Geschrieben am 24. November 2008 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Uwe Tellkamp – Der Turm: Ein Erfahrungsbericht

Im Turm

Uwe Tellkamps Großroman Der Turm ist preisgekrönt und viel verkauft. Aber wird er auch gelesen? Wem die fast 1000 Seiten zu mächtig erscheinen, der kann nun lesen lassen: Gisela Trahms berichtet in drei Teilen über ihre Lektüreerfahrung.

Gekauft. Nach Hause getragen. Aufgeschlagen. 973 Seiten – Der Turm ist selbst, was sein Titel benennt. Hinter dem Lesewilligen fällt die Tür erst einmal zu. Wenig Zeit für anderes, aber das hat man schließlich gewusst. Jetzt, einen Augenblick, bevor man zu lesen beginnt, stehen noch einmal die Fragen auf: Woraus ist er errichtet, dieser Turm? Aus ebenmäßigen Ziegeln oder Gesteinsbrocken? Ist ein Bauplan erkennbar? Und um welche Art Turm handelt es sich? Ist es ein Leuchtturm, dessen Licht über das „versunkene Land“ (die DDR) streift, von dem der Untertitel spricht? Ein Wehr- und Wachtturm der Gattung Roman, fest gefügt und seiner selbst gewiss? Oder ein Babelturm, Symbol der Sprachverwirrung, wie der Autor in einem Interview sagte?

Den Anfang macht eine mehrseitig, kursiv gedruckte „Ouvertüre“. Damit befinden wir uns überraschend in einem anderen Paradigma; nicht Architektur, sondern Musik liefert den Subtext. Das erste Wort heißt „Suchend“, dann folgt der „Strom“ (die Elbe), dessen „Haut knitterte und knisterte“ – aber assoziiert man denn diese Verben mit Wasser? Eher wohl mit dem Fluss der Erzählung, die gerade beginnt. Unter ihren Worten knittert das Papier, denn was berichtet wird, ist schon Historie, und doch knistert es noch und schlägt Funken und will nicht vergehen. Fast zwanzig Jahre nach dem Mauerfall erzählt Der Turm die letzten sieben Jahre der DDR, wie einst Der Zauberberg die letzten sieben Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Erzähler als „raunender Beschwörer des Imperfekts“, die Zeit als Thema – Thomas Mann grüßt, und zwar als Meister vergleichsweise kurzer Sätze. Tellkamps erster Satz bringt es auf 27 Zeilen. Er setzt den Ton so kellertief wie die Kontrabässe, mit denen Wagners „Ring“ – Tetralogie anhebt, und gleichzeitig so hoch, als gelte es ein mythisches Geschehen.

Nach dem Geisterflug der „Ouvertüre“ über Lokalitäten und Personen,mit denen wir ja noch gar nicht vertraut sind, gewinnen wir zu unserer Erleichterung im ersten Kapitel festen Boden. Wir begleiten den Protagonisten Christian Hoffmann, der die Eltern besucht. Christian ist siebzehn und Internatsschüler einer EOS (Erweiterten Oberschule), also einer der wenigen Glücklichen, die Abitur machen dürfen. Sein Vater, Chirurg an der Medizinischen Akademie Dresden, feiert seinen 50. Geburtstag, und über viele, viele Seiten sind wir nun beschäftigt, das „Turmviertel“ jenseits der Elbe kennen zu lernen, in dem die Familie wohnt, dann die Mitglieder der Familie, die Freunde, die Art und Weise, wie so ein Fest 1982 abläuft und worüber gesprochen wird.

Als sehr hilfreich, um im Gewirr der feiernden Figuren nicht völlig den Überblick zu verlieren, erweist sich das vom Verlag beigefügte rote Faltkärtchen, auf dem die wichtigsten Personen verzeichnet sind. Denn außer diesen gibt es ja noch jede Menge anderer, zum Beispiel den Vorgesetzten des Vaters, Chefarzt Dr. Müller, der die Tischrede hält. Ein Hofrat Behrens, wie im Zauberberg? Ach nein. Er ist ein Linientreuer und hört es nicht gern, wenn seine Oberärzte regimekritische Witze machen. „Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.“ Hoppla – sind wir jetzt bei Grisham? Als das Fest zu Ende ist und die Familie durch die Winternacht heimgeht, sagt Christians Vater zu seiner Frau: „Komm mal her, du kleiner Käfer!“ und nimmt sie in den Arm und küsst sie. Sind wir jetzt in „Nesthäkchens Ehejahre“? Hundert Seiten später wird die Geliebte des Vaters so vorgestellt: „Sie war fünfundzwanzig Jahre alt und in der Blüte ihrer Weiblichkeit gewesen.“

Allmählich ächzen wir ein wenig und können kaum glauben, dass der Autor nicht 89, sondern 39 ist.

