Grandiose Abschiede & bewegende Vergegenwärtigungen
Auf dem 63. Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg. Von Wolfram Schütte
Das war eine herausragende Ernte, die das diesjährige Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelbergs eingefahren hat! Ob es an der internationalen Produktion von „Newcomern“ lag, auf deren Wahrnehmung sich das Festival fokussiert oder die Verantwortlichen bei der Auswahl 2014 eine besonders gute Hand hatten, bleibe dahingestellt – weil ja außer denen, die die 13 Wettbewerbsfilme & die zahlreichen „Internationalen Entdeckungen“ für das zehntägige Festival ge- & erwählt haben, niemand sonst das jährliche Angebots-Meer von mehreren Tausend neuen Debüt-Filmen durchkrault haben dürfte, unter denen erfreulich oft in aller Welt weibliche Regisseure fast schon an der Tagesordnung sind.
Auffällig oft wird quer durch die Kontinente der Wechsel von Farbe zum Schwarz-weiß in diesen Arbeiten zu dramaturgisch unterschiedlichen Zwecken genutzt – als hätte Edgar Reitz damit Schule gemacht. Ein anderer Topos der diesjährigen Festivalfilme in der Metropolenregion von Rhein & Neckar waren geistig & körperlich Behinderte oder todesnahe Alte, die den Geschichten existenzielle Intensität & fabulatorisches Kolorit verschafften.
Ich denke dabei erst einmal an zwei Spielfilme, die sich (teilweise nebenbei dokumentaristisch) als „roadmovies“ quer durch Europa, bzw. von Spanien bis nach Indien fortspinnen. So lässt die 1971 geborene niederländische Regisseurin Jorien van Nes in ihrem Debüt als Erzählerin („Eine lange Geschichte“) einen schweigsamen Niederländer mit dem kleinen Sohn eines rumänischen Gelegenheitsarbeiters in dessen Heimatdorf fahren, wo dessen Frau mit ihren zwei Töchtern von dem Lohn des abwesenden Vaters lebt. Der Niederländer hat gerade seine Frau verloren & trauert um sie; der kleine Junge, seine Geschwister & seine Mutter werden später erfahren, dass ihr verschwundener Ernährer bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen ist.
Großartig an der Dramaturgie ist es, dass dieser Film, der die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen thematisiert, nicht die naheliegende versöhnlerische Harmonie ansteuert, den drei rumänischen Waisen nun einen niederländischen Stiefvater in Aussicht zu stellen, obwohl sich die beiden trauernden Erwachsenen für eine tröstende Nacht liebevoll sehr nahe gekommen waren.
Die letzte Reise nach Indien
Der 1967 in Sevilla geborene Dokumentarist & Schriftsteller Chema Rodriguez lässt in seinem Spielfilm „Abenddämmerung in Indien“ seinen an den Rollstuhl gefesselten, verbitterten Ex-Hippie Ricardo in Sevilla seine Zelte abbrechen, alles Geld zusammenkratzen – um mit einem dafür engagierten jungen Mann in einem maroden VW-Bus zu seiner ultimativen Reise nach Indien aufzubrechen, wo er einst als junger Mann glücklich & verliebt gewesen war, aber jetzt offenbar den Tod sucht. Zum Glück nimmt er auf die lange Reise auch Dana, seine entlassene rumänische Haushälterin, mit. So kann sie sich auch weiterhin um den bärbeißigen Ricardo kümmern, nachdem sich der junge Begleiter in Rumänien aus dem Staub gemacht hat & Dana – von der man nebenbei erfährt, dass sie in Bukarest eine reiche Hausbesitzerin ist, die aus einer unglücklichen Ehe & Mutterschaft mit einem geistig behinderten Kind, das sie ablehnt, in die tätige Pflege Ricardos geflohen war. Aus der Ersatzhandlung war im Laufe der Zeit Liebe geworden, die sich erst in einem grandios-tragischen Ende dieser Reise in die gemeinsame „Abenddämmerung in Indien“ offenbart.
