„Wir schleppen die Jugend ein Leben lang mit uns herum“
– Der Berliner Autor Torsten Schulz veröffentlicht nach „Boxhagener Platz“ seinen zweiten Roman. „Nilowsky“ erzählt die Geschichte der Freundschaft zweier Jungen. Ein Gespräch über Freundschaft, Jugend und literarische Erzähltechniken. Von Ronald Klein.
R: Dein neuer Roman „Nilowsky“ ist ebenso wie „Boxhagener Platz“ in der DDR angesiedelt, was aber zu vernachlässigen ist. Viel wichtiger scheint, dass es eine Geschichte von der Freundschaft zweier Jungen ist.
T: Mein erzählerisches Vorhaben war es, mich mit den Wirren der Pubertät zu beschäftigen, noch einmal tiefgreifend da einzutauchen. Ich glaube, dass es Jugend als etwas Abgeschlossenes gar nicht gibt, wir schleppen Jugend ein Leben lang mit uns herum, entwickeln mit dem Älterwerden eine Art Instrumentarium, um mit unliebsamen Erscheinungen, denen wir in der Pubertät noch ausgeliefert waren, besser umgehen zu können: Liebesdinge, familiäre Problematiken… Wir bleiben gewissermaßen in diesen essentiellen Dingen verhaftet.
Das Thema „DDR“ gibt es, so wie ich Literatur verstehe, nicht. Ähnlich wie es auch nicht die Themen „Supermarkt“ oder „Grönland“ per se gibt. Ingredienzien, die mit DDR zu tun haben, befinden sich im Roman eher am Rande. Um der Geschichte eine Aura zu geben, verwende ich natürlich Details und Namen – die sind aber bewusst sparsam eingesetzt.
R: Die Geschichte würde ja genauso funktionieren, wenn sie in Baden bei Wien passiert wäre.
T: Zumindest insoweit wie etwas Archetypisches – so hoffe ich – im Vordergrund steht: Die schwierige, ambivalente Freundschaftskonstellation der Jungs, zu der obendrein ein Mädchen gehört. Ich freue mich, wenn Menschen mir berichten, dass dieser Roman in seinem Verlauf und Sinngehalt für sie nachvollziehbar ist, ja spannend und gar mit Sogwirkung. Ähnlich war es bei „Boxhagener Platz“: Die Geschichte wurde auch von Menschen verstanden, die beispielsweise in London oder Hamburg groß geworden sind.
R: Bei dem Konstrukt „Jugend“ im Sinne der Kulturwissenschaften handelt es sich um ein modernes Phänomen, das erst in der Epoche des „Sturm und Drang“ auftaucht. Neurowissenschaftler stellen aber fest, dass zwischen 15 und 17 Jahren im Gehirn etwas passiert, das gemeinhin mit Pubertät und Hormonen erklärt wird. Tatsächlich findet in dieser Zeit ein Umbau im Gehirn statt, der das Verhalten der Jugendlichen irrational erscheinen lässt. Wie begreifst Du „Jugend“?
T: Als Übergang von der doch mehr oder minder anarchisch geprägten Kindheit zum Erwachsenenleben, bei dem man sich eher an Regeln und gesellschaftliche Verabredungen halten muss. Mit anderen Worten: Eine Art Aufwallung – als ob zwei Wasserströme zusammenstoßen und dadurch ein unbändiges Gewässer mit Strudeln entsteht. Momente von Jugend, dieser außergewöhnlichen Phase, tauchen im Leben immer wieder auf: Die Midlifecrisis, das 30. Lebensjahr… das sind durchaus eruptive Phasen des Lebens, immer wieder gekoppelt mit Krise, Trennung, Neuanfang…
R: Ein interessantes Motiv stellt bei der Figur Nilowskys die self-fulfilling-prophecy dar, ähnlich wie in Hauptmanns „Vor dem Sonnenaufgang“. Der Alkoholismus des Vaters wird vererbt oder vielleicht auch erlernt. Carola hingegen verweigert sich den Rollenmustern der Eltern und entwickelt sich zum weiblichen Peter Pan.
T: Ja, Carola verweigert sich dem Erwachsenwerden. Der Ich-Erzähler in seiner Pubertät, aber auch Nilowsky, ein paar Jahre älter, sehen das nicht in der Dimensionierung, die es hat. Nilowsky meint, dass er mit der Unbedingtheit, mit der er sie haben und lieben will, sie auch irgendwann zu sich ziehen wird. Später, nachdem er – für sie gewissermaßen – im Knast war, geht sie darauf ein, nach dem Motto: Wenn mich jemand so sehr liebt, wird die Liebe meinerseits schon entstehen. Ein Irrtum, wie sich schmerzhaft herausstellt. Der Erzähler driftet zwischen beiden Figuren hin und her, er wagt es nicht, auf die spielerisch-erotischen Offerten Carolas einzugehen, weil er sich in freundschaftlicher Loyalität – aber auch Angst – Nilowsky verbunden fühlt.
