Geschrieben am 18. Mai 2011 von für Litmag, Porträts / Interviews

Vorgestellt: Edition Korrespondenzen, Reto Ziegler und Elfriede Czurda

Jelineks Mohntorte

– Fast ist es, als ob man in den samtgrün gepolsterten Sesseln des Café Jelinek versänke und nie wieder hochkäme. Wahrscheinlich soll hier keiner so schnell wieder fort. Das Kaffeehaus im 6. Wiener Bezirk ist das erweiterte Wohn- und Besprechungszimmer von Reto Ziegler, dem Literaturverleger der Edition Korrespondenzen, den ich Ende März hier treffe an dem Tisch dicht beim Bollerofen. Der wird heute vom Ober immer wieder mit Holz gefüttert und soll hundert Jahre alt sein. Dann der Name: Jelinek kommt aus dem Tschechischen und bedeutet „Hirschchen“, sagt Ziegler. Elfriede Hirschchen, sie wird das wissen.

Der Wahlwiener ist in Bern geboren und nach inzwischen fünfzehn vergangenen Jahren gut heimisch geworden in der Stadt, leise hörbar sein sympathischer Schweizer Akzent. Wien sei die gemütlichste Großstadt, die er kennengelernt habe. Auf dem runden Kaffeehaustisch ist wenig Platz neben unserer Melange, aber wir schaffen es, ein paar Bücher hübsch darauf zu drapieren: ein scharlachrotes, ein mintgrünes, ein schimmernd kieselgraues. Es sind dies die drei Werke der in Wien lebenden österreichischen Schriftstellerin Elfriede Czurda, die in den Jahren zwischen 2008 und 2011 im Verlag erschienen sind. Später sprechen wir über sie, jetzt berühre ich sie schnell.

Linie und Netz

Reto Ziegler, Foto: Senta Wagner

Hinter der Idee zum Verlagsnamen stecke nicht nur ein literarischer Bezug (das Sonett „Correspondances“ von Charles Baudelaire), sondern auch eine ganz praktische Begegnung. Ich solle mal an die Pariser Metro denken, da stehe überall „correspondance“ für die Verbindungen/Umsteigemöglichkeiten in den einzelnen Metro-Stationen, die die Fahrgäste durch das dichte Liniennetz lenken. Für Ziegler entfaltet sich aus dem Begriff Verbindung und seinen inhaltlichen Ableitungen daraus wie Netz/Geflecht, sich kreuzende Linien sein Ursprungsprojekt: Das Verlegen einer Literatur aus dem deutschen Sprachraum und ihrer Erweiterung auf die angrenzenden Nachbarländer in Richtung Osten, den Sprung wagen über Sprach- und Nationalitätsgrenzen hinaus und dabei renommierte Autoren mit internationalem Format miteinander verknüpfen.

Noch einer, der eine Leidenschaft für die Linie hat, ist der deutsche Architekt Leiff Ruffmann: Zieglers Umschlaggestalter. Mit seinem Sinn für das ausgetüftelt Schlichte verpasst er der Edition sein unverkennbares, identitätsstiftendes Äußeres – keine Bilder, nur Schrift. Eine Handschriftlinie des Autors, positioniert am unteren Buchrand, führt den Leser von der Buchrückseite ausgehend nach vorn in das Buch hinein. Schrift als etwas elementar Gelerntes, in der sich ebenso nationale Unterschiede manifestieren. Apropos Metro: Haben nicht die Franzosen das kleine r schon immer so merkwürdig verschnörkelt geschrieben?

Von außen nach innen

Farbe, Form, Sorgfalt, Dezenz stehen synonym für das Programm des kleinen Literaturverlags. Schöne und vorzüglich editierte/redigierte Bücher heben die Lesequalität, sagt Ziegler. Fast erliege ich ihrer Anmut, bleibe aber bei den Fakten. Vor ziemlich genau zehn Jahren kamen die ersten Titel der Edition Korrespondenzen auf den Markt, und die Kritik hat schnell mit viel Lob auf die bibliophilen Werke reagiert, freut sich Ziegler, freue ich mich.

Im Zentrum des editorischen Interesses von Ziegler stehen Lyrik und erzählende Prosa, aber auch irgendwie Zwischengattungen. Auf gar keinen Fall und nie und nimmer mache er Mainstream-Literatur. Also komplizierte Sachen (ein Etikett, das man Elfriede Czurda gerne anhängt)? Zieglers Autoren müssen mit Sprache und ihren Möglichkeiten arbeiten können, in ihrer poetischen Wirklichkeitserfassung stets nach neuen Wegen suchen, daran erkenne er die Qualität eines Textes.