Aber dass uns diese Sätze so übel aufstoßen, verrät ja nur, dass sie nicht die Regel sind. Die Regel ist, erstens, ein Wortschatz, dessen Umfang grenzenlos scheint (Baskülverschlüsse? Lateibretter? Pistille? usw. usw.) und der sich, zweitens, in einem wahren Beschreibungsfuror entlädt. Häuser, Ausblicke, Milieus, Jahreszeiten, Wetterlagen – lesen heißt hier: Kopfkino. Ein Beispiel, Christians Tante Gudrun betreffend, Schauspielerin am Stadttheater:
„Gudrun zog sich ins Schlafzimmer zurück, repetierte Rollen oder stopfte, acht Fingerhüte auf den Fingern, was ein leises kastagnettenartiges Klackern erzeugte, Strümpfe in der Küche, wo die Schränke schiefhingen und die Fensterbretter vom Schwarzen Schimmel zerfressen waren, wo von den freiliegenden Rohren die Farbe platzte und Rezept-Stickereien für Salzburger Nockerln, Kürbissuppe und eine Speise mit dem Namen ‚Betriebsunfall‘ (ein außerordentlich wohlriechendes, widerlich aussehendes, von den Kindern mit langen Löffeln bewegtes Vielerlei) kaum die Wasserflecken an den Wänden verdeckten.“ (S.146)

Von solchen Wundersätzen quillt das Buch über. Die daraus sprechende Erzählhaltung hat wiederum Thomas Mann im Vorwort zum Zauberberg formuliert, nämlich „dass nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend sei“.

Kein Wunder also, dass uns Christian, der anfangs so konturlose Protagonist, erst nahe kommt, als er sich zusammen mit seinem Onkel Meno im Beschreiben übt und darüber nachdenkt, ob es nicht neben der wissenschaftlichen Deskription (der Onkel ist Zoologe), deren Exaktheitsideal die Gegenstände gleichsam aufspießt, noch eine kreativere, den Menschen unmittelbarer angehende Art der Wahrnehmung und ihrer Umsetzung ins Wort gibt, einen „stillen Blitz“, wenn sich etwas öffnet und „ein großes, saugendes Tor“ bildet. Hier, in Kapitel 21, wird das Innerste der beiden Hauptpersonen erahnbar, sie zeigen sich in ihrer je eigenen Einsamkeit. Da entsteht endlich (für mich) Faszination, wie sie all die „pittoresken“ Schaubilder gesellschaftlicher Großszenen nicht zustande bringen.

Hängt das vielleicht damit zusammen, dass meine Augen westliche Augen sind? Dass ein Kapitel wie das 21. mehr mit Proust zu tun hat als mit dem real existierenden Sozialismus, der mir „fremder ist als Ausland“ (Uwe Johnson)?

Das erste Drittel des Turms ist durcheilt. „Mich interessiert nicht nur die Beletage“, sagt Meno (und meint damit die „schönen Stellen“ in der Musik), „sondern auch Kohlenkeller, Küche und Dienerschaft…“ Das, so haben wir inzwischen begriffen, gilt auch für Uwe Tellkamp und den Roman, also für das, was er inhaltlich bieten soll ebenso wie für die Machart. Von Walhall, der Götterburg, bis Nibelheim, wo die Sklavenzwerge wohnen, soll das Panorama reichen, vom mächtigen Parteisekretär bis zur armen Rentnerin, und geschrieben ist es mit allem, was Spuren hinterlässt, von der präzisen Stahlfeder bis zum abgenutzten Gänsekiel früherer Epochen. Die „schönen Stellen“ sind immer noch reichlich vorhanden, für mich schlummern sie abseits der Handlung, wenn die Sprache ein Detail wiedergibt oder eine Stimmung und strömt wie berauscht.

