den Listen der Akademie noch im Mittelfeld der rüstigen Zukünftigen. Dabei sollte sie den Preis längst haben. Wer ihre beiden letzten Bücher gelesen hat („Tricks“ und „Himmel und Hölle“) und sich vorstellt, er solle das Alter der Verfasserin schätzen, rein aus dem Text heraus, würde wohl sagen: Jung ist sie nicht. Junge Autoren schreiben anders über andere Protagonisten in einer anderen Welt, und außerdem ist hier jemand am Werk, der Lebensläufe verfolgt hat, den eigenen wie fremde, was nicht dasselbe ist wie „das Leben kennen“.

Aber alt im Sinne von Darstellungsschwächen oder schlapper Weisheit ist sie auch nicht. Der Zahn ist scharf und beißfest, das Herz frei von Sentimentalität, der Blick auf die Welt klar und schwarz. An Alice Munro lässt sich studieren, wie jemand, der sein ganzes Leben lang Variationen zu einem relativ begrenzten Themenkreis in immer derselben Form geschrieben hat, in die Alterslosigkeit wandert – a place of her own. Dort konstruiert sie jene Textfallen, die den Leser nicht mehr loslassen.
Zum Beispiel so: In einer Kleinstadt schießt ein Pensionär erst seine Frau, dann sich selbst aus dem Leben, mit einer Schrotflinte. Reichlich Blut und Körpergrütze im ganzen Schlafzimmer. Was würden Sie tun als Nachbarin, die die Leichen findet? Die Polizei rufen, klar. Und dann? Dann geht Peg, verheiratet, zwei Kinder, arbeiten, wie jeden Tag. Sie ruft nicht ihren Mann an. Sie sagt ihrem halbwüchsigen Sohn, der zuhause eine Grippe auskuriert, nichts. Sie bleibt ganz ruhig. Erst später, als ihr Mann kommt, der die Sensation schon an der Tankstelle gehört hat, spricht sie darüber. Und wer denkt, dass es um die Aufklärung des Todesfalls oder Pegs Beteiligung daran geht, irrt.

In dem Augenblick, da Peg, noch im Treppenhaus, das Schreckliche ahnt, schneidet Alice Munro um auf die Außensicht, und das ist vor allem die ihres Mannes. Robert vergleicht den Bericht des Polizisten mit dem, was Peg ihm erzählt.

In einem winzigen, verstörenden Detail stimmen die beiden Versionen nicht überein. Das gibt den Blick frei auf eine ihm bislang unbekannte, rätselhafte Person, mit der er gleichwohl weiter leben wird, und sich das vorzustellen, hat der Leser gut zu tun. „Anfälle“ heißt die Geschichte (aus dem Band „Der Mond über der Eisbahn“), und in ihr wird demonstriert, wie eine Figur über 30 Seiten nicht näherkommt, sondern sich immer mehr entfernt, wie sie entweicht ins Fremde.

Nun trainieren ja tausend Autoren unsere Fähigkeit, hinter der Fassade den Abgrund wahrzunehmen. Aber darum handelt es sich bei Alice Munro nicht. Die Fassade ist keine Fassade, sondern der Mensch, wie er eben ist, nur dass in seinem Inneren eine Menge Türen aufgehen können, die in sehr überraschende Räume führen. Die müssen nicht immer dunkel sein. Jede Menge Zwielicht, Widersprüchliches, auch Komisches. Niemand wird verurteilt, und die ganz Bösen wohnen ja sowieso weit weg bei Stephen King.
Allein in der Konstruktion der Handlung leuchtet jener Hintersinn, jene Ausweglosigkeit auf, die den Leser festnagelt. Wie zum Teufel ist dieser oder jener Satz zu verstehen? Was hat diese oder jene Figur in der Zeit getan, über die wir nichts erfahren? Man probiere es einmal mit „Der Bär kam über den Berg“ (aus dem Band „Himmel und Hölle“) – ich habe noch nicht zwei Leute getroffen, die in der Deutung des Endes übereinstimmen.

Alice Laidlow wurde am 10.7.1931 im ländlichen Ontario als Tochter eines Farmers und einer Lehrerin geboren. Sie begann zu studieren, verließ aber die Uni mit zwanzig, um James Munro zu heiraten, mit dem sie drei Töchter hatte. Die Ehe hielt bis 1972, vier Jahre später heiratete sie noch einmal. Sie begann früh zu schreiben, der Durchbruch kam mit der ersten Sammlung short-stories, als sie Mitte dreißig war. Mehrfach hat sie die höchste kanadische Auszeichnung für Literatur, den Governor’s Award, erhalten, dazu eine Menge anderer Preise der englischsprachigen Welt.
Dass sie hier nicht so bekannt ist wie ihre Freundin Margaret Atwood, liegt sicher auch daran, dass sie das Schmökerbedürfnis nicht bedient: Sie schreibt Erzählungen. Einmal hat sie versucht, einen Roman zustande zu bringen, aber er gefiel weder ihr noch den Lesern. Stories aber treffen, besonders in Deutschland, auf die Naja – Resonanz. Ganz nett, lautet das Vorurteil, aber doch eher ein Nebenbei – Produkt, wenn es für ein „richtiges“ Buch, sprich Roman, nicht reicht.
Dass Geschichten es einmal auf die Bestsellerlisten schaffen wie Judith Hermanns „Sommerhaus, später“, bleibt die Ausnahme, und dass ihr zweites Buch wieder kein Roman war, wurde ihr schon übel genommen. Und man muss ja auch zugeben, dass Erzählungen anstrengender zu lesen sind als jene Epen, die so angenehm das Hirn benebeln, indem sie Komplettwelten darbieten, die keine Frage offen lassen. Bei Alice Munro signalisiert schon die Form, was für ein Stückwerk das Leben ist, wie wir uns weiter hangeln von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, zwischendurch ein paar Abstürze hinter uns bringen und uns dann wieder aufrappeln und weitermachen bis zur nächsten Katastrophe.
Dabei kann es zu sehr unerwarteten Wendungen der Ereignisse kommen, wie beispielsweise die junge Edith erfährt, die aus Langeweile und Bosheit eine in ihren Augen äußerst lächerliche Haushälterin in die Blamage treiben will. Aber dann sitzt diese Johanna plötzlich im Glück, mit Mann Ken und Söhnchen Omar. Omar! Edith kann es kaum fassen: „Es war dieser ganze Lauf der Dinge, der sie verstörte – so märchenhaft, dabei gleichzeitig banal. Auch beleidigend, wie ein schlechter Scherz oder eine plumpe Warnung, die sie verunsichern sollte. Denn wo stand auf der Liste der Dinge, die sie in ihrem Leben erreichen wollte, irgendetwas davon, für das Erdendasein eines Wesens namens Omar verantwortlich zu sein?“
Drei Sätze, die Ediths Gedanken zusammenfassen. Die ersten beiden kann sie wohl selbst so denken und empfinden. Aber die Eleganz des dritten in seiner heiteren Tücke wird die trotz aller Schläue so beschränkte Edith im Leben nicht erreichen. Das ist Alice Munro at her best.

Gisela Trahms