Der Verlag selbst verpasst sich das ästhetische Signet „sprach- und formbewusster“ Literatur aus den Ländern Mitteleuropas. Die Hälfte seien deutschsprachige Titel wie etwa die von Ilse Aichinger: Die ist einfach bekannt, sagt Ziegler. Sie zählt neben dem deutschen Schriftsteller Kurt Drawert, dem tschechischen Dichter Petr Borkovec, der in Berlin lebenden slowenischen Lyrikern Maruša Krese und der slowakischen Dichterin Mila Haugová zu den Autoren und Autorinnen der ersten Stunde – dem Beginn eines „mitteleuropäischen Lyrikdialogs“. Nahezu unbekannte Dichter bekamen durch Übersetzungen auch andernorts eine Stimme. Später kamen Autoren hinzu wie Zsuzsanna Gahse, Oswald Egger, Anja Utler.

Reihentitel und Reihenerfolge

Ganz, ganz zu Anfang stand hinter der Edition ein geschmackssicherer und risikofreudiger Lyrikliebhaber, damals an seiner Seite Reto Ziegler als Lektor: Der Verlagsgründer Franz Hammerbacher aus Hollabrunn hat sich jedoch vor ein paar Jahren zurückgezogen, um „Sachen zu machen“. Das Ergebnis des Unterfangens ist die viel gelobte Veröffentlichung „Bravo Hotel“: Der Autor dokumentiert darin seinen Friedenseinsatz als UN-Soldat in Form einer „Chronik eines sozialen Abenteurers“, erschienen 2010 in der just neu gegründeten Reihe des Verlags KONNEX. Diese Reihe soll angesiedelt sein zwischen Literatur und Sachbuch und einen besonderen Blick werfen auf „Gesellschaft“ mit den Mitteln der Poesie.

Von Reihen kann Ziegler gerade nicht genug kriegen: Mit der Taschenbuchreihe tradukita poezio und gleich drei Titeln wurde zur selben Zeit noch eine weitere etabliert. Mit ihr lernen wir Autoren der jüngeren Generation aus Südosteuropa (Albanien, Makedonien, Serbien, Kroatien) kennen, die ihre Sozialisation in den Zeiten des Umbruchs oder später erlebt haben – eine logische Fortsetzung des Korrespondenzenprojekts, das europäische Netz verdichtet sich. Reto Ziegler ist daher um die Zukunft seiner Edition im Moment wenig besorgt. Die Lesenden und die Förderungen dürften nicht ausbleiben, das schon, die Ideen und Projekte tun es nicht.

Die Sprachkünstlerin Elfriede Czurda

© Renate von Mangoldt

Verschnaufpause: Jelineks Mohntorte sei sehr zu empfehlen. Später weiß ich, dass das stimmt. Jetzt haben die Bücher von Elfriede Czurda (geboren 1946) aber lange genug gewartet. Auch sie eine Empfehlung aus dem Jelinek, mehr oder weniger. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin verfasst Prosa, Gedichte, Essays und Hörstücke. Bei der Edition Korrespondenzen hat sie jetzt veröffentlicht „dunkelziffer“ (= das Kieselgraue); 2009 erschien in einer Neuausgabe (1987 Erstveröffentlichung beim Rowohlt Verlag) „Kerner. Ein Abenteuerroman“ (= das Scharlachrote), und zwar erweitert um den Textteil „Eine politische Affäre“; und 2008 wurde herausgegeben „ich, weiß. 366 mikro-essays für die westentasche“ (= das Mintgrüne). Künstler stellen sich seit jeher immer irgendwelchen Aufgaben, auch Sprachkünstlerinnen tun es und Elfriede Czurda ist eine, die es ernst meint mit ihren Aufgaben – und je frohlockender und systematischer diese sind, umso besser.

Das Mintgrüne ist das Buch eines Schaltjahrs beginnend mit dem 21. Juli („so schwer fängt aller Anfang an“) und endend mit dem 20. Juli („da und nirgendwo membran“). Elfriede Czurda notiert, was Elfriede Czurda fühlt, wahrnimmt, macht, erinnert, denkt, spiegelt usw. In Summe ergeben sich 366 „mikro-essays“, Tagebuchhäppchen eines inkonsistenten Ich etwa, niedergeschrieben auf einem kleinformatigen Notizblock (= Westentaschengröße) mit einer Zeilenlänge von exakt zwölf (Halt: zehn Tage im Januar schreibt die erkrankte Czurda nur vier Zeilen). Wo nicht mehr Platz ist, passt nicht mehr hin, programmatische Verdichtung, da hört die letzte Zeilen dann mal mit ver, und, die oder wiederzu auf.