TEIL 2

Nur in seltenen Fällen kann ja ein Leser die beschriebene Welt mit der eigenen Erfahrung unmittelbar vergleichen und Stimmt! oder Stimmt nicht! rufen, und selbst dann ist sein Urteil nur ein Argument unter anderen für oder gegen das Buch. Ein Roman über eine DDR, die ich nur einmal besucht habe, ist mir zunächst nicht näher oder ferner als Coetzees Schande oder Jane Austens Stolz und Vorurteil.

Dennoch reagiert man sensibler als bei anderen Werken auf Szenen oder Personen, die man als Klischees empfindet. Klischeehaft erschien mir die bereits erwähnte Szene am Anfang, wenn die Ärzte sich in subversiven Witzen überbieten und der Chef sie zurechtweist. Diese Passage entspricht genau dem, was man sich immer gedacht hat, sie ist in Das Leben der Anderen (als Stasi-Angehörige sich in der Kantine Witze erzählen) sehr viel intensiver auf den Punkt gebracht. Mit einer ähnlichen Szene beginnt übrigens Klaus Manns Mephisto und man hat das Gefühl: falsch von vorne bis hinten, so hat niemand geredet im „Dritten Reich“.

Zunächst also: Misstrauen. Es schwindet rasch. Denn der Roman bedrängt nicht mit Thesen, selten scheint etwas überzeichnet. Tellkamps „Dresden“ stimmt, d.h.: man glaubt, was man liest. Natürlich reagiert der westliche Leser unbefangener auf die Autonomie des Textes und lässt sich leichter verführen / überzeugen als derjenige, der diese Geschichte oder eine ähnliche am eigenen Leibe erlebt hat. Aber zunächst bedeutet schon die Tatsache, dass das ewige pro und contra – Schema, das „Dies war gut und jenes schlecht“ außer Kraft gesetzt ist, einen (auch ästhetischen) Wert.

Was allerdings nicht außer Kraft gesetzt wird, ist der demonstrierende Gestus. Manche Kapitel sollen offenbar bloß bestimmte Phänomene schildern. Z.B. die Schwierigkeiten der Beschaffung dringend benötigter Gegenstände. Den florierenden Tauschhandel. Die Seilschaften. Die Umweltschäden. Das ewige Anstehen, das Gehetze, die Furcht, zu spät zukommen, das Gewünschte nicht mehr zu ergattern. Die erbitternden, demütigenden Absurditäten der Bürokratie usw. usw. Ein ganzes Kapitel ist, im Ton einer Groteske, der illegalen Beschaffung eines Weihnachtsbaums gewidmet und man fragt sich, ob das nötig sei.

Hunderte einzelner Szenen also zeigen die öde Routine des sozialistischen Alltags, und das Plus, das der Roman dem Geschichtsbuch voraus hat, ist eben der Detailreichtum und die Individualisierung, der Bezug zu den Menschen, die sich mit diesen Alltags-Tücken immer neu herumschlagen müssen. Andere Kapitel legen frei, was die Menschen deformiert und ihre Persönlichkeit zerstört: Die Erpressung durch die Stasi. Das Misstrauen zwischen Familienangehörigen. Die „privilegierte“ Wohnsituation dieser bürgerlichen Elite, die in verfallenden Gründerzeitvillen lebt (ein Bad für drei Parteien!) und denen nach und nach „Aktivisten“ „zugewiesen“ werden, so dass kein einziges unbekümmertes Wort mehr möglich ist. Mit Grausen wendet sich der westliche Leser, aber auch mit dem Gefühl: Ja, so ist es wohl gewesen, das kann ich mir vorstellen.

Aber es leuchtet auch Überraschendes auf. Eine Figur wie der Baron Arbogast (Manfred von Ardenne nachgebildet) mitsamt seinem skurrilen Forschungsinstitut – das ist schon eine Charge, die man nicht erwartete und für deren Darstellung Tellkamp die erzählerischen Mittel ordentlich hochfährt.