In zwei anderen Filmen des diesjährigen Filmfestivals, das sich das Motto: „Filme feiern“ gegeben hatte, werden junge Mädchen in Verwirrung gestürzt, weil sie über ihre Identität, bzw. ihre leibliche Herkunft im Unklaren sind. In Savina Dellicours „Alle Katzen sind grau“ (Belgien) macht sich ein Schulmädchen aus einer gutbürgerlichen Brüsseler Familie darüber Gedanken, warum auf ihren Kinderbildern nie ihr (heutiger) Vater zu sehen ist. Gleichzeitig sehen wir als Zuschauer, wie der Mittvierziger Privatdetektiv Paul mit seiner Digitalkamera das junge Mädchen verfolgt, weil er sie für seine Tochter hält – ein Irrtum, den bald auch das Mädchen teilt, bis eine DNA-Analyse & das späte Geständnis ihrer Mutter dem Rätsel des biologischen Vaters am Ende in dieser turbulenten Tragikomödie eine noch unabsehbarere Wendung geben. Toll trieben es die „wilden Achtundsechziger“, kann man aus diesen heutigen Identitäts-Verwirrungen entnehmen!
Die russische Provinz als Melodrama & Satire
Der mehrfache Reiz des russischen Beitrags „Name Me“ von der 1985 geborenen Nigina Sayfullaeva (Tadschikistan) beruht u.a. darauf, dass er kurz vor der Okkupation auf der Krim gedreht wurde. Dorthin sind zwei 17jährige Moskauer Mädchen in die Sommer-Ferien gefahren, um den Vater der einen zu finden, den sie noch nie gesehen hatte. Sie finden ihn, der vom nächtlichen Schmuggel & unerlaubtem Fischfang lebt, auch auf einem heruntergekommenen Anwesen, tauschen jedoch, bevor sie sich dem Mann nähern, ihre Identität aus. So muss der Einsiedler annehmen, seine leibliche Tochter in deren erlebnishungriger Freundin vor sich zu haben, die sich, nach der Erfahrung einer brutalen Liebesnacht mit Drogenkonsum auf einer Yacht, in den Älteren verliebt, ihm jedoch die Wahrheit über ihre falsche Identität nicht verraten darf. Währenddessen hat aber auch das als zurückhaltender charakterisierte andere Mädchen die gleichen negativen Erfahrungen mit den „dekadenten Reichen“ auf deren Yachtparty gemacht, so dass die beiden gründlich auf der Krim desillusionierten jungen Moskauerinnen ernüchtert nachhause fahren, wobei die Tochter um die Erkenntnis ihrer lieblos & zufällig gezeugten Existenz reicher ist, wie der angetrunkene Vater im Suff verraten hatte.
Die Suche nach der Wahrheit & Identität der Familie, die den Pubertierenden menschliche Geborgenheit gewährt, steht in beiden so ähnlichen & doch auch unterschiedlichen Filmen im Hintergrund ihrer ins Gesellschaftliche ausgreifenden dramatischen Geschichten. Der spielerische Witz der belgischen Tragikomödie ist der melodramatischen „coming-of-age“- Story auf der Krim fremd. Auch ahnt man, dass in „Name me“ (Gib mir einen Namen) – ohne dass man dem Film eine propagandistische Intention zuschreiben möchte – die ukrainische Ferienhalbinsel als Ort des Kriminellen und der korrupt-reichen Verkommenheit der „verwestlichten“ Ukraine fungiert.
Auch der zweite russische Film stammte von einer Regisseurin. Die 1958 geborene Schauspielerin, Drehbuchautorin & Produzentin Vera Storozheva wandelte gewissermaßen unter den Fittichen Nikolai Gogols & dessen tiefgründig-komischen Romans „Tote Seelen“. Wie dieser mit seinem Helden Tschitschikow die zaristische Provinz satirisch zur Erscheinung brachte, so lässt die russische Regisseurin das in Paris lebende Topmodel Anna im Auftrag eines Kosmetik-Konzerns ihre Geburtsstadt in der heutigen russischen Provinz besuchen. Das im Schlamm herumstöckelnde, superschlanke Model & ehemalige Waisenkind, von dessen vermeintlichen Erfolg & Reichtum sich alle in der Provinz Vorteile & Gewinne versprechen – was zu köstlichen, bitterbösen komischen Episoden einer (gewissermaßen) „balkanischen“ oder „tschechischen“ Komik à la Milos Forman führt –, entdeckt während der „Neun Tage und einem Morgen“ in der behinderten, großgewachsenen & dicken Lyuba ihre leibliche Schwester, die nicht so viel Glück im Leben hatte wie das von allen ausgenutzte Topmodel & dennoch mit ihrer genügsamen Lebensweise warmherzig in der armseligen Provinz zufrieden scheint.