Die Dichtern ist eine stilistische Widerständlerin auf hohem Niveau: Sie verzichtet komplett auf eine Interpunktion, bei gleichzeitig regelhafter Grammatik und Syntax, und schreibt grundsätzlich klein, Silbentrennungen am Zeilenende gibt es nicht. Czurda nimmt den Zeilenumbruch wörtlich, reißt den Leser mit herum, bremst ihn aus. Der Text fließt, stockt, fließt. Jedes einzelne Wort, jeder Silbenteil bekommt sein vibrierendes Gewicht, Sinnhaftigkeit entsteht, mal mehr mal weniger innerhalb einer Textzeile, überwiegend in der rhythmisch-klanglichen Gesamtheit der poetischen Aufgabenerfüllung an jedem Tag. Als inhaltliche Lotsen sind den 366 Textblättern Untertitel (z. B. tisch, dornröschen, tante mathilde stirbt) beigegeben, die sich teilweise, je nach Tagesverfasstheit der Autorin, wiederholen.

In gedruckter Form sind die Kürzel eines jeden Tages auf das beachtliche Format für eine kleinere Handtasche herangewachsen. Der mintgrüne Band „ich, weiß“ sei hiermit als hinreißender und tagtäglicher Begleiter empfohlen: Ohne echte kalendarische Funktion nimmt er einen besonderen Platz ein neben an der Wand hängenden Lyrikabreißkalendern, Kunst- und Literaturkalendern. Heute, am 12. Mai, Untertitel auslöschung. Eine Replik auf den Roman von Thomas Bernhard als Variation auf Herkunft und Verzweiflung?

Versuchung Zahl

Reto Ziegler mit Buch

„dunkelziffer“ – Das in französische Broschur geschlagene, großzügig proportionierte kieselgraue Buch ist ein verwegenes Unterfangen, dicht dran an der Bedeutung der Dunkelziffer. Es ist die faszinierende Summe einer dichterischen Versuchung – der Versuchung Zahl und der ihr eigenen Magie und Symbolik.

Gleichzeitig ist es die pure Versuchung Sprache, jede Ziffer lässt sich nicht nur in Worte gießen, Czurdas Kunst ringt ihr ganze Universen ab. Der Zugang zur Sprache in diesem Konzeptbuch ist eben ein ordnend mathematischer, beispielsweise das Umsetzen des magischen Quadrats (= Lo Shu Diagramm) in raumgreifenden, abzählbaren Text. Es entfalten sich perfekt gesetzte poetische Textarchitekturen, die Czurda als LANDSCHAFTEN I und II bezeichnet. Dort bewegen wir uns in Erdlandschaften, Stadtlandschaften, gemischten Landschaften usw. Das experimentelle Kombinieren und Palimpsestieren der jeweils neun Texte pro Landschaft und Doppelseite bringt stets neue Lesemöglichkeiten hervor.

In den KYBERNETISCHEN SCHLEIFEN kommt es zum „systematischen Aufmarsch der Stichwörter“ aus den Wörterbüchern der Naturwissenschaft & Mathematik sowie Kybernetik. Mit Hilfe der Stichwörter (z. B. von a wie actio bis h wie hyberpel)  kreiert Elfriede Czurda ein ganz eigenes, augenzwinkerndes Weltverstehen, indem sie aus diesen kleine „erzählerische“ Texte und deren Variationen formuliert, mit den Protagonisten c wie cimex (= Wanze) und g wie gödel (= Mathematiker). „dunkelziffer“ schimmert nicht umsonst so verlockend.

„Kerner“, den scharlachroten Abenteuerroman,  hebe ich mir für die nächste Mohntorte auf und gehe mit Reto Ziegler hinaus aus dem Café Jelinek.

Senta Wagner

Elfriede Czurda: dunkelziffer. Wien: Edition Korrespondenzen 2011. 163 Seiten. 21,50 Euro.
Elfriede Czurda: Kerner. Ein Abenteuerroman. Eine politische Affäre. Wien: Edition Korrespondenzen 2009. 145 Seiten. 18,50 Euro.
Elfriede Czurda: ich, weiß. 366 mikro-essays für die westentasche. Wien: Edition Korrespondenzen 2008. 23,70 Euro.
Franz Hammerbacher: Bravo Hotel. Wien: Edition Korrespondenzen Reihe KONNEX 2010. 360 Seiten. 22 Euro.
Alle Bücher mit Lesebändchen.
Zur Homepage des Verlags. Mehr zu Elfriede Czurda auf Literaturport.