Man muss immer modern sein
– Ein Porträt der Erinnerung: Wolfram Schütte über den italienischen Regisseur Michelangelo Antonioni, der am 29. September 100 Jahre alt geworden wäre.
Möglicherweise ist Michelangelo Antonioni, wie ein Schweizer Kritiker einmal schrieb, der einzige moderne Autor des Films, weil er die aktuellen Entwicklungen der westlichen Gesellschaft und Psyche nicht an deren versunkenen Ordnungen maß. Und vielleicht gehört der Phänomenologe einer von ihm konstatierten „Krankheit der Gefühle“, der als Anti-Romantiker geistig und intellektuell immer auf der Höhe seiner Zeit sein wollte, eben deshalb zu den von seinen Zeitgenossen am meisten missverstandenen Filmautoren.
Rimbauds lauter Fanfaren-Stoß: „Il faut-être absolument moderne“ klingt vielleicht gestopfter, verhaltener bei Antonioni fort; aber die Moderne als Ziel bleibt ihm Kompass in einer Welt, die irreversibel jene einst von Karl Marx und Max Weber konstatierte Entfremdung, Verdinglichung und „Entzauberung“ erreicht hat. Eine gesellschaftliche Kältezone, die es zu durchmessen gilt und der sich die Menschen anpassen müssen, wie Antonioni anlässlich der Diskussion um „Il deserto rosso“ (1964) äußerte, weil der Film damals als ökologische Anklage avant la lettre missverstanden wurde.
Es gibt keinen Weg zurück: In der absoluten Gegenwärtigkeit des Antonionischen Kinos, das kaum die Rückblende kennt, wird der existenzielle Augenblick des Jetzt favorisiert.
Damit steht Antonionis Oeuvre ebenso janusköpfig auf dem Zenit einer Epoche des tiefgreifenden gesellschaftlichen, politischen und technischen Wandels wie das sowohl Abschied nehmende als auch neugierig in die unbestimmte Zukunft blickende Bühnenwerk Anton Tschechows an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Wie der russische Dramatiker analysiert der Ferrareser Filmautor die epochalen Verschiebungen, Verwerfungen und Konflikte in den zwischenmenschlichen, erotischen und kommunikativen Beziehungen.
Das Unausgesprochene relativiert und kritisiert das Ausgesprochene; Landschaft, Ambiente und Raum treten bei Antonioni als komplementäre Ausdrucksmittel neben den menschlichen Körper & die Präsenz der Schauspieler, ihrer Gestik und Mimik.
Es ist die perspektivische Architektur des Raums, die Antonionis Werke im modernen Film so solitär erscheinen lassen wie Piero della Francescas Gemälde in der malerischen Renaissance. Einzig in der optischen Kalligrafie des Japaners Jazujiro Ozus, diesem Analytiker des Untergangs der japanischen Familie, findet sich eine Antonioni vergleichbare Ästhetik des Diskreten, ein ähnlich zärtlicher Umgang mit der Einsamkeit, in der sich ihre Personen bewegen.
Nostalgie ist Antonioni so fremd wie Utopismus; weder trauert er um das bäuerliche Universum oder sucht er einen Ausweg in der Archaik oder Exotik (wie Pier Paolo Pasolini), noch träumt er von der sterbenden Schönheit der Aristokratie und der brüderlichen Solidarität des Proletariats wie Luchino Visconti. Auch der Wärmestrom des (katholischen) Glaubens und die didaktische Demut Roberto Rossellinis oder die aufschäumende Erotik und Fantastik des Karnevalesken und Barocken, wie sie das Oeuvre Fellinis durchpulst, ist im Werk des Ferrareser Agnostikers nicht vorhanden.
Er hat ein sehr männliches, metropolitanes, intellektuelles Oeuvre geschaffen, das gleichwohl die subtilere Sensibilität für die seismografische Wahrnehmung der Logik des Zerfalls (Hermann Broch) den Frauen zuspricht.
Unter ihnen nimmt Monica Vitti eine besondere Stellung ein: Ohne ihre zentrale Präsenz in den italienischen Filmen von „L’avventura“ (1959) bis zu „Il deserto rosso“ und dann noch einmal in „Il mistero di Oberwald“ (1979), also Antonionis avanciertestem Farb- & Videoexperiment, ist seine Oeuvre so wenig vorstellbar wie das Josef von Sternbergs ohne Marlene Dietrich.
Die junge Vitti war Antonioni nicht nur persönlich verbunden, sondern die Filme, die sie zusammen gemacht haben, vollziehen auch schrittweise die persönliche Entfremdung und die emanzipatorische Entfernung der Schauspielerin von dem Regisseur nach, der sie zwar entdeckt, aber zugleich auch zur leidenden Ikone seines Werkes gemacht, um nicht zu sagen damit identifiziert hatte. Aus dieser persönlichen Beziehung ist aber zugleich die singuläre Intensität der italienischen Trilogie von „L’avventura“ über „La notte“ (1960) bis zu „L’eclisse“ (1962) entstanden: Die paradigmatische Geschichte der Liebe in den Zeiten ihres fortschreitenden Erlöschens, gesehen und erfahren durch die Seele einer Frau, zu deren Medium sich der Regisseur gemacht hatte. Eine großartigere (filmische) Trilogie als Seismogramm ihrer Zeit gibt es in der gesamten Nachkriegsgeschichte nicht.
