Geschrieben am 3. Juli 2013 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Wolfram Schüttes Petits riens

culturmag_logo_quadratPetits riens (IV)

– Wolfram Schütte über die usamerikanische „fürsorgliche Ausspähung“ unter „politischen Freunden“; einen philosophierenden Fußballtrainer, „Oral History“ und das Justiz- & Psychiatrieopfer Gustl Mollath.

Fürsorgliche Belagerung Man stelle sich für einen Augenblick vor, der russische Geheimdienst hätte sich in der europäischen Netzwelt so ungeniert & selbstverständlich umgesehen, bzw. zuhause gefühlt wie bis zu Edward Snowdens Enthüllungen via „Guardian“ die uasamerikanischen und britischen Geheimdienste. Diplomatisch wären solche Eingriffe kaum noch zu behandeln gewesen. Aber glücklicherweise hat Snowden nur die „fürsorgliche Ausspähung“ unter „politischen Freunden“ offenbart – vorsorgliche Verhaltensweisen, die bislang als „brüderliche Hilfe“ nur von der dahingegangenen Sowjetunion bekannt oder gemutmaßt & ihr mit großem propagandistischem Tamtam vorgeworfen worden waren: und zwar von der Verteidigerin des „Freien Westens“ in Washington. Dass man aber dort die diplomatischen Vertretungen Frankreichs, Italiens & Griechenlands ausspäht & ausgerechnet Deutschland als einziges Land in Europa so von der NSA angegriffen wird wie nur der Iran, dürfte allen europäischen „Transatlantikern“ unter den europäischen Politikern besonders peinlich sein.

Gerade die deutschen Regierungen bemühen sich ja um besonders hervorragendes Wohlverhalten im Sinne der USA, die ihnen gleichwohl nicht übern Weg trauen. Dass die NSA die Deutschen mit den Iraner auf eine Stufe der Bespitzelung stellen, könnte einen Hauch von Sinn darin haben, dass es besonders enge, geheime Geschäftsbeziehungen zwischen den Industrien beider Länder gab & wohl auch trotz des Embargos immer noch gibt. Das könnte erklären, warum Amerikas fast immer vorauseilende Musterknaben in Europa zu deren beleidigtem Erstaunen vom Großen Bruder jenseits des Atlantiks trotzdem wie einer behandelt wird, der auf der „Achse des Bösen“ sitzt.

Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin, der offenbar seine linke Vergangenheit für einen Moment des Spottes erinnert, hat jetzt vorgeschlagen, dem Geheimnisverräter Snowden in Europa eine Bleibe zu geben. So verwunderlich dieser Gedanke manchem auf Anhieb erscheinen mag, so spräche doch für ihn, dass es sich dabei doch nicht nur um einen Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit handelte sondern auch um einen sichtbaren, „nachhaltigen“ Dank für eine mutige individuelle Tat der europäischen Aufklärung.

Denn ohne Edward Snowdens verräterische Handeln wüssten wir bis heute nichts von den angloamerikanischen spionierenden Tätlichkeiten – wie wir ja auch ohne die postume Selbstanzeige der NSU nichts von deren mörderischen Tätlichkeiten wüssten. Will sagen: nicht Investigationen (weder journalistischer noch kriminal-polizeilicher Art) haben zu diesen beiden Erkenntnissen über folgenreiche verborgene Taten geführt. Das ist schließlich fast ebenso beängstigend wie das einzig dadurch erst ans Licht gekommene Böse. Heißt es doch indirekt: wir sind auf den Verrat, bzw. die Eitelkeit der Täter angewiesen, um ihnen auf die Spur zu kommen.

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Fußballtrainer schlägt Komponisten. – Seit ich in Hans Bunges „Gesprächen mit Hanns Eissler“ auf den Eissler-Satz gestoßen bin: „Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts“, hat mich diese Gedankenvolte fasziniert. Sie schien mir der semantische & intellektuelle Inbegriff von Dialektik zu sein. Dem scharfsinnig-witzigen Komponisten traute ich diese treffende Formulierung eines dialektischen Grundgedankens zu.

Jetzt aber las ich in einem Interview des SZ-Magazins mit dem argentinischen Fußballtrainer César Luis Menotti, der „frei nach Hippokrates“ über einen anderen seiner Kollegen bewundernd erklärt: „Wer nur die Medizin kennt, der weiß nichts von der Medizin, und wer nur vom Fußball was versteht, der versteht nicht mal was vom Fußball“.

Der altgriechische Arzt war also der Ur-Dialektiker & Hanns Eisler, der mit seinem Gedanken sowohl gegen das (unpolitische, ignorante) ästhetische Spezialistentum als auch gegen die wohlfeile Ausrede, sich politisch nicht engagieren zu können, polemisiert hat, hatte die aphoristisch brillante Bemerkung des Hippokrates „nur“ imitativ nachvollzogen & sich als unausgewiesene „fremde Feder an den Hut gesteckt“. Ihm, der die DDR-Nationalhymne zu Bechers Worten „Auferstanden aus Ruinen & der Zukunft zugewandt“ dem von Hans Albers mit brüchiger Stimme gesungenen Abschiedssong „Good bye, Johnny“ musikalisch nachempfunden hat, war beides zuzutrauen: sowohl, den Hippokrates zu „beerben“ als auch von sich aus auf diese Formulierung gekommen zu sein. Menotti aber kennt den gebürtigen Wiener Schönbergschüler gewiss nicht, wenngleich beide politische linke Intellektuelle sind.

