Geschrieben am 1. Februar 2016 von für Comic, Litmag, News

Comic: Tobi Dahmen: Fahrradmod

9783551763082Wild mit Fahrrad oder: Was in Wesel los war

– Eigentlich müssten die späten 1980er und frühen 1990er Jahre inzwischen reichlich abgefeiert sein, wenn inzwischen sogar »Formel Eins« wiederbelebt wurde. Nun verhält es sich allerdings so, dass die Generation X – also die Generation der deutschen Baby-Boomer, die in diesen Jahren erwachsen wurde – inzwischen zentrale Plätze in unserer Gesellschaft besetzen und sie damit formen. Dazu gehört dann auch, dass diese Fortysomethings und Fiftysomethings ihr bisheriges Leben Revue passieren lassen und so mancher seine Geschichte dazu erzählt. So auch Tobi Dahmen.

Gut, ganz so einfach war das im Fall der Story »Fahrradmod« sicher nicht.

Die ersten Arbeiten zu dem Band nahm Dahmen bereits vor acht Jahren in Angriff. Von da an gab es, selten, aber doch oft genug, Auszüge im Netz, bzw. in sozialen Medien zu sehen, die schnell das Interesse an dem Comic weckten. Ganz aus dem Nichts kommt der Erfolg dieser Geschichte nicht. Es war aber nicht nur geschicktes Marketing dafür zuständig, dass der Band nun in Presse, Fernsehen und im Web abgefeiert wird, es ist schlicht eine Story, die von der ersten Seite an fesselt! Insbesondere, wenn man sich selbst in ihr wiederfindet, eben weil man zur genannten Generation gehört und »Teil einer Jugendbewegung« – in diesem Fall der Mod- und Skin-Szene war.

Um aber gleich mit einem Irrtum aufzuräumen: »Fahrradmod« ist keine coming-of-age Geschichte. Diese Gattung erzählt von den Veränderungen in der Sicht auf die Welt während des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen. Mir macht Tobi Dahmen in dem Band nicht den Eindruck, als hätte sich seine Weltsicht zwischen Jugend und Erwachsensein großartig geändert. Die Fragen, die sich Held und Erzähler schon am Anfang, also in seiner Jugend stellt, sind mehr oder weniger dieselben, die sich der über 40-Jährige stellt. Es sind die Fragen nach dem eigenen Wert, der Stellung innerhalb einer Gruppe und sein Status in dieser Gruppe – oder besser Gruppen, denn wer diese Zeit selbst erlebt hat, wird einen Unterschied zur Gegenwart feststellen: Während heute die Diversifizierung der Jugendgruppen einen Stand erreicht hat, der getrost als absurd gelten kann, gab es im Großen und Ganzen in den 80er und frühen 90er Jahren sieben oder acht maßgebliche Richtungen, die sich – in Ermangelung spezialisierter Clubs, insbesondere in Kleinstädten – auch noch in denselben Dissen  trafen und mehr oder weniger friedlich koexistierten.

Nicht, dass zwischen Skins, Punks, Gruftis oder Wavern, Teds, Psychs, Rockabillies oder Mods stets eitel Sonnenschein herrschte, es kam untereinander zwangsläufig immer wieder zu schlagkräftigen Auseinandersetzungen, dennoch schien man sich in einem einig zu sein: Im Anderssein.

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Dahmen berichtet in seiner Graphic Novel von seinem Weg in die Subkultur der Mods und seinem »Aufstieg« innerhalb dieser Szene. Seine besondere Spannung zieht die Geschichte dann auch aus den Brüchen im Selbstverständnis dieser Gruppen und den Rivalitäten unter den Gruppen. Tim, der beste Freund des Erzählers, steht dafür exemplarisch. Er wandelt sich im Laufe der Zeit vom schicken Mod zum gewaltbereiten Skin. Auch hier ist der Zeitzeuge vermutlich im Vorteil, denn er kennt die Zusammenhänge zwischen Ska-, Mod- und Skinkultur aus eigenem Erleben. Wie damals nicht unüblich rechtfertigt Tim anfangs das Auflegen eines faschistischen Skrewdriver-Songs noch mit dem Satz: »Ja, ich weiß, die Texte sind Scheiße! Aber die Musik ist geil!« um im nächsten Schritt bei einer Party White Power-Sprüche mitzugröhlen und schließlich grundlos einen Unbeteiligten zusammen zu schlagen. Dennoch bleibt die Freundschaft bestehen.

