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Mit „absoluter Ignoranz und Zuversicht“ zum Durchbruch
Rückblende auf den letzten Ingeborg Bachmann-Wettbewerb vor der Jahrtausendwende: Im Klagenfurter Weihetempel der jungen deutschen Literatur wartet die hehre Kritikerrunde und das gespannte Publikum auf den nächsten Kandidaten. Mit einem spitzbübischen Lächeln fläzt sich Thor Kunkel breitarmig auf seinem explosiven Stuhl und verliest nach einer programmatischen Celine-Einleitung ein ganz und gar nicht erbauliches, ganz und gar nicht erlesenes Fragment aus dem Leben seines Antihelden Kuhl – „Kuhl, 19, Ex-Fernsehtechniker, gelernter Versager, jetzt Nachtwächter“. Kuhl, der „Conasseur der Narkose“ und begnadete Moskowskaja-Säufer, suhlt sich in „Phasenlage Null“ auf seinem Milben-Lotterbett, switcht halluzinierend durch die TV-Kanäle, sinniert über das Leben und wichst wie ein Weltmeister:
„Gegen die unerträgliche Klarheit in meinem Hirn und die Leere in meinem Inneren konnte ich nichts anderes finden als die Schüttelpraktik von Daumen und Zeigefinger, einmal am Tag das Hohlorgan formen und das Vaterunser der endoktrinen Sekretion beten…“
Befindlichkeiten eines Endzeitsubjektes
Thor Kunkels Lesung war für mich die Überraschung im hochritualisierten Ingeborg Bachmann-Wettbewerb. Und damit noch nicht genug: Der ersten Überraschung über seine ganz und gar wettbewerbsuntypische Erzählung folgte die zweite auf dem Fuße: Bis auf Thomas Hettche, der den Kuhl-Text als „medial reflektierten Bukowski“ abwatschte, war in der Kritikerrunde Zustimmung und fast so etwas wie Erleichterung über diesen neuen Ton zu verspüren. Iris Radisch war „schon sehr froh, dass hier eine Erzählung soweit in einer erkennbaren Gegenwart angekommen ist“, Robert Schindel sprach von der vom „Puls der Zeit“ kündenden „Befindlichkeit eines Endzeitsubjektes“ und Elisabeth Längle sah „das Lebensgefühl einer ganzen Generation widergespiegelt“ – und wagte es sogar, dem Roman eine Zukunft als „Kultbuch“ anzudeuten.
Ein Nobody im Literaturbetrieb
Thor Kunkel war seiner eigenen Einschätzung nach als „krasser Außenseiter“ nach Klagenfurt gekommen und rechnete sich „überhaupt keine Chancen“ aus. Der 36jährige war ein Nobody im Literaturbetrieb und hatte noch nicht einmal am fast abligatorischen Klagenfurter Literaturkurs, der sogenannten „Häschenschule“, teilgenommen. Und statt am Tage der Lesung seinen Text wieder und wieder zu proben, ging er lieber mit Frau Gerda in den umliegenden Bergen wandern und meditieren. Nur einige kleine Pausen- und Wasserglasikonen fügte er hier noch in seine Manuskriptseiten ein. Den Ingeborg Bachmann-Wettbewerb konnte Thor Kunkel zwar letztlich nicht gewinnen, aber dafür nahm er viel Lob und den mit immerhin 160.000 Schillingen dotierten Ernst-Willner-Preis mit nach Amsterdam. Hier lebt der Autor seit neun Jahren im „Oud Zuid“ und hat in ungezählten Tagen und Nächten seinen Roman „Schwarzlicht-Terrarium“ zu Papier gebracht.
Faszinierende literarische Landschaft
Zu Anfang seines Romanprojektes hatte Thor Kunkel weder einen Plot noch ein Figuren-Ensemble, sondern nur das „Modell einer faszinierenden literarischen Landschaft im Kopf“. Er fühlte sich „wie jemand, der in einem Schlauchboot mit drei Streichhölzern und einer Büchse Cola nach Amerika rudern will.“ In einer Mischung aus „absoluter Ignoranz und Zuversicht“ ruderte Thor Kunkel los und füllte Seite für Seite. Phasen des rauschhaften Schreibens – sei es am Schreibtisch, in der gemütlichen Küche oder in einem Amsterdamer Park – wechselten sich mit intensiver Recherchearbeit ab. Immer wieder wurden die Erzählstränge umgeformt und manche Seiten 20- bis 30mal „neu durchgeschliffen“. Derweil wuchs der Manuskriptstapel ozeanisch: 200, 400, 600, 800 Seiten und noch immer kam kein Land in Sicht. Thor Kunkel ließ sich aber gar nicht beirren und ruderte munter weiter – bis sich nach knapp 900 Seiten endlich alle bedrohlich verzwickten Erzählwirbel auflösten und ein neuer literarischer Kontinent Form annahm.
Zwischen Versagern & LSD-Astronauten
Thor Kunkels Roman „Schwarzlicht-Terrarium“ spielt im zweiten Halbjahr 1979 und beginnt mit dem Skylab-Absturz. Viergleisig und in assoziativer Bocksprungtechnik wird die Geschichte vom Versager Kuhl, vom Schürzenjäger „Sonny“, dem in Frankfurt stationierten G.I. Eddie und vom „LSD-Astronauten“ Rio erzählt. Unter der locker wegzulesenden und mit Versatzstücken aus der Trivialliteratur angereicherten Erzähl- und Handlungsebene hat Thor Kunkel dabei ein bizarres Gebirge aus philosophischen und technisch-naturwissenschaftlichen Gesteinsmassen aufgeschüttet – und genau das unterscheidet ihn von den unzähligen Schmalspur-Bukowski-Adepten mit ihren ewigen Saufen-Ficken-Kotzen-Zirkeln. Schon Thor Kunkels Bachmann-Beitrag „Das Doppelleben der Amöbe“ lebt ganz offensichtlich von der ungeheuren Spannung zwischen den verschiedenen Diskursen: Da hört Kuhl auf der alltäglichen Mikroebene das „Schmatzen der Milben“ im aufgeweichten Bettlaken und auf der kosmischen Makro-Ebene halluziniert er mal so eben eine rasante Schöpfungs- und Entwicklunsggeschichte der Menschheit: „Im Zeitraffer sieht er wie alles passiert ist: der Planet vor 5 Milliarden Jahren, wüst aufgetürmte Gesteinsmassen, leere Ozeane, Blitze, Millionen Jahre Regen… Dann, eines Tages, kommt die Sonne durch… Die ersten Photonen und Gammateilchen versickern im Schlamm eines namenlosen Gestades… Schon köchelt die Ursuppe auf kleiner Flamme, auf submolekularer Ebene beginnen sich Riesenräder zu drehen, die Phosphat-Skelette fahren Achterbahn, und dann ist es nur noch ein kleiner Schritt von den Zellklumpen der präkambrischen Meere zu den Metastasen der Großstädte, den Waben aus Stahlbeton, die er kennt…“
Der Mensch als molekularer Bausatz
Philosophie, Technik und Wissenschaft üben auf Thor Kunkel eine ungeheure Anziehungskraft aus. Die umfangreiche Bibliothek in seinem Jugendstilhäuschen an der Frans von Mierisstratt besteht zu 2/3 aus Sach- und Fachbüchern. Wie andere Leute Arztromane und Konsaliks, so verschlingt Thor Kunkel Werke über Fernsehtechnik, Biophysik oder Kybernetik. In seinem „Schwarzlicht-Terrarium“ entwickelt er aus seinen enzyklopädischen Lesefrüchten ein mit hunderten von Fußnoten angereichertes und fast „wasserdichtes Weltbild“, in dem „der Mensch als molekularer Bausatz“ erscheint – fast ohnmächtiger Schauplatz seiner Säfte und Triebe. Schmunzelnd gibt der Romancier dabei zu, dass dieses „Gedanken-Modell“ schon „ein wenig deterministisch und fatalistisch“ erscheinen könne – „aber wo, wenn nicht in der Literatur soll man auch mal ganz irre Gedankenmodelle durchspielen können“? Der Odyssee des Schreibens folgte die Odyssee der Verlagssuche. 20 Absageschreiben stapelten sich mit der Zeit und ließen Thor Kunkel schon den Glauben an die Lektorenzunft verlieren: „Das Buch sollte auf die Schlachtbank geführt, verstümmelt und auf 200 Seiten eingedampft werden.“ Gerne hätten die Lektoren dabei „einen gängigen Szeneroman à la Stuckrad-Barre“ aus dem ausufernden und vielschichtigen Manuskript gemacht – doch dazu war Thor Kunkel nun wirklich nicht bereit. Über eine zwischengeschaltete Agentin landete das Manuskript schließlich ein zweites Mal beim Rowohlt-Verlag und stieß bei Marcel Hartges endlich auf heiße Gegenliebe. Im Frühjahr 2000 wird das „Schwarzlicht-Terrarium“ nun erscheinen und im Herbst folgt mit dem auf Hawai spielenden „Ein Brief an Hanny Porter“ gleich der zweite Kunkel-Roman.
Kindheit in Kamerun
Wie sein Antiheld Kuhl aus dem „Schwarzlicht-Terrarium“ wurde Thor Kunkel in Frankfurt am Main geboren – genauer in „Kamerun“, in der industriellen Peripherie westlich des Gallusviertels. Hier, zwischen Frankenallee, Hellerhof-Siedlung, Erbau-Block und Kleingartenviertel ist, wie Thor Kunkel in seinem Roman schreibt, nachts „alles ausgestorben; Angstgegend, leere Fabrikhallen, Wellblechdepots, windige Parkflächen, schlecht beleuchtete Unterführungen, verrußte Mauern mit Stacheldrahtkronen: dahinter das Schnaufen von Zügen.“ Seine Kindheit verbrachte Thor Kunkel mehr oder weniger „in den Straßen von Kamerun“, denn zuhause herrschten „ziemlich zerrüttete Verhältnisse“: Der als Technischer Zeichner beschäftigte Vater war dabei nicht nur ein hoffnungsloser Alkoholiker, sonder auch ein überzeugter Anarchist: „Auf dem Wohnzimmertisch lagen neben der Fernsehzeitung Bakunins Werke und Nietzsches Antichrist“, erinnert sich Thor Kunkel an seine frühen Jahre. Mit zehn entdeckte er die Gallus-Bibliothek und wurde ein wählerischer Stammgast. Von Anfang an bevorzugte er äußerst schwere und düstere Kost: Beckett, Ionesco, Handke, Pinter und Nietzsche. Thor Kunkel hat den pessimistischen Existentialismus dieser Schriften tief in sich aufgesogen und auch seinen ersten Kurzgeschichten eingeimpft, die er mit 16 Jahren zum Suhrkamp-Verlag schickte. Hier testete er die Literatur als ein Medium aus, „in dem man seine Erlebnisse verarbeitete und versuchte, sich über sich selbst klar zu werden.“ Als seine Geschichten mit dem Vermerk „Nicht zur Veröffentlichung geeignet“ zurückkamen, hörte Thor Kunkel mit dem Schreiben auf – früher als Arthur Rimbaud, dafür aber nicht auf ewig.
Wanderschaft
Nachdem er sein Abitur auf dem Goethe-Gymnasium gemacht hatte, ging Thor Kunkel auf die Frankfurter Städel-Kunstschule. Während seine Kommilitonen sich hier im wilden Schwung des Abstrakten Expressionismus übten, stellte Thor Kunkel mit diffizilen Stempeln „bio-mechanische“ Drucke von Insekten und Fantasie-Lebewesen her. Es folgte ein Aufenthalt in Amerika, wo er am „San Francisco Art Institut“ Kurse im „Creative Script Writing“ belegte. Zurück in Frankfurt am Main heuerte Thor Kunkel in der Werbebranche an und fasste dort Fuß: Er ging für fünf Jahre nach London, dann für eine kurze Zeit nach Hamburg und schließlich nach Amsterdam, wo Thor Kunkel heute als freier „Creative Director“ bei einer großen Multimedia-Werbeagentur arbeitet. Hier hat er jene Innovations- und Experimentierfreude gefunden, die er in der deutschen Werbebranche mit ihrem stromlinienförmigen Sicherheitsdenken immer schmerzlich vermisste.
Antworten auf die Daseinszumutungen
Vier Romane hat Thor Kunkel in den letzten zehn Jahren fertiggestellt – nicht nur, weil er seine eigenen Geschichten gerne liest, sondern auch „als Antwort auf die Daseinszumutung“. Im kulturellen Schmelztiegel Amsterdam, wo die Sprachen wie die Tulpen blühen und das Holländisch von Anglizismen perforiert ist, wurde er sich auch zunehmend seines eigentlichen Handwerkzeuges bewusst. Die deutsche Sprache hat im Amsterdamer Sprachgewirr ihre gewohnheitsmäßige Selbstverständlichkeit verloren und wird wie ein kostbares Gut kultiviert. In skurrilen Wortsteinbrüchen – seien es Schweizer Jagdzeitschriften, alte Enzyklopädien oder Fachbücher – ist Thor Kunkel ständig auf der Suche nach seltenem und unverbrauchtem Wortmaterial. Vor der leeren Manuskriptseite – und sei sie virtuell – fühlt er sich dann zuweilen „wie ein Maler, der vor seine Staffelei tritt“ und mit wenigen Strichen ganze (Gedanken-) Landschaften auf die Leinwand bannen kann.
Von Karsten Herrmann