Interessante Schulszenen

Interessanter, auch schockierender fand ich die wie nebenbei sich abspulenden Schulszenen. Da schreibt der hochintelligente Christian, der einen der raren Medizin-Studienplätze anstrebt, statt eines Aufsatzes über „Die wesentlichen Kennzeichen der sozialistischen Literatur“ nur einen Satz aufs Papier: „Sie lügt.“ Wie kann jemand einen so irrwitzigen Mut aufbringen?, fragt man sich. Seine kluge, integre Lehrerin lässt ihn nachschreiben, d.h. Phrasen dreschen, urteilt: zwei minus und fertig. So leicht ging das?

Ein anderes Mal gibt eine Mitschülerin statt der Geschichtsklausur ein leeres Blatt ab. Klassenkameradin Swetlana erläutert ausführlich vor Lehrer und Klasse, in welcher Form dieser Verstoß wider die sozialistische Pflicht geahndet werden sollte. Die Haare stehen einem zu Berge. Die Art, wie diese Jugendlichen miteinander umgehen und wie sie sprechen, klingt exotisch und in Teilen geradezu widerwärtig. „Die Pädagogische Provinz“ ist der erste Teil des Buches überschrieben, aber der Goethe der Wanderjahre erscheint ja als milder Zeitgenosse neben diesem Mittelalter. Christian fragt (!) Meno, den o­nkel, ob er sich in Reina verlieben dürfe. Der rät ab: zu unsicher. „‚Also muss ich, ehe ich mich verlieben darf, erst ein Dossier über das Mädchen anlegen?‘ – ‚So ist es‘, erwiderte Meno kalt…“ (und meint es gut mit dem Neffen!).

Schauerlich, denkt man.

Christians Eltern versuchen ihren Sohn so gut wie möglich auf das Doppelleben von äußerer Anpassung und innerer Emigration vorzubereiten, das sie selber führen. Sie lassen ihm sogar Unterricht bei einem im Haus wohnenden Schauspieler geben. Dennoch verhalten auch sie sich, nach westlichen Maßstäben, erstaunlich; Vater wie Mutter ohrfeigen z.B. den Siebzehnjährigen, zwar selten, aber selbstverständlich. Und wie hölzern benimmt sich Richard, der Vater, gegenüber seiner Geliebten und deren pubertierendem Sohn! Reines Papier, was er da redet. Man möchte ihn schütteln. Ist das von Tellkamp in kritischer Absicht geschrieben? Es scheint nicht so.

Im Meer dieses Romans sind das nur Tropfen, allerdings gibt es viele. An ihnen zeigt sich, wie sein Koordinatensystem abweicht von dem, was im Westen geschrieben wird, aber beispielsweise auch von Plenzdorfs Neuen Leiden des jungen W.. Nicht heftig, sondern in einer Verschiebung um Millimeter, von x zu x‘. Eine merkwürdige, ungewohnte Leseerfahrung, deren man sich erst ganz allmählich bewusst wird.

TEIL 3

Mit dem Kapitel „Auffahrt“ begann der erste Teil des Romans, nun, im zweiten Teil, der den Titel „Die Schwerkraft“ trägt, sinkt Christian hinab von den kulturgesättigten Höhen der „Türmer“ geradewegs in die Hölle. Um den Medizin-Studienplatz zu erhalten, hat er sich „freiwillig“ zu drei Jahren Dienst bei der Armee verpflichtet. Dort durchlebt er Sadismen ohne Zahl, nicht nur die „von oben“ angeordneten, sondern auch die der Kameraden. Fünf Jahre lang lässt ihn dieser Terror inmitten des Terrors nicht frei, tiefer und tiefer sinkt er bis in das „U–Boot“ der Militärstrafanstalt in Schwedt, einer Gruft für Dunkelhaft. Hier, erkennt Christian, ist er im Innersten des Systems angelangt, im Herzen des ummauerten Staates. „Jetzt also war er ganz da, jetzt musste er angekommen sein… Er musste nackt sein, das bare, blanke Ich, .. Jetzt, dachte Christian, bin ich wirklich Nemo. Niemand.“

Christians Leidensgeschichte (später wird er zu lebensgefährlicher Zwangsarbeit „ins Karbid“ geschickt, dann in die Braunkohle) geht unter die Haut und kuriert von jeglicher Ostalgie. Diese Passagen gehören zu den besten des Buches, weil sie sich konzentrieren auf das, was ist und auch frei sind von überschießender stilistischer Brillanz. Nach der Lektüre von Kapiteln wie „Mach es wie die Sonnenuhr“ oder „Reise nach Samarkand“ sitzt man betäubt von den Routinen der Grausamkeit und der ins Endlose sich dehnenden Zeit, in der jeder Tag, jede Stunde Entsetzliches bringen kann.

