Geschrieben am 15. April 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Wolfram Schütte zum Tod von Günter Grass

Günter_Grass_auf_dem_Blauen_SofaOriginell, tapfer, eigensinnig

–Notizen eines Nachrufs auf Günter Grass. Von Wolfram Schütte

Er hatte unter deutschen Kollegen & Kritikern nicht viele Bewunderer (oder gar Freunde). Dafür umso mehr Leser. Sein Oeuvre ist vielgestaltig, umfangreich & befremdlich; letzteres vor allem für den in Deutschland vorherrschenden literarischen Geschmack des sogenannten „Psychologischen Realismus“ & der Vorliebe für ein möglichst „umstandsloses Erzählen“. Nicht verwunderlich, dass er in dem unkommunistischen Lukacsianer Marcel Reich-Ranicki seinen entschiedensten Feind unter den Kritikern fand.

Im Ausland sieht das ganz anders aus. Z.B. zwei der größten Autoren der modernen Weltliteratur – Gabriel Garcia Márquez & Salman Rushdie – haben in der „Blechtrommel“ des jungen Günter Grass Kompass, Vorbild & Ermutigung für ihr eigenes Schreiben & Phantasieren erblickt & ihm ihren Dank öffentlich bekundet. Darüber hinaus betrachtete Rushdie den in Danzig gebürtigen Kaschuben Grass wie sich selbst: als einen Schriftsteller im Exil, der seine Heimat verlassen musste.

„Die Blechtrommel“ als Taufpatin von „Hundert Jahre Einsamkeit“ & „Die Mitternachtskinder“: das zeigt die literarische Höhe an, auf der Günter Grass mit 32 Jahren 1959 literarisch als Romancier debütierte. Es war ein episch grandioser Paukenschlag, von niemandem erwartet & überwältigend originell wie kein deutschsprachiger Nachkriegsroman zuvor. Als das orgelnde Sprachkunstwerk, das „Die Blechtrommel“ dank der sinnlichen Metaphorik & Musikalität des Autors war, konnte man das Buch adäquat wohl nur im Deutschen vernehmen; aber als erzählerische Bauform mit ihrer groteskkomischen Beschwörung der Nazizeit jedoch als herausragendes Unikum in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur weltweit wahrnehmen.

Günter Grass wusste seither, wer er war, bzw. als wen man ihn anzusehen habe – wenn auch schon die beiden anderen Bücher seiner „Danziger Trilogie“ – die Novelle „Katz und Maus“ & der Roman „Hundejahre“ – zwar noch bewundert, aber auch schon heftig umstritten waren. Ein Schicksal, dem sein zweifellos als Rabelaissches Epos konzipierter großartiger „Butt“ (1977) in Deutschland nicht ganz entging, während sein ultimatives opus magnum „Ein weites Feld“ (als ein Deutschland-Roman gedacht gleich Thomas Manns „Dr.Faustus“) überwiegend auf wenig Verständnis stieß, als er 1995 erschien.

Das „Befremdliche“ an Günter Grassens Literatur war die teils aus dem Barock (u.a. Allegorien), teils aber aus der Moderne stammende Zurichtung seiner Stoffe mit spielerischen Allusionen & erzählerischen Perspektivbrechungen: einem literarischen Raffinement, das man dem Autor nicht zutraute & verübelte.

Gleichwohl konnte der Vorleser Grass allein durch seine Stimme & seinen darin lustvoll hervortretenden Selbstgenuss an der herrlichen Metaphorik seiner wie von dem Bildenden Künstler (der Grass auch war) modellierten Vokabular, große Zuschauer-Massen in Bann schlagen & sogar für den Augenblick seines mündlichen Vortrags auch Misslungenes vorübergehend „retten“. Da war er einzigartig.

Die passionierte Liebe des Schriftstellers zu seinem Sprachmaterial hat Grass auch dadurch offenbar gemacht, dass er regelmäßig seine Verlage dazu verpflichtete, interne Übersetzer-Symposien zu finanzieren, auf denen er mit seinen Übersetzern die jeweiligen Werke in tagelangen Sitzungen in toto vorlas & en détail durchsprach. Solche Sorgfalt hat sich meines Wissens nur noch Milan Kundera mit seinen Übersetzungen gemacht.