So aufschlussreich für den Zustand ihrer Gesellschaften diese wie auch andere Filmbeiträge des hochklassigen Wettbewerbs waren: – die erstaunlichsten, gewagtesten oder innovativsten Filme kamen aus den Niederlanden, Brasilien, Aserbeidschan, dem Iran & Estland!
So hat der 1978 geborene Eché Janga mit „Helium“ die atmosphärisch dichte Studie eines gealterten Amsterdamer Gangsters vorgelegt. Wie eine Nachfahrenschaft des Franzosen Jean-Pierre Melville beschreibt er die Eiseskälte, die sich um den apathisch seiner Ermordung entgegenlebenden älteren Gangster im bläulichen Winterlicht ausbreitet. Anfangs war er mit zwei Untergebenen vor dem Angriff der sich ausbreitenden nigerianischen Mafia in ein Winterquartier auf der menschenleeren Nordseeinsel Texel geflohen: 3 melancholische Gangster in quälender Isolation. Immer wieder – und bestimmt ein wenig zu oft – blickt der „Chef“ ausdruckslos fragend in die Kamera. Das Auftauchen einer Maus in seinem kahlen Amsterdamer Wohnblock-Apartment scheint ein böses Omen, ebenso sein Nasenbluten. Aber nach einer Kernspintografie versichert ihm der Arzt, dass er kerngesund ist; und die Maus wird von der ausgeliehenen Katze gefasst & ihm als Leiche vors Bett gelegt. Aber während er das Weihnachtsfest bei seinen Kindern gutbürgerlich verbringt, lauern ihm die Killer schon auf, um ihn zu erschießen, wenn er wehrlos in seinen Wagen sitzt. Es ist, als habe er ihren Mord nicht nur geahnt, sondern ihn sogar sehnsüchtig erwartet, weil ihn der Lebensüberdruss schon geraume Zeit ergriffen hatte.
Die brasilianische Lebenslust eines Methusalems
Von Lebensüberdruss ist in Marcelo Galvaos „Farewell“ nicht die Rede, obwohl es gute Gründe dafür gäbe. Der 40jährige Brasilianer lässt einen mehr als doppelt so alten Darsteller (Nelson Xavier) einen letzten Tag & eine Nacht (bei seiner um mehrere Jahrzehnte jüngeren Geliebten) verbringen. Es dauert fast 10 Minuten, bevor das erste Wort in dieser Dokumentation eines Aufstehens fällt. Sie allein schon ist so brillant wie die Investitur-Szene in Brechts „ Leben des Galilei“.
Der 92 jährige schwerhörige „Admiral“ (wie ihn alle wegen seiner maritimen Vergangenheit nennen) folgt dem zweifachen Weckerruf, begibt sich mit einem entschiedenen Ruck aus der Horizontalen in die Vertikale, öffnet & prüft seine Nachtwindeln, steht auf, putzt die Zähne, wäscht sich, nimmt die täglichen Tabletten & zieht sich ebenso mühsam wie tapfer zur Erscheinung eines Grandseigneurs an. Bevor er die Wohnung seiner Kinder verlässt, um gegen deren Wunsch „draußen Kaffee zu trinken“, inspiziert er seine Pistole & legt sie mit einem Lappen umwickelt zurück in die Schublade, woraus er seine Kreditkarte nimmt. Er wird sie an einem Geldautomaten einer unbekannten Schönen mitsamt seiner Geheimnummer überantworten, damit sie ihm Geld abhebt – „so viel Sie bekommen können“.