Völlig glaubwürdig erscheint einem schließlich Christians stumpfes Einverständnis: „Es war richtig, daß er hier war. Er war ein Gegner der Armee und des Systems, und deshalb wurde er bestraft. .. Hier, an diesem Ort, dem von Braukohletagebauen und vergifteten Flüssen zerfressenen Chemie-Reich, war .. sein Platz. Er tat, was man ihm sagte, und wenn man ihm nichts sagte, tat er nichts.“ Ebenso authentisch erscheint die Art, wie Täter und Opfer reden (und schweigen): drastisch, aber nicht auf des Lesers Lust am Grauen spekulierend. Als selbst „ins Karbid“ die Gerüchte dringen, dass der Staat schlingert, sagt einer: „Die fahr’n die Öfen auf Krawall… Wenn da mal einer hochgeht, dann is’ hier aber Juri Gagarin in der Landekapsel, endlich ma’ wieder glühende Kommunisten!“

Während man Christian folgt, geistert im Hinterkopf immer ein blasser weiblicher Schatten: Seine Kusine Muriel ereilte die Schwerkraft noch früher, sie wurde in ein Erziehungsheim eingewiesen, den Eltern das Sorgerecht entzogen. Was geschieht ihr da? Wie verkraftet sie es? Man erfährt nichts darüber. Gegen Ende des Romans, als die Demonstrationen auch in Dresden beginnen, heißt es, dass sie wieder bei ihren Eltern ist, demonstriert, sogar wieder lachen kann…

Viele Leerstellen, vieles bleibt ausgespart

Dass Tellkamp sich auf eine Schreckensgeschichte konzentriert, erscheint plausibel. Aber merkwürdig berührt schon, wie sehr er sich ausschweigt nicht nur über Muriel. Und je weiter der Roman fortschreitet, desto mehr verstärkt sich der Eindruck der Beliebigkeit dessen, was in den Fokus gerückt wird. Christians Geschichte bildet den roten Faden, aber sie wird ja nicht kontinuierlich erzählt, sondern vielfach durchschnitten von anderen Kapiteln, in denen Richards Vater, der Chirurg, die Katastrophen des Krankenhausalltags durchzustehen versucht bzw. Meno, der Lektor, guten Büchern an der Zensur vorbei zur Existenz verhelfen möchte.

Während Richard als Figur fassbar ist, ist Meno ein zweiter Nemo, der nur beobachtet, kaum je eine Meinung äußert, eine Nullfigur, die sehr schön Tagebuch schreibt… Er war einmal verheiratet mit der Tochter eines Intellektuellen, der dem System als Aushängeschild dient. Kein Wort erfahren wir über diese Ehe, die doch von einigem Interesse wäre. Überhaupt: die tieferen Beziehungen der Hauptpersonen zueinander werden ausgespart. Zu banal? Mir scheint eher: Hier kneift jemand. Offenbar ist es leichter, über zwanzig Seiten ein verrottendes Gemeinschaftsbad zu beschreiben.

Ebenfalls ausgespart wird Sexualität, jedenfalls die lesbare. Richard hat eine Geliebte, er besucht sie donnerstags. Das wars. Ein Roman von tausend Seiten, keusch wie ein Gesangbuch! „Wir (d.h. in der DDR) haben mehr gelacht und hatten den besseren Sex“, sagte Katharina Thalbach jüngst in einem Interview in der FAZ. Tellkamps Wälzer in der Hand, mag man es kaum glauben.

