Der Magier als Realist
– Wolfram Schütte über Gabriel García Márquez.
Die Großmuttter, bei der er aufwuchs, habe dem 1928 als erstes von zwölf Geschwistern in dem Flecken Aracataca (Kolumbien) geborenen Gabriel García Márquez „völlig ungerührt die ungeheuerlichsten Dinge erzählt, als hätte sie sie eben gesehen“. Das hat „Gabo“, wie ihn zärtlich seine engen und seine weit über die Welt verstreuten (Leser-)Freunde nannten, immer wieder glaubhaft versichert. Die Großmutter, wie bei unseren Brüdern Grimm, als tief reichender Brunnen der zusammenfließenden Vergangenheiten, aus dem der Epiker babylonisch ausufernder Wortmeere nicht wenige seiner „wunderbaren Wirklichkeiten“ in seinen Romanen und Erzählungen schöpfte. Das fundiert sein literarisches Werk im Familiären und Archaischen, in der Welterfahrung noch ungeschiedener Erlebnisse des Realen und Imaginären, durchglüht von Märchen und Mythos, Sage und Karnevalistik; oral tradiertes „karibisches Barock“.
Es war aber Kafkas „Verwandlung“, die den Zeitungs-Reporter García Márquez (in Bogotà und Barranquilla und als Auslandskorrespondent in Paris und Rom, wo er am „Centro Sperimentale“ Film studierte), zum Schriftsteller machte und die großmütterlichen „Ungeheuerlichkeiten“ ihm zu literarischen „Selbstverständlichkeiten“ eines europäischen Autors versicherte, der die flaubertsche „Impassibilité“ nicht auf die Banalität des Alltags, sondern auf dessen Überschreitungen fixierte. „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ – und der Leser García Márquez, dem dieser sprunghafte Auftakt zum Muster aller seiner berühmten Initialsätze wurde, „begriff plötzlich, dass es in der Literatur andere als nur die rationalistischen und sehr akademischen Möglichkeiten gab, die ich bis dahin in den Schulbüchern kennengelernt hatte. Es war, als hätte ich mich von einem Keuschheitsgürtel befreit. Trotz scheinbarer Willkür gibt es dennoch Gesetze. Man kann das Feigenblatt des Rationalismus zwar ablegen, aber nur, wenn man nicht ins Chaos verfällt, in den vollkommenen Irrationalismus“.
Paten: Faulkner und Grass
Die Großmutter-Erzählungen und Kafkas lakonische „Verwandlung“: das war kosmo-literarisch der eine Quellgrund seines literarischen Zutrauens; der andere hieß William Faulkner, der Epiker des düsteren „Verhängnisses“, das auf den „Südstaaten“ der USA lastete, den Sklavenhalterstaaten. Faulkners immerwährendes Beschwören des Imperfekts einer nicht vergangenen Vergangenheit der Gewalt, des Rassismus, des Inzests – zentriert um den Untergang von Familien, Sippen und Herrschaftsformationen – hat im südlichen Amerika deshalb literarisch so viel Resonanz gefunden, weil dem nordamerikanischen Südstaatler die US-amerikanische „Identität“ so zweifelhaft war, wie den Lateinamerikanern in ihren spanisch-portugiesischen Nachfolge-Staaten und deren brutal-feudalen Klassengesellschaften die ihre.
Vor allem aber hatte Faulkner eine literarische Kompositions- und Imaginationstechnik entwickelt, die es mit Inneren Monologen, Zeitsprüngen & -verspiegelungen, Traumsequenzen und allegorischem „double bind“ erlaubte, die „Gleichzeitigkeit“ von Vergangenheit und Gegenwart zu beschwören – eine halluzinatorische Intensität, welche für einen Kontinent ineinander geschichteter, umgestürzt-verworfener ethnischer und gesellschaftlicher Formationen (wie es Lateinamerika ist) erst recht adäquat war.
Faulkner, als verwandter literarischer Seismograph, ist von keinem im südlichen Amerika osmotischer „verstanden“ worden als von dem Kolumbianer Gabriel García Márquez in dessen Epos „Hundert Jahre Einsamkeit“.
Ohne den nordamerikanischen Ziehvater des Sartoris-Clans im imaginären Yoknapatawpha-Country gäbe es wohl auch die wahrhaft biblische Generation der Buendías in ihrem kolumbianischen Macondo nicht. Vielleicht aber auch nicht ohne die 1959 erschienene „Blechtrommel“, die der nachmalige Epiker des karibischen Amerikas so enthusiastisch begrüßte wie später der Epiker des indischen Subkontinents, Salman Rushdie, als er 1981 seine „Mitternachtskinder“ veröffentlichte. Beide nicht-europäischen Erzähler erkannten die ästhetische Singularität des Grass’schen Sprungs in ein barockes Weltpanorama rabelais’scher Grotesken und Monstrositäten, die von der europäischen Romanentwicklung nach der Aufklärung und ihrer „Entzauberung der Welt“ verpönt und zum bürgerlichen Realismus und zur selbstreflexiven Prosa (Musil, Broch, Thomas Mann, Simon, Kundera) geführt hatte.