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Es gilt das gesprochene Wort. – Die diesjährige Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, gehört zu jener literarischen Spezies, die ihre Literatur aus dem Geiste der Erinnerung & dem Wort des Interviewten aufsteigen lässt. Das dokumentarische Unterfutter ihrer Bücher von Menschen, die Zeugnis von ihrem Leben & Leiden im Gespräch gaben – es ihr anvertrauten –, schneidet sie wie ein Tonregisseur zu Aussagen, Sprachmelodien & Satzfolgen zusammen – zu großen polyphonen Requiems.

Der Friedenspreisträger des vergangenen Jahres, der Chinese Liao Yiwu, bedient sich der gleichen Recherchenmethode für seine „Gespräche mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft“. Es war aber zuerst der usamerikanische Schriftsteller Studs Terkel, der in den Dreißigerjahren als Radioreporter diese Form der „Oral history“ systematisch als ein journalistisch-literarisch-soziologisches Genre entwickelte.

In unserer deutschen Gegenwartsliteratur war Walter Kempowski ein Autor, der diese Form des zeugenhaften Dokumentarismus vielfältig für seine literarischen Montagen nutzte, wohingegen die Journalistin Gabriele Göttle, ganz ähnlich wie Alexijewitsch, längere Gespräche mit Personen führt & daraus einen fortlaufenden Monolog montiert, in dem einzig ihre Gesprächspartner sich äußern. Ohne die elektronischen Aufzeichnungtechniken wären diese abgelauschten, dem Akustischen entsprungenen literarischen Formen nicht möglich. – Der portugiesische Romancier António Lobo Antunes hat in seinem umfangreichen Erzählwerk ein komplexes Geflecht von unterschiedlichen Stimmen entwickelt, die mit-, gegen- & übereinander sprechen, ohne dass ein Erzähler deren wechselnde Präsenz unterbricht: Lobo Antunes´ Romane gleichen symphonischen Stimmen-Clustern, die ohne einen sichtbaren Dirigenten auskommen.

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Ruf nach Dominik Graf Die Wirklichkeit sei nur eine Karikatur unserer großen Romane, behauptet Arno Schmidt am Ende seines Typoskripts „Die Schule der Atheisten“. Wer die buchstäblich zum Himmel schreiende Geschichte des bayrischen Justiz- & Psychiatrieopfers Gustl Mollath in der letzte Zeit verfolgt & ohnmächtig zugesehen hat, wie sich der bayrische Beamtenapparat weigert, den Mann wenigstens zeitweise erst einmal aus der Geschlossenen Psychiatrie zu entlassen, weil von ihm keine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht, der hat wohl schon des Öfteren darüber gegrübelt, ob dieser immer noch fortgesetzte Albtraum wirklich sich in der heutigen deutschen Wirklichkeit zuträgt! (Mehr dazu hier bei CULTurMAG).

Der Fall ist so monströs, die Gefangenschaft des Opfers so unlöslich, seine reale Unschuld so augenfällig, der Hochmut der Ämter so empörend, dass man an ein wirkliches Geschehen in unserer heutigen staatlichen Wirklichkeit nicht glauben möchte. Im Feudalismus oder unter einer Diktatur hielte man so etwas für möglich; dass es sich in einer westlichen Demokratie mit einer freien Presse zuträgt, die für das offensichtliche Justizopfer ebenso lautstark wie bislang folgenlos eintritt, muss man für einen kafkaesken Vorgang halten, der noch skandalöser ist als das Martyrium Gustl Mollaths.

Denn vor aller Angesicht sitzen die Herrschaften, die gewählt wurden, um ihre Bürger vor Amtsmissbrauch zu schützen, den Amtsmissbrauch ihrer Kollegen aus, während das Opfer in der Geschlossenen Psychiatrie wie ein des Rückfalls verdächtiger Sexualtriebtäter unter Verschluss gehalten wird.

Es ist nicht nur Kleists „Michael Kohlhaas“, dessen Empörung einem Beobachter als adäquate Emotion nahe rückt, wenn man an Gustl Mollath denkt; sondern Hollywoods „Schwarze Serie“ kommt einem auch in den Sinn, wenngleich sich der Plot nicht bis zum Filmtitel eines B-Pictures verdichtet, in dem eine raffinierte Ehebrecherin zugunsten ihrer Liebschaft den unschuldigen Ehemann hinter den Gittern der Psychiatrischen Anstalt verschwinden lässt.

Sicher aber ist: das, was jetzt schon über den Fall Gustl Mollath bekannt ist, reicht für einen Film, der en détail et en gros ein Sittenbild unserer Gesellschaft entwerfen könnte, wie es Claude Chabrol für die französische so oft & so brillant gezeichnet hat. Ich frage mich, warum Dominik Graf – der einzige, der´s bei uns könnte – nicht schon längst an die Arbeit gegangen ist.

Wolfram Schütte

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