R: In dieser Konstellation sind die Dispositionen spannend: Der Erzähler erscheint sehr zögerlich und Nilowsky hörig ergeben. Dieser ist einerseits seinem Vater unterlegen, andererseits in der Beziehung zum Erzähler unsensibel, ihn dominierend. Carola erscheint als sympathischste Figur, weil sie diese Machtstrukturen durchbricht.
T: Sie hat das Sympathische eines Kobolds, der sprunghaft ist, sich nicht festlegen will. Das ist gewissermaßen ihre Freiheitsdefinition. Sie versucht, von ihren Eltern wegzukommen. Sie will nicht erwachsen werden, sondern anarchisch sein. Erwachsensein bedeutet für sie, Freiheit zu verlieren.
R: Wie Nilowsky in diesem Muster gefangen ist aufgrund seiner Familiengeschichte und es nicht vermag auszubrechen, bleibt auch der Ich-Erzähler Markus Bäcker in seiner Weise opportun. Nur Carola bricht immer wieder Erwartungen auf persönlicher wie auch beruflicher Ebene. Sie erfüllt nichts, sondern lebt.
T: Ich hatte den erzählerischen Ehrgeiz, die Figuren sich ineinander spiegeln zu lassen. Andererseits sind sie auch recht verschieden. Carola hat sicherlich das sympathischste Charisma, Nilowsky eines, das ins Destruktive geht, der Erzähler hat am wenigsten Charisma bzw. so gut wie gar keines. Aber dafür ist er eben der Erzähler, der älter gewordene Markus Bäcker, der durch das Wiederauflebenlassen der Geschichte vielleicht eine gewisse Stärke und Persönlichkeit erlangt, die er als Figur innerhalb der Handlung gar nicht hat.
R: Heiner Müller hat mal gesagt, die größte Form in der deutschen Literatur sei das Fragment, Dinge auszuerzählen, entmündige den Leser. In einigen Deiner Drehbücher wie „Raus aus der Haut“ oder auch in Deinen Kurzgeschichten arbeitest du mit einem offenen Ende. Passt „Nilowsky“ in dieses Muster?
T: Was die innere Reise der Figuren angeht und alles, was damit verbunden ist, nicht zuletzt bestimmte Fragestellungen, die unter der Handlung liegen, hoffe ich, dass zum Ende hin eine gewisse Offenheit entsteht, die man vielleicht mit dem Begriff Fragment in Verbindung bringen kann. Andererseits neige ich zum guten traditionellen Erzählen, in dem die Komposition eines Romans Ausdruck seiner Grundidee ist.
R: Noch einmal Müller: Er sagte, zuerst sei bei ihm der Raum da, aus dem sich der Konflikt entwickelt.
T: Das weist ihn sicherlich als Theaterautor aus. Bei mir ist möglicherweise das Pendant zur Bühne das Setting am Bahndamm, ähnlich wie es bei „Boxhagener Platz“ der gleichnamige Ort war. Bei „Nilowsky“: der Bahndamm mit den Gleisen, das Chemiewerk, das Eckhaus mit Kneipe. Das ist die Welt, in der die Handlung im Wesentlichen stattfindet. Da habe ich, vereinfacht gesagt, die Figuren eingepflanzt und geguckt, wie die sich aufeinander beziehen. Wobei zunächst die beiden Jungs da waren. Carola kam dazu. Auch für mich im Schreibprozess. Ganz am Anfang hätte ich es auch noch für möglich gehalten, dass mehrere Mädchen anstelle Carolas agieren.
R: Wie bereits erwähnt, bleiben viele Fragen offen. Hast du für dich selbst diese Fragen weitergesponnen? Was ist aus Nilowsky tatsächlich konkret geworden? Das wird ab einem bestimmten Punkt sehr nebulös.
T: Vermutlich wird es mit ihm destruktiv weitergegangen sein, vielleicht hat er sich sogar totgesoffen, oder er ist wieder im Knast gelandet… Aus der Sicht des Erzählers war es mir hingegen wichtig, Nilowsky eine gewisse Würde zu geben. So entschließt sich der Erzähler zu einer Art Epilog mit positiver Mutmaßung. Er sieht Nilowsky am Ende eben so, wie er ihn sehen will.
Und die anderen Figuren? Markus Bäcker, das wird angedeutet, wird wohl ordentlich und verantwortungsbewusst leben: als Lehrer. Die Geschichte, die er uns erzählt hat, hat ihn bestimmt stärker gemacht. Und Carola? Weiß ich nicht. Vieles scheint möglich, es deutet sich an, dass sie ein Leben als gutaussehende, unternehmungsfreudige, beruflich halbwegs erfolgreiche Frau führt. Ob sie tief im Inneren damit zufrieden und glücklich ist, sei dahingestellt.
Ronald Klein
Torsten Schulz: Nilowski. Klett-Cotta 2013. 284 Seiten. 19,95 Euro. Foto oben: Darek Gontarski, Foto mittig: Andreas Weizenbök. Quelle: Downloadbereich der Homepage des Autors.