Mit dem Wechsel vom Schwarz-Weiß-Film zur Farbe, also mit „Il deserto rosso“, wechselt Antonioni auch die Perspektive; nun sind die Männer das Medium seiner nicht bloß mehr italienischen, sondern seiner Welt–Zeit–Erkundungen. Sowohl bedingt durch die Krise in der italienischen Filmindustrie und die Globalisierung der internationalen Filmproduktion, als auch durch Antonionis ausgreifendes politisches Interesse ist er nun an den Brennpunkten der globalen Moderne zu finden. Zuerst im Swinging London („Blow up“, 1966), dann bei den Flower People und den militanten Studentenprotesten gegen den Vietnamkrieg („Zabriskie Point“, 1970) wie auch während der Kulturrevolution in Maos China („Chung Kuoì“, 1972).
„Professione. Reporter“ (1975) schließlich begibt sich in die Zwielichtzone von Waffenschmuggel für afrikanische Befreiungsbewegungen und der versuchten Befreiung von der eigenen existenziellen Identität des ohnmächtigen mitteleuropäischen Reporters: eine tödliche Illusion.
Antonionis Kino zeigte sich von Anfang an stark geprägt von der Spiritualität der Malerei, der Präsenz der Dinge und von der meditativen Stille des Blicks, den Fermaten des Schweigens und der Ambiguität der Geräusche. Damit hat er subtil und elegant die narrative Logik der psychologischen Erzählung unterminiert, mit der das populäre Mainstream-Kino Hollywoods und selbst noch der Neorealismus den Roman des 19. Jahrhunderts beerbt hatten. Seine fortlaufenden Verstöße gegen die kommunikativen Sicherheiten, die im Neorealismus des Erzählkinos simuliert werden, haben Antonionis vollkommen transparente Filme auf den ersten Blick befremdlich erscheinen und danach rätselhaft bleiben lassen. Sie erzählen vom Oszillieren der Wirklichkeit und dem Verschwinden der Realität in der Fiktion.
Bevor das Fernsehen, als visuelles Leitmedium unserer Welterfahrung die Bilderproduktion inflationierte und die Identität von Erleben & Erfahren fragwürdig hat werden lassen, hatte er bereits in „Blow up“ und „Professione: Reporter“ diesen Prozess der Entwirklichung des Realen vorausbeschrieben.
Die Entwicklung seines Oeuvres offenbart, wenn man es zurückbuchstabiert, eine erstaunliche Konsequenz, die immer entschiedener und radikaler zur Selbstreflexion des eigenen Metiers und Mediums führt. So kann man den letzten der von ihm souverän gestalteten Filme, „Identificatione di una donna“ (1982), als Antonionis Version dessen betrachten, was Federico Fellini für sich in „Otto e mezzo“ versucht hatte: die intimste Reflexion des Filmregisseurs über den Beruf und dessen Obsessionen, über Scheitern und Gelingen bei der Suche des Stoffs und nicht zuletzt über die Anziehung und Abstoßung der Geschlechter und die endgültige Kapitulation des Mannes, die ideale Frau zu identifizieren, gewissermaßen erkennungsdienstlich zu fixieren. Und selbst der in Zusammenarbeit mit Wim Wenders von dem gelähmten Antonioni nach einigen seiner kleinen literarischen Erzählungen und Skizzen, die jetzt wieder bei Wagenbach vorliegen, 1995 entstandene Episodenfilm „Jenseits der Wolken“ besteht aus einem Kaleidoskop camoußierter autobiografischer kunst- & identitätsphilosophischer Reflexionen.
Wahrscheinlich hat sein französischer Bewunderer Roland Barthes das Geheimnis der zarten Empirie Antonionis am besten erkannt, als er dessen verliebter Aufmerksamkeit die Weisheit zusprach, zu wissen, dass der Sinn einer Sache nicht ihre Wahrheit ist. „Ihre Kunst“, schrieb der Semiologe und Philosoph 1980 in einer Hommage à Antonioni, „besteht darin, den Weg des Sinns immer offen zu lassen, aus Skrupel. Darin erfüllen Sie genau die Aufgabe des Künstlers, den unsere Zeit braucht: weder dogmatisch noch unbestimmt zu sein.“
Wolfram Schütte
Eine Filmografie finden Sie hier, Antonionis Lebensdaten hier. Foto Antonioni: Heinz Trenczak, Quelle: Wikimedia Commons.