Gesellschaftliche, geistes-und kulturhistorische Entwicklungen der Moderne, die für das tropische Amerika, in dem die Zeit stillgestanden hatte, nicht zutrafen so dass uns mit „Hundert Jahre Einsamkeit“ die Wiederkehr oder Fortsetzung des durch die europäische Aufklärung (Diderot etc.) liquidierten barocken, gargantuesken Romans geschenkt wurde: aus einem anderen Weltteil – wenn nicht sogar „Weltzeitalter“, das weder die Aufklärung erfahren noch die Breite der bürgerlichen Welt herausgebildet hatte und in feudal-aristokratischen und klerikalen Gesellschaftszuständen verharrt war. In seinem historischem Kurzroman „Von der Liebe und anderen Dämonen“ (1994) hat García Márquez eben dies später zu seinem Thema gemacht.
„Hundert Jahre Einsamkeit“ der Roman des lateinamerikanischen Kontinents
Warum wurde „Hundert Jahre Einsamkeit“ aber sogleich als der Roman des lateinamerikanischen Kontinents erkannt? Es war nicht allein Aufstieg & Fall der Landaristokraten der Buendías‘ als Großmetapher für die verfehlte Geschichte der „Neuen Welt“, in der die Herrschenden unfähig waren, das Volk zu lieben und mit ihm ihre Macht zu teilen, und deshalb „die zu hundert Jahren Einsamkeit verurteilten Sippen keine zweite Chance auf Erden“ mehr bekommen und aus dem „Gedächtnis der Menschheit getilgt“ werden sollten – obgleich ihr Chronist sie ja gerade eben erst in glühendsten Farben dort eingebrannt hatte! Nicht die politische Abrechnung mit der kolumbianischen „violencia“, die in diesem Fluch terminiert, machte das Buch des damals im spanischen Exil lebenden Freundes des kolumbianischen Rebellenpriesters Camillo Torres jedoch zum literarischen Ereignis. Es war der vollkommen neue literarische Ton einer orgiastisch und rhythmisch wuchernden Prosa, scheinbar zügellos ausschweifend ins Monströse, Phantastische, Märchenhafte und Mythische, welche die Leser in die strudelnde, zyklisch aufbrausende Erzählung von Gewalt, Tod und Sexualität sog.
Dieser fabulöse Albtraum fortdauernder Gewesenheiten erzeugte, immer wieder vorausdeutend und zurückblickend, eine nicht nachlassende Innenspannung, die erst mit dem letzten Satz das Episch-Gleichzeitige des Romans (er)löste und den tropischen Eindruck einer Neuen Welt-Schöpfung, einer mythischen Seins-Setzung hinterließ, mit der Macondo auf der imaginären Landkarte der Weltliteratur erschaffen, entdeckt und vermessen war.
Die Einsamkeit (soledad), Stigma des hundertjährigen Buendías-Clans und seiner machtgeschützten Inzucht und Lieblosigkeit, ging mit ihnen nicht zu Ende. Sie blieb die konstante, dunkel getönte Begleitmusik für die Abschiedszeremoniells von García Márquez‘ übergroßen, tragikomischen Helden:
Zur Götterdämmerung für einen zweihundertjährigen Patriarchen oder zum tristen Endspiel des „Generals in seinem Labyrinth“ der Einsamkeit, vulgo Simon Bolivar, dem gescheiterten „Libertador“ Südamerikas (1989). Denn die (politische) „Solidarität“ (soledaredad), deren Herold der Linke Gabo, der Reporter und Kommentator, der Freund Castros, Allendes, Mitterands und zuletzt des Venezolaners Chavez sein Leben lang war & blieb, hat im literarischen Oeuvre des Kolumbianers keine Entsprechung; die politische Utopie, deren Parteigänger der streitbare Journalist unmissverständlich war, hat den literarischen Phantasten so wenig erregt, wie die unmittelbare Gegenwart als literarisches Thema. Er suchte das Vergangene; und als Reporter des Imaginären die paradigmatische Verdichtung. Fast scheint es dabei, García Márquez habe sich als literarischer Erzähler den Vorsatz Stanley Kubricks zu eigen gemacht, der in jedem Filmgenre nur einmal arbeitete, aber jeweils meisterlich.