Dann begibt er sich ächzend mit seinem Rollator, aber unverdrossen auf seine persönliche Abschiedstour durch das pulsierende Rio. Aus der Vogelperspektive sehen wir ihn langsam die Fußgängerübergänge vor den drängenden Autos passieren. Im Café um die Ecke begleicht er offenbar alte Rechnungen, sucht zur Versöhnung einen alten Freund auf, mit dem er sich seit langem zerstritten hatte, bittet drei in einem Park kiffende Jungens, ihm auch ein paar Züge zu gönnen & empfiehlt einem Taxifahrer, „so viele Frauen zu lieben, wie Du kriegen kannst“, bevor er sich in das Apartment seiner Geliebten begibt, dessen Schlüssel er unter der Blumenrabatte sucht & findet, obwohl er offenbar schon lange nicht mehr bei ihr gewesenen war. Sie ist erkennbar erfreut, den alten fingerfertigen zärtlichen Liebhaber wieder zu sehen – als sie einige Zeit später die Wohnung betritt & ihn schon entkleidet im Bett antrifft. Sie macht ihm die von ihm geschätzte Gemüsesuppe & die beiden verbringen den Abend gemeinsam erst in der Badewanne & dann im Bett. Als er am Morgen die Schlafende, der er Geld da lässt, verlassen hat, ahnt die Weinende, dass es ihr letztes Rencontre war. Wir aber sehen den uralten „Admiral“ mit seinem Rollator in der Menge auf der Straße unseren Augen entschwinden.
Das Erstaunliche an diesem Hymnus auf die Lebensfreuden ist der dokumentarische Blick, den der fast allein von dem Hauptdarsteller bestrittene Lebens-Abschieds-Film auch in seiner fiktionalen Erweiterung (in seinen erotisch-zärtlichen Liebesszenen) beibehält. Seine Sinnlichkeit ist fraglos & scheint mir einem Grundzug der brasilianischen Mentalität zu entsprechen.
Kaukasisches Endspiel mit Kranfahrten
Noch grandioser hat Elchin Musaoglu (1966 in Baku geboren) in seinem monumentalen Farbfilm „Nabat“ einen realen & symbolischen Weg in den Tod formuliert. Man darf angesichts dieses außerordentlichen filmischen Poems assoziative an große bekannte Momente denken, um sich des künstlerischen Rangs dieses Beitrags aus dem Kaukasus zu vergewissern zu können: ich musste beim Betrachten von „Nabat“ sowohl an das vielfache „Ewig, ewig“ in Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ denken, als auch an die Lakonie einer Beckettschen Parabel, um die ästhetische Eigenart dieses Films zu bestimmen. In epischer Verhaltenheit erzählt Musaoglu ein Requiems für eine Darstellerin (Fatemeh Motamed Arya), eine Berglandschaft, die Dingwelt eines kaukasischen Dorfs & eine krangeschwenkte Kamera (Abdulrahim Besharat).
Dieses nahezu wortlose Quartett, dessen Präsenz ab & an vom Geschützdonner des Krieges begleitet wird, erschafft eine sinnliche Gegenwärtigkeit, bei der alles, was wir sehen, physisch ergangenes, ärmlich-bäuerliches, mühselige Sein ist – und zugleich Parabel für das Elend des Krieges, der Einsamkeit & Verlassenheit & zuletzt des Todes. Denn die Kleinbäuerin Nabat pflegt nicht nur ihren kranken bettlägerischen Mann, dem sie auch noch nach seinem Tod allein mit Hacke & Schaufel ein Grab aushebt, sondern schleppt auch noch die zwei schweren Glasflaschen mit der Milch, die ihre geliebte Kuh gibt, ins Dorf – solange noch dort jemand ist, der sie in die Stadt bringt. Bald sind aber die letzten Dorfbewohner vor dem Krieg geflohen, die Kuh gibt keine Milch mehr, ist eines nebligen Morgens verschwunden & der Sohn, von dem kein Bild mehr im Haus ist, sondern nur das allbekannte Che-Bild, das ihn einst in den Krieg lockte, kehrt auch nicht zu der in völliger Einsamkeit und Verlassenheit lebenden Mutter zurück. Abends zündet sie alle verfügbaren Öllampen in den leeren Häusern des von der Elektrizität abgeschnittenen Dorfes an, um ein Fortleben der geflohenen Einwohner zu simulieren – bis das Öl aufgebraucht ist & in der Totalen auf das Dorf ein Lichtlein nach dem anderen verlöscht. Nur eine seit jeher heulende Wölfin, die sie in einer Bodenfalle gefangen hatte, aber nicht tötete, als sie deren dort geworfene Junge sah, scheint sich noch um diesen letzten Menschen im fluchtartig verlassenen Dorf zu kümmern: die Montage legt es nahe. Mit dem Winterbeginn, dem einsetzenden Schneefall, sitzt die verhungerte Nabat leblos vor ihrem Haus. Jetzt erst nehmen Soldaten Besitz von dem menschenleeren Dorf.