Implosion eines utopischen Projektes

Alle Kapitel haben die Funktion, das Fortschreiten des Verfalls zu illustrieren, das Morschwerden der Verhältnisse. Der Turm, so begreifen wir allmählich, symbolisiert nicht nur die Abgehobenheit der Nomenklatura und des sich in die „ewigen Werte“ flüchtenden Bürgertums, sondern vor allem das utopische Projekt, das zu realisieren die DDR angetreten war. Tellkamp will zeigen, wie es implodiert. Der Schlaf in den Uhren endet, sie beginnen hörbar zu ticken, etwas rumort und breitet sich aus in diffuser Erwartung des Unerhörten, eine Unruhe, die sich steigert und steigert, bis…

Ein solcher Prozess, an dem Unzählige und schließlich das ganze Land beteiligt sind, gibt eine Mosaikstruktur des Erzählens vor, in der sowohl die Steinchen wie das Ganze überzeugen müssen. Und das tun sie gegen Ende immer weniger.

Um es deutlich zu sagen: Niemand verlangt, den Untergang der DDR in sieben mal sieben Kapiteln dargestellt zu lesen wie den Zauberberg. Niemand hat etwas gegen abgerissene Erzählfäden. Der Turm muss nicht aus normierten Ziegeln bestehen. Aber die einzelnen Gesteinsbrocken müssen innerhalb des Ganzen bedeutungsvoll und notwendig sein, in jenem rätselhaften Sinn, der Literatur konstituiert und sie hinaushebt über bloß private Erinnerungen. Dieses Gefühl stellt sich nicht ein.

Einzelne Kapitel sind Kabinettstückchen („Enöff“), andere steuern auf einen Knalleffekt zu („Nadelarbeit“), wieder andere lesen sich bloß unterhaltsam („Die Hochzeit“). Diese „moderne“ Zerrissenheit kontrastiert mit einer immer fieberhafter wuchernden Beschreibungsmanie (was mir anfangs so gefiel, konnte ich am Ende kaum noch ertragen). Und muss denn Richard, der Handchirurg, dem Sohn Robert die Hand operieren? Und dann auch noch seiner Frau, die sich just dann verletzt, wenn eine Auseinandersetzung über Richards Seitensprünge beginnt und also endlich einmal Gelegenheit wäre, das Verhältnis der beiden wirklich deutlich werden zu lassen? Statt des Autors spricht der Chirurg.

Mythos DDR?

In „Bella triste“ 17/2007 hat Tellkamp einen Aufsatz zur Poetik des Gedichts veröffentlicht, der dreierlei demonstriert: Des Autors Wissen auch auf diesem Gebiet (Namen ohne Ende), seine Vorliebe für das Schwierige (die Sestine) und den Drang nach Größe. Liest man den Essay nach der Lektüre des Turms noch einmal, fühlt man sich an Christians Lesewut (700 Seiten am Tag) erinnert, die aus dem Wunsch entsteht, berühmt zu werden. Dazu passt: Wenn Poesie, dann in so ausgepichter Form wie die Sestine. Aber eigentlich segelt das Schiff in Richtung Epos, ins Uferlose. Tellkamps lyrisches Großprojekt, bislang Fragment, trägt den Titel „Nautilus“. Wie das U-Boot(!) des Kapitäns Nemo(!) bei Jules Verne. Wie der Kopffüßer des Indischen Ozeans in seinem Haus aus Perlmutt, der steigen und sinken kann, steigen und sinken – das Konstruktionsprinzip des Turms.

Der Untertitel des Romans lautet: „Geschichte aus einem versunkenen Land“. War die DDR ein Atlantis, wie Tellkamps vielfache Anspielungen nahelegen? Ist sie mythentauglich? Das ist die interessanteste Frage von allen, wenn man sie nicht auf „Mythos Trabi“ o.ä. reduziert, sondern ernst nimmt. Ich würde sie verneinen. Menschen, die ihr Leben dort verbracht haben, bejahen sie vielleicht. Der Roman entscheidet sich nicht. Den Glanz und die Pracht, die zu Mythen gehören, versucht er in der Sprache zu entfalten. Und beschreibt mit ihr die DDR als eine einzige graue Schäbigkeit. Das ist ein Widerspruch, der den Leser ratlos zurücklässt.

Gisela Trahms