Geschrieben am 12. Januar 2011 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Sachen machen

Sachen machen: Essen im Dunklen

Heute: In der Unsicht-Bar

– Unser Kellner holt uns an der Tür ab und geht mit uns in die Lichtschleuse. Er stellt sich vor, Rohit heißt er, fragt uns nach unseren Namen, fragt, ob er uns duzen darf, sehr nett. Dann geht das Licht aus, und es ist verdammt dunkel. Schwarz. Wir machen eine Polonaise durch das Restaurant, meine Hände liegen auf Rohits Schultern, die meines Mannes auf meinen. Rohit marschiert voran, man hört Stimmen, Leute reden und lachen, erstaunlich viele Leute, scheint es, Rohit macht hier eine Kurve und dort einen Schlenker, ich kann überhaupt nicht einschätzen, wie weit wir gehen. Und woher er weiß, wann wir wo einem Tisch ausweichen müssen. Sagte ich schon, dass es dunkel ist?

Mir fällt ein Cartoon ein, ich glaube von Hägar, dem Schrecklichen: Das erste Bild ist komplett schwarz, mit einer Sprechblase von links: „Mann, ist das dunkel. Mach doch mal Licht an!“ Zweites Bild, auch komplett schwarz, Sprechblase von rechts: „Was soll ich denn noch tun? Ich hab doch schon ein Feuer und fünf Kerzen angemacht!“ Drittes Bild, immer noch komplett schwarz, Sprechblase wieder von links: „Boah, ist das dunkel!“ Ungefähr so dunkel ist es hier auch. Man sieht überhaupt gar nichts, nicht mal eine klitzekleine Ahnung, nicht die Hand vor den Augen, kein Lichtpünktchen irgendwo, gar nichts, alles schwarz.

Wir kommen an unserem Tisch an, Rohit legt uns die Hände auf die Stuhlkante und sagt, dass noch Leute neben uns sitzen. Ist auch nicht zu überhören. Wir sitzen also an einer längeren Tafel, guten Abend, sage ich, ich bin Isabel. Wenn man mich schon nicht sieht, kommt es mir höflicher vor, wenigstens meinen Namen zu sagen, als so völlig anonym zu sein. Links neben mir sitzt Lisa, ihr gegenüber ein veritabler Scherzkeks, insgesamt sind sie zu viert. Rechts neben mir ist frei, ich ertaste, dass die Tafel jenseits des freien Platzes auch nicht weitergeht, der Tisch ist dort zu Ende.

Des Weiteren ertaste ich vor mir, was Rohit uns auch sagt: ein rundes Tischset (Moosgummi?) und Besteck. Keine Tischdecke.Wir bekommen unsere Getränke, ich habe Rotwein und Wasser bestellt. Das sind gleich zwei Gläser, nicht wirklich vernünftig. Lisa und ihre Freunde am Nebentisch lärmen herum. Sie erzählen, dass sie schon gegessen haben und nur noch aufs Dessert warten. Es wird gekreischt und grunzend gelacht. Eine Frau schreit, ih, hör auf damit! Der steckt immer die Finger in mein Glas! Der Spaßvogel spritzt seine Tischdamen nass. Lisa sagt, sie hat schon ganz nasses Haar, und der Spaßvogel: Haupthaar? Hilfe.

Wir bekommen den Gruß aus der Küche, ein kleines Stück Brot mit etwas drauf, eine Pastete? Während wir noch versuchen, es rauszuschmecken, kommt schon die Suppe. Ich soll meine beiden Gläser wegnehmen, habe aber noch das Brot in einer Hand, weiß nicht recht, schiebe mir das Brot in den Mund, nehme die Gläser in die Hand, alles geht gut. Man bewegt sich schon sehr vorsichtig, tastet sanft alles ab. Aha, eine Suppentasse. Mit Untertasse. Der Löffel. Ein Körbchen Brot hat Rohit uns auch hingestellt.

Wollen wir anstoßen?, frage ich meinen Mann, und der Nebentisch ruft, ja, anstoßen, hier, alle? Alle!

Ähm, sage ich, ich glaub, das geht nicht gut. Ich feiges Stück.

Aber unsere Gläser finden sich. Wir löffeln die Suppe, es geht erstaunlich gut. Nur schmecken ist irgendwie schwierig, ich weiß, dass ich den Geschmack kenne, aber ich komme nicht drauf. Keine Ahnung, ob ich ihn erkennen würde, wenn ich die Suppe sähe. Die Speisekarte hatten wir noch im Hellen bekommen, es gibt verschiedene Menüs, Lamm, Fisch, Vegetarisch, Käse, Überraschungsmenü, jeweils mit