Viele Passagen der durch Raum & Zeit gehenden Bäuerin & ihrer sonstigen Verrichtungen sind gewissermaßen in Echtzeit gedreht, d.h. im langsamen Verweilen langer Einstellungen & werden durch abschließende Kranfahrten in die Höhe ikonographisch in die Schönheit der gewaltigen Kaukasuslandschaft eingebettet. Die Ruhe, die vom Ansehen „Nabats“ auf einen übergeht, hat meditativen, spirituellen Charakter, obwohl der Film von keiner religiösen Unterströmung getragen wird & seine Parabelhaftigkeit einen so diskret wie eindringlich emotional bewegt & ästhetisch beglückt.
Estnisches Requiem für 40 000 baltische Gulag-Opfer
Der 1982 in Teheran geborene Payman Haghani geht einen humoristischen Weg, um die Geschichte des Iran im 20. Jahrhundert en détail assoziativ, subversiv & indirekt zu erzählen – ein raffiniertes, riskantes, um nicht zu sagen geniales ästhetisches Verfahren, das auf das Witzigste der Zensur ein Schnippchen schlägt. Der rätselhafte Titel „316“ meint die Zahl der Schuhe, die eine Frau – samt ihren Eltern & Großeltern – in ihrem Leben getragen hat. Während der Film unterschiedlichste Schuhe & Beine präsentiert, an denen gewissermaßen Privat- & Gesellschaftsgeschichten haften, begleitet diese höchst lebendige Parade der Kommentar einer alten Frau, die sich erinnert, aber nie zu sehen ist, sondern nur als Stimme diesen hinreißenden filmischen Essay quasi tänzerisch zum Leben erweckt.
Bleibt als letztes der ästhetisch vielleicht innovativste schwarz-weiß-Film des Esten Martti Helde. Der 1987 geborene Absolvent der Estnischen Filmhochschule hat in seinem ersten Spielfilm „Risttuules“ jenen 40 000 Menschen, die nach der Rückeroberung des Baltikums 1941 & bis 1953 in den sibirischen Gulag verschleppt wurden, ein höchst eindrückliches & Dank seiner Form unvergessliches Memorial gewidmet. Sein Film, dessen Titel das Festival in ein englisches „In the Crosswind“ übersetzt hat, blättert die Geschichte einer jungen Familie, die nach dem Einmarsch der Roten Armee auseinander gerissen wird – von der Deportation der Mutter & ihrer Tochter zusammen mit andern Frauen & Kindern, bis zur Rückkehr der Mutter, die Kind & Ehemann verloren hat – gewissermaßen wie in einem Fotoalbum auf. Jeweils in großen Stillleben, die von einem imaginären Photographen wie Schnappschüsse eines historischen Geschehens fixiert worden sind, beschwört Martti Helde symptomatisch-repräsentative Momente, um nicht zu sagen: die einzelnen Stationen auf dem Weg eines lebenslangen Martyriums zum, im & aus dem sowjetischen Gulag.
Was zuerst wie eine eindimensionale, flache Fotosammlung erscheint, löst sich nach kurzer Zeit in die skulpturale Mehrdimensionalität des Films auf – als würden in diese Fotokonzentrate das in ihnen zum Erstarren gebrachte Leben unterm Blick, den wir auf es richten, wieder einfließen: (fingierte) Geschichte wird zu pulsierendem Leben erweckt. Durch diesen wiederkehrenden optischen „Erweckungsvorgang“ wird man als Zuschauer in diese bewegende Vergegenwärtigungen der katastrophalen Geschichte des Baltikums & der in ihr ursprünglich wie im Bernstein gefangenen, gequälten, vernichteten Menschen & deren traurigen Lebenswege & -schicksale buchstäblich hineingesaugt.
Die Jurys des Festivals haben „Nabat“ gleich mehrfach & auch „In the Crosswind“ ausgezeichnet. Deprimierend ist es allerdings, dass nach ihren oft umjubelten Premieren in Mannheim & Heidelberg kaum einer der auf dem 63. Internationalen Filmfestival gezeigten Filme in unseren (Programm-)Kinos oder (öffentlich-rechtlichen) TV-Programmen wiederkehren wird. „Nachhaltigkeit“ sieht anders aus.
Wolfram Schütte
Das Festival im Netz.