Dem künstlerischen Selbstbewusstsein, das Grass von sich sehr früh besaß & von aller Welt für sich verlangte – was ihm verständlicherweise nicht viele Freunde machte, sondern mehr Neider oder Anschleimer einbrachte – entsprach auch ein politisches Sendungsbewusstsein, dessen Rigidität gelegentlich aber auch von der Rechtschaffenheit zur Rechthaberei mutierte.

Kein Autor oder Künstler seiner Generation in Deutschland hat lustvoller, lautstärker, kompromissloser & öfter das Walt Whitman nachgesprochene „Dich singe ich, Demokratie!“ angestimmt als Günter Grass. Und zwar nicht nur, wenn er immer mal wieder seit Willy Brandts Zeiten aktiv als Wahlredner für die SPD warb, obwohl er, nach deren Einschränkung des Asylrechts die Partei verlassen hatte; sondern er erhob bei allem, was ihm auch im politischen Alltag missfiel, seine Stimme der Kritik – gedacht auch als apellatives Beispiel eines anteilnehmenden Bürgers in der Demokratie; dass er mehr war als nur ein Bürger wie jeder andere auch, wusste der Literaturnobelpreisträger von 1999 natürlich. Deshalb suchte er bewusst die Öffentlichkeit, die ihm seine Prominenz verschaffte, um zu öffentlichen Debatten anzuregen.

Grass hat immer & von früh auf gesagt, dass sein politisches Engagement in der & für die Demokratie davon zutiefst bedingt sei, dass er sich als Junge von den Nazis habe verführen lassen und dass er das Kriegsende nicht als Befreiung, sondern als Niederlage erlebt habe. Erst als er sich erzählerisch in seiner Autobiographie zurückbuchstabierte, hat er schamvoll eingestanden, dass der Siebzehnjährige in die Waffen-SS eingezogen worden war. Das späte Geständnis des Achtzigjährigen wurde ihm zu Unrecht von manchen selbstgefälligen Pharisäern ebenso negativ angerechnet wie zuvor die vielen politischen Interventionen des von dieser Jugendsünde traumatisierten reifen Günter Grass.

Mag sein, dass der späte Wahl-Lübecker Günter Grass, der dort nun auch 87jährig gestorben ist, wie der gebürtige Lübecker Thomas Mann sich zuletzt als singulärer Repräsentant Deutschlands empfand (wie ja auch Thomas Mann sich selbstbewusst noch in Goethe gespiegelt hatte). Den Typus des militanten, eingreifenden Autors, den Grass auf seine sozial-demokratisch-protestantische Art bis in seine letzten Tage verkörperte & wie ihn Heinrich Böll auf seine anarchistisch-katholische Art verkörpert hatte, wurde von seiner heutigen Zeitgenossenschaft nur noch als Greisengemurmel eines besserwisserischen, zänkischen Störenfrieds, dem niemand mehr zuhört, misslaunig geduldet.

Als Hans Magnus Enzensberger sich in den Sechziger Jahren als Sturmvogel der angesagten linksradikalen Revolution gerierte, lobte Grass, von vielen Seiten verhöhnt, die „kleinen Schritte“ Brandts & demonstrierte seine „schneckenhaft“-geduldig insistierende Sympathie für die „Es-Pe-De“ im Bilde des illusionslosen Camus‘schen Sisyphus; und heute, wo Enzensberger sich als Hallodri des politischen „Tumults“ inszeniert, den er jetzt nur noch als Hokuspokus ansehen will, erschien der standhaft gebliebene Grass gewissermaßen als politischer Linksaußen am Rande der SPD: tapfer & eigensinnig. Lonely are the brave…

Wolfram Schütte

Foto: Wikimedia Commons, Quelle. Author: Blaues Sofa.

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