Verstehen kann man das vor allem im Zusammenhang mit dem Ort in Nordrhein-Westfalen, an dem weite Teile der Autobiografie spielen. Wesel , wo alles begann und wohin der Autor immer wieder zurückkehrt, ist ja nun nicht gerade eine Metropole. In solchen Gemeinden ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bruch in der Freundschaft endgültig ist,  deutlich geringer als in Großstädten, allein schon, weil man sich zwangsläufig immer wieder über den Weg läuft. Es wirken andere soziale Mechanismen.

Nicht, dass hier der Eindruck entsteht, »Der Fahrradmod« wäre ausschließlich ein Lehrbuch über Mods oder eine tragische Soziostory. Im Gegenteil. Seine besondere Kraft liegt in der geschickten Mischung aus Komik und Drama. Über weite Teile ist der Comic einfach saukomisch und beste Unterhaltung. Dabei hilft der Aufbau der Story. In seiner Erzählweise ähnelt »Fahrradmod« Jamie Hernandez‘ »Love & Rockets« sehr. Erstaunlich, weil Tobi Dahmen nach eigener Aussage diese Reihe bis heute nicht gelesen hat.

FM377-725x1024Wie Hernandez spielt Dahmen mit Zeitsprüngen oder wechselt unvermittelt den Ort oder den Erzählstrang, meist ohne einleitende Erklärungen. Gelegentlich nennt eine Textbox auf den Splash-Pages das Jahr, besonders, wenn der Autor einen Zeitsprung in die Entstehungsgeschichte der Mod-Szene macht. Oft kommen die Sprünge aber viel unvermittelter und ohne Erklärung daher, so dass man schon aufmerksam sein muss, will man den Faden nicht verlieren. Vom Zeichenstil her betrachtet, könnte der Unterschied nicht größer sein. Im Gegensatz zu Hernandez, dessen klarer Stil fast schon an die Ligne Claire erinnert, ist Dahmen deutlich »funnier«, hat stellenweise beinah mangaeske Momente. Aber gerade dieser halbrealistische Stil lässt die bitterbösen Momente in der Story umso drastischer werden. Hier liegt Dahmen ganz auf Linie von beispielsweise Manu Larcenet oder Flix.

Man muss nicht Zeitzeuge sein, um diesen Comic genießen zu können. Und zu genießen gibt es reichlich. 461 Seiten, mit einem Glossar versehen, wollen erst einmal gelesen werden. Auch dadurch erklärt sich die lange Entstehungsdauer .

Eine Sache, die auf keinen Fall vergessen werden darf, ist die Aufmachung. Es wurden nicht einfach über 400 Seiten in einen Hardcoverumschlag gepackt: Alle redaktionellen Seiten wurden in das gestalterische Konzept eingepasst. Hier zeigt sich, wie viel Begeisterung auch von Seiten des Gestalters, Stefan Dinter, in das Werk eingeflossen ist. Vor allem Christopher Tauber ist es zu verdanken, dass der Band bei Carlsen untergekommen ist und das Gesamtprojekt über die Jahre begleitet und gefördert hat.

Insgesamt ist »Fahrradmod« für mich unangefochten die Neuerscheinung des Jahres 2015. Man muss es dem Carlsen Verlag hoch anrechnen, dass er den Band eben nicht nur publiziert hat, sondern auch ordentlich bewirbt. Ich wünsche mir solche Comics häufiger. Nicht nur von Seiten der Autoren, sondern auch und insbesondere von verlegerischer Seite her. Das wird allerdings so lange schwierig bleiben, wie Comiczeichner darauf angewiesen sind, ihren Lebensunterhalt mit genrefremder Arbeit zu finanzieren.

Einziger Wermutstropfen: Irgendwie ist der Band trotz seines Umfangs viel zu schnell durchgelesen und eine Fortsetzung nicht wahrscheinlich. Ich wurde selten von einem Comic derartig gefesselt, dass ich nach der letzten Seite gleich hätte weiterlesen wollen. Obwohl, wenn Tobi Dahmen jetzt anfinge, könnte man in acht Jahren …

Hanspeter Ludwig

Tobi Dahmen: Fahrradmod. Graphic novel. Carlsen Verlag, Hamburg 2015. 473 Seiten. Schwarz/weiß. Hardcover. 29,99 Euro.

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