Mit dem „Herbst des Patriarchen“ (1975) hatte Gabriel García Márquez sich dem ureigensten Topos der lateinamerikanischen Literatur, dem Caudillo-Roman, zugewandt – der in einer eindrucksvollen Galerie literarischer Diktatoren-Porträts von Miguel Angel Asturias, Augusto Roa Bastos und Alejo Carpentier vorliegt. Aber García Márquez‘ „literarische Kantate, deren Instrument das Verb ist“ (Ramon Ribeyro), für deren musikalische „Durchführung“ Metapher, Rhetorik & Allusion und für deren kompositorische Textur kontrapunktische erzählerische Polyphonie mobilisiert wurden, übertraf sie alle. In diesem „Epischen Gedicht über die Einsamkeit der Macht“, von alternierenden Stimmen eines Ichs und vieler Wirs in einem „monólogo múltiple“ angestimmt, wird in sechs absatzlosen Kapiteln die Agonie eines an Altersschwäche (und nicht durch eine Revolution oder Volkserhebung!) gestorbenen diktatorischen Monstrums umkreist. Abgründig ist diese „Satire auf den Machismo“, die „das Böse in Schönheit und Humor verwandelt“ (Carlos Fuentes), auch dadurch, dass „Gabo“ nicht nur unendlich viele Züge des Diktatorischen von der Antike bis zur Gegenwart anklingen ließ, sondern auch die „Einsamkeit des Schriftstellers mit seiner allmächtigen Phantasie“.
Der Literaturnobelpreis, der ihm 1982 zuerkannt wurde, ging bereits an einen Erfolgsautor, der im Jahr zuvor seine exemplarische Novelle „Chronik eines angekündigten Todes“ in einer Erstauflage von einer Millionen Exemplaren veröffentlicht hatte. Darin protokollierte und sezierte García Márquez einen historischen Vorfall aus seiner Jugend. Auf bestialische Weise hatten zwei Brüder den angeblichen Liebhaber ihrer Schwester öffentlich hingerichtet, nachdem die gerade mit Pomp reich Verheiratete von ihrem Ehemann verstoßen worden war, weil sie nicht mehr jungfräulich gewesen sei.
Nach dem lyrischen Satyrspiel des „Patriarchen“ nun die fünfaktige Tragödie des alltäglichen Machismo; und zwar destilliert zur Schlankheit einer Novelle, in der Mörder wie Ermordeter und der „Chor“ der Dorfbewohner von der Zwangsläufigkeit & Zwanghaftigkeit des Mordes wussten und keiner dem Verhängnis in den Arm fiel.
Chronik einer angekündigten Liebe
„Unerhörte Begebenheiten“ waren die Initialzündungen dieser Trilogie des tragischen Tropicalismus. Nicht „erhört“, also als Liebender von der Geliebten abgewiesen zu werden – das „Werther“-Schicksal –, war für García Márquez die absurdeste Konstellation, um aus ihr so etwas wie die siegreiche Don Quichoterie seines Liebesromans zu schürzen: „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ (1985). Darin wird dem mit anderen Partnern erfüllt gelebten Leben der beiden 76-, resp. 72-Jährigen doch noch die höchst irdische Erfüllung ihrer gegenseitigen körperlichen Erkenntnis triumphal gewährt. Diese mehr als ein Halbjahrhundert umfassende Chronik einer angekündigten Liebe war „auch“ eine Nach-, um nicht zu sagen Gegenschrift zur Fatalität des allmächtigen Todes im Werk des Kolumbianers; wie der Historische Roman über die Agonie Bolivars (1989) palimpsesthaft den Patriarchen „überschrieb“.
Der Zeit-Stau, in dem Gegenwart und Ewigkeit ihre Hochzeit haben, aus der das Oeuvre Gabriel García Márquez‘ hervorgeht, ist sowohl real-geschichtlich wie literarisches Phantasma des Erzählers. Kein Wunder also, dass die „Nachricht von einer Entführung“ (1996) – diese minutiöse Beschreibung des Kampfes, den der Drogenbaron Escobar mit Geiseln der kolumbianischen Oberschicht gegen Polizei, Militär und den Staatsapparat führte –, nichts anderes ist, als die Fortsetzung der „Cien años de soledad“, mit deren Beschwörung und Evokation sich der Epiker aus Aracataca seinen Weltruhm erschrieben hatte.
Vom literarischen Mythos zur journalistischen Reportage: das war kein poetischer Abstieg. Im Gegenteil: „die ungeheuerlichsten Dinge“ der großmütterlichen Erzählungen traten, als fortdauernde kolumbianische Wirklichkeit in der Gegenwart, dem Augenzeugen nun selbst entgegen. Wir müssen uns den Magier der tropicalischen Wirklichkeiten als Realisten vorstellen.
Wolfram Schütte