Intensiv und packend inszeniert
– Ein Klassiker der feministischen Literatur und eine der besten Erzählungen über ausbrechenden Wahnsinn: „Die gelbe Tapete“ von Charlotte Perkins Gilman hat auch heute noch eine höchst verstörende Wirkung. Eine Frau, offenbar von postpartalen Depressionen geplagt, zieht sich mit Mann, Kindermädchen und Baby aufs Land zurück, um zu genesen. Doch das Gegenteil tritt ein, und die Tapete wird zum Auslöser unkontrollierbarer Halluzinationen. Dieser Stoff wurde nun an der Berliner Schaubühne dramatisiert. Henrike Heiland ist beeindruckt.
Katie Mitchell inszenierte Lyndsey Turners Bühnenfassung der Gilman-Erzählung als live produzierten Film und bringt dabei die Intensität der Hauptfigur den Zuschauern schmerzlich nahe. Anna wird gespielt von einer zerbrechlichen, verschwindend dünnen Judith Engel, die der Figur Wahn und Wahrheit in Körperhaltung und Ausdruck verleiht. Die Erzählstimme – Annas Gedanken – übernimmt Ursina Lardi mit einer Eindringlichkeit, die irgendetwas zwischen begeistert und ängstigt. Anna also wird zum Nichtstun verdonnert. Da sie das Babygeschrei nicht erträgt und es auch nicht schafft, sich mit dem Kind zu beschäftigen, bleibt sie fast ausschließlich in dem Zimmer des merkwürdigen alten Hauses, das ihr Mann für ein paar Monate angemietet hat. Anfangs noch findet Anna die gelbe Tapete mit dem unregelmäßigen Muster scheußlich, doch dann empfindet sie sie als Herausforderung, glaubt, sie lesen zu müssen, um – ironischerweise – nicht wahnsinnig zu werden. Sie beginnt, eine Frauengestalt hinter dem Muster in der Tapete eingesperrt zu sehen. Anna versucht nun, sich Kindermädchen und Ehemann vom Leib zu halten, um die Frau zu befreien.
Die Schaubühnen-Inszenierung holt das Stück aus dem Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts nach Berlin und ins Heute. Dazu musste sich Regisseurin Mitchell entscheiden, was sie erzählen will. Die feministische Botschaft, Frauen müssten arbeiten und unter Menschen, statt ruhiggestellt und im Haus gehalten zu werden, ist zum Glück hundertzwanzig Jahre später nicht mehr ganz so notwendig, wie sie es einst war, und so wird vor allem eine Krankengeschichte erzählt.
Anders als die Ich-Erzählerin bei Gilman versucht Anna trotz des Ruhegebots zu arbeiten, schafft es aber nicht. Sie sucht Ablenkung, ist aber zu erschöpft. Sie steht einfach nicht mehr auf, will den Raum gar nicht verlassen, obwohl man sie dazu animiert. Anna verliert das Gefühl dafür, welcher Wochentag oder welche Tageszeit gerade ist. Die Vorhänge zieht sie nicht mehr auf, und selbst die Körperhygiene erfordert zu viel Energie, die sie nicht mehr hat. Erst der beginnende Wahn verschafft ihr einen kleinen Schub, denn sie weiß, dass sie ihre Gedanken – die sie ja für real hält – vor den anderen verstecken muss.
Immer wieder wird die dichte Erzählung, deren Bilder direkt gemischt und auf eine Leinwand projiziert werden, mit unkommentierten Videoeinspielungen der Vergangenheit unterbrochen. Anna, wie sie in ihrer Berliner Wohnung steht und sich nicht über die Geburtstagsüberraschung freuen kann. Anna, wie sie sich mit dem Kinderwagen die Straße entlangschleppt, während ihr Mann mit dem Baby herumtollt. Und am Ende: Anna, wie sie war, als sie noch glücklich war. Ein Gegensatz, der als Schlusspunkt ein so harter Schlag ins Gesicht der Zuschauer ist, dass atemlose Stille entsteht, in der niemand zu applaudieren wagt.
Die postpartale Depression funktioniert als zeitloses Thema, der unangemessene Umgang des direkten Umfelds mit den Patientinnen ist ebenfalls heutig genug. Schwierig wird allerdings unter diesem Aspekt das Auftauchen der Frauengestalt hinter der Tapete, denn ihre Funktion reduziert sich damit auf eine Halluzination, die Anna endgültig in den Wahnsinn führt, der ihr Befreiung durch Selbstmord verschafft.
Die Symbolik der eingesperrten (unterdrückten, abgeschobenen) Frau, die von den herrschenden gesellschaftlichen Gepflogenheiten zum Nichtstun verdammt ist, wenn es schon mit der Mutterrolle nicht klappt, verliert an Bedeutung. Die Stigmatisierung der Frauen in der medizinischen Wissenschaft dieser Zeit zu Hysterikerinnen und ähnlichem Unsinn, wenn sie sich nicht fügen wollten, kann so nicht mehr erzählt werden.
Aber wie anders inszenieren? Historisch? Die Kostümierung der Tapetenfrau hat zumindest etwas, das hundert Jahre zurückdenken lässt. Aber der emanzipatorische Aspekt bleibt auch durch diese Anspielung letztlich auf der Strecke.
Oder doch nicht? Schließlich bringt die Inszenierung die großartige, aber kaum bekannte Erzählung wieder ins Bewusstsein, damit auch ihre Rezeptionsgeschichte. Charlotte Perkins Gilman schrieb damals „Die gelbe Tapete“, weil sie selbst durch eine Behandlungsmethode, die ihr strengstens untersagte, zu arbeiten oder sich sonstwie intellektuell zu beschäftigen (klar, als Frau, das kann nicht gesund sein, denken und arbeiten …), fast wahnsinnig geworden wäre. Eben nur fast, aber das leistet ja Literatur, zu erforschen, was alles hätte passieren können.
Zurück zur Inszenierung, die sich auf m
ehreren Ebenen erleben lässt: Einmal der fertig gemischte Film auf der Leinwand, dann die transparent gestaltete Präsentation dessen, was auf der Bühne geschieht. Sogar die Kabine der Geräuschemacherin ist ausgeleuchtet, die Illusion der Leinwand dadurch jederzeit durchbrochen. Das mag für manche Distanz zum Erzählten schaffen, doch die intensive Leistung der Hauptdarstellerin, besonders aber ihrer „Gedankenstimme“, packt den Zuschauer.
Direkt am Hals. Und lässt ganz lange nicht mehr los.
Henrike Heiland
Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin: „Die gelbe Tapete“. Nach Charlotte Perkins Gilman. Regie: Katie Mitchell. Fassung von Lyndsey Turner. Deutsch von Gerhild Steinbuch. Premiere war am 15. Februar 2013. Weitere Termine: 31.03.2013, 20.30 Uhr. 01.04.2013, 20.00 Uhr. Mehr finden Sie hier.
Foto 1: Judith Engel, Tilman Strauß; Foto: Stephen Cummiskey
Foto 2: Ursina Lardi; Foto: Stephen Cummiskey
Foto 3: Tilman Strauß; Judith Engel; Foto: Stephen Cummiskey
Foto 4: Kantine der Schaubühne; Foto: Henrike Heiland
Foto 5: Cathlen Gawlich; Foto: Stephen Cummiskey