Lustige Lyrik
Thomas Gsella, langjähriger Chefredakteur der Titanic, ist nicht nur einer der begabtesten Reimer dieses Landes (ja, tatsächlich!), sondern auch einer der besten Parodisten. Dieser Band beweist’s. Von Tina Manske
„Nicht herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki“ steht in großen Lettern auf dem Umschlag, und schon auf Seite 5 erfährt man, wer an diesem Buch alles nicht mitgewirkt hat: Iris Radisch, Hermann L. Gremliza, Felicitas von Lovenberg und viele andere mehr (oder weniger). Und trotzdem wird ihnen von Thomas Gsella gedankt, dafür, dass er ihre Namen unter Texte setzen durfte, „die sie niemals geschrieben hätten“.
Mit seinem Buch Warte nur, balde dichtest du auch legt Thomas Gsella eine „Offenbacher Anthologie“ vor, eine direkte Verhohnepipelung also des Formats, das als „Frankfurter Anthologie“ seit Jahren von der FAZ gepflegt wird, unter Vorsitz des deutschen Großkritikers MRR. Nicht nur die Gedichte sind von Gsella, sondern auch gleich die sich damit auseinandersetzenden Texte. Das alles ist nicht nur schön erfunden, sondern auch noch meisterhaft gemacht.
Denn nicht nur ist Gsella, jahrelanger Chefredakteur der Titanic, selbst einer der begabtesten Reimer dieses Landes (ja, tatsächlich!), sondern auch einer der besten Parodisten. Und so sind fast noch lustiger als die Lyrik selbst die nebenstehenden Texte, die das allzeitige Wabern und Labern der deutschen Feuilletons geradezu genüsslich imitiert und auseinandernimmt.
Unterhaltung auf hohem Niveau
Ergänzt werden die jeweils doppelseitigen Präsentationen durch ebenso abgründige Fotos, die angeblich die Autorinnen und Autoren dieser eminent lustigen Lyrik zeigen. Da sieht man dann beispielsweise zwei selbstzufriedene Männer im Wasser stehen und unter ihnen das Gedicht von „Branimir Dukic“: „Sonne auf dem Bauch/ Lungen voller Rauch/ In meinem/ Pool/ fühl ich mich/ sauwool“. Und ein behaupteter Edo Reents schreibt dazu: „… wie aus Versehen wird das radikale Subjekt hier Teil eines Wir, einer Gruppe, die der Lyriker in einem seiner seltenen Interviews als ‚Baumafia‘ beschrieb.“
AYAK KIMAUGRUK – „NIKOLAUS“
Tralala
Tralala
Dingeldong und
Upsassa
Tralala
Tralala
Bald ist Nikolaus‘
Abend da
Bei keiner anderen Lyrikerin der kanadischen Arktis findet Melancholie als Nachweh kopernikanischer Entzauberung so scheinbar leichten wie just darum unendlich traurigen Ausdruck wie bei der elffachen Mutter Ayak Kimaugruk. Jedes ihrer sechs vom Ineriisaavik-Verlag edierten und von Dietmar Dath übertragenen Debütgedichte „Kalaallisut“ („Kinderlieder“) rezitiert auf den ersten Blick tatsächlich ein bekanntes Kinderlied. Kaum aber will sich der Lesende in ihnen, in Kindheit verlieren, befällt ihn Erschrecken: Zeilen, ganze Strophen fehlen, einst weltsagende Worte sind durch Füllsel ersetzt, liebstgewonnene Metrik kollabiert, als habe eine irrende Seele sich ein letztes Mal zu finden, zu retten versucht und alles verloren. „Kommt ein Vogel geflogen / humba humba täterä / hat ein Zettel im Auto (!?), von der Mutter ein Dings.“ Radikaler kann Dekonstruktion nicht sein.
Dass er die Notate „im Schneematsch“ gefunden und gegen den Willen der Kimaugruk veröffentlicht habe, betont der Verleger im Nachwort. Max Brods Missachtung von Kafkas Verdikt: Vorspiel und Vorschein eines noch größeren Stücks?
Iris Radisch
Am Ende ist man so weit, dass man selbst die auf dem Klappentext etwas Meinenden („Das ist wirklich sehr komisch“ – Botho Strauß) beinah für Alter Egos von Thomas Gsella hält. Wie immer bei diesem Autor gilt: Wer sich auf hohem Niveau unterhalten lassen möchte, der ist mit diesem Buch gut bedient.
Tina Manske
Thomas Gsella: Warte nur, balde dichtest du auch! Die Offenbacher Anthologie. Ullstein Verlag 2010. 112 Seiten. 7,95 Euro.