Geschrieben am 15. Dezember 2010 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Typisch Italien?

Einspruch gegen eine vorherrschende Stimmung

– Von Carl Wilhelm Macke. Alles an dem spontan nach der Vertrauensabstimmung vom 14. Dezember geschriebenen empörten Kommentar von Ulrich Ladurner in Zeit-Online trifft ja zu. Die Verzweiflung über die jetzt schon nicht mehr zählbaren Vertrauenserklärungen von Seiten einer Mehrheit der beiden italienischen Kammern (Senat und Abgeordnetenkammer) ist gut begründet. Wieso schafft es dieser korrupte, macht- und sexgeile alte Unternehmer aus Mailand immer noch, bei den Wahlen innerhalb und außerhalb der Parlamente die Mehrheit für sich gewinnen? Können denn ‚die Italiener’ nicht lesen, nicht zur Kenntnis nehmen, was man außerhalb seiner Fernsehkanäle und außerhalb der italienischen Landesgrenzen über diesen politischen Blender und moralischen Taugenichts so denkt? Haben sie denn nicht bemerkt, dass er nichts von seinen spektakulär im Fernsehen vorgetragenen Versprechungen für ein blühendes Italien eingehalten hat? Will denn niemand sehen, dass unter Jugendlichen die Arbeitslosigkeit und allgemeine Perspektivlosigkeit dramatisch zugenommen hat? Will man einfach nicht zur Kenntnis nehmen wie radikal der Egomane Berlusconi und seine Hofschranzen jede Idee einer demokratischen und gerechten Politik für ihre privaten Interessen ausbeuten? „Was wir sehen“, schreibt Ladurner, „mag erschütternd sein. Doch ist es Zeit, sich zu verabschieden von einem Italien, das wir liebten.“

Und mit diesem Klagegewitter an die italienische Geliebte scheint der Autor auch den Ton der großen Mehrheit seiner Leser getroffen zu haben. Jedenfalls scheinen fast alle Zuschriften auf diesen Kommentar diese schroffe Antipathie gegenüber dem heutigen Italien unter Berlusconi zu teilen.  Die Stimmung in Deutschland gegenüber dem ‚Bel Paese’, dem Land der Latin Lover, des Espresso und der Songs von Paolo Conte scheint tatsächlich zu kippen. Und trotzdem stimuliert die vorherrschend gewordene Art von Generalabrechnung mit diesem Land ein ungutes, ja ärgerliches Gefühl. Wenn man den enttäuschten Klagen eines Ulrich Ladurner – der hier nur für viele andere steht – vorbehaltlos zustimmen würde,  hieße das aber auch die  vielen, gerade von jungen Menschen getragenen Anti-Mafia-Initiativen im Süden Italien zu vergessen. Das hieße die in Italien besonders verbreiteten freiwilligen Initiativen (Voluntariato) für Emigranten einfach aus unserem Italien-Bild auszuklammern.  Das hieße die Mailänder Staatsanwälte zu vergessen, die beispielhaft gegen die Korruption arbeiten. Das hieße die Kommentatoren von La Repubblica, L‘Unità oder Il Fatto zu Phantomen zu erklären. Das hieße  Roberto Saviano,  den Anti-Mafia-Priester Don Chiotti und die vielen Initiativen gegen den Ausverkauf der Landschaft und der Städte an die Spekulanten und die einheimische wie russische Mafia zu negieren. Das hieße die in den letzten Jahren immer stärker gewordene zivile Bewegung gegen die Privatisierung des Wassers nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das hieße die liberalen Intellektuellen im Umkreis von Libertà e Giustizia zu verschweigen, die versuchen die alten demokratischen und antifaschistischen Ideale aus der Zeit nach dem Ende des Krieges in unsere Zeit zu übersetzen. Das hieße die extrem lebendige und in ihrer großen Mehrheit heftig gegen Berlusconi e tutti quanti eingestellte Blogger-Kultur zu vergessen. Das hieße die überall, im Norden wie im Süden stattfindenden großen Demonstrationen von Schülern und Studenten gegen eine extreme Ökonomisierung des Studiums zu folkloristischen Umzügen zu erklären, ecc.ecc. Mag sein, dass alle genannten Personen und Initiativen zusammengenommen allenfalls eine Minderheit in Italien repräsentieren – aber es gibt sie wegen und trotz des weit verbreiteten Verfalls der politischen Kultur in den Regierungsjahren des Silvio Berlusconi.

So einfach aber kann man es sich nicht machen mit generalisierenden Aussagen über den Zustand eines ganzen Landes. Ich möchte ja auch nicht mit den ostdeutschen Neo-Nazis in einem Atemzug genannt werden, wenn man über Deutschland urteilt. Sie und die Fans von Thilo Sarrazin sind ein Problem der Gesellschaft und des Staates, denen ich nun mal nach Geburt und Personalausweis auch angehöre. Aber sie repräsentieren nicht das Deutschland und nicht die Traditionen des Landes, die mich nicht ganz verzweifeln lassen, wenn ich ‚an Deutschland in der Nacht’ denke. Trotz aller verständlichen Wut über das Abgeordneten-Shopping und den Huren-Supermarkt des Herrn Berlusconi – ohne aufgeklärte Differenzierung kann man heute kein europäisches Land mehr unter Generalverdacht stellen. Dass auch in der liberalen, aufgeklärten deutschen Öffentlichkeit diese denkfaulen Schablonen im Verständnis eines anderen europäischen Landes gehegt und gepflegt werden, ist ein armseliges Zeichen. Nicht für Italien – sondern für uns.

Carl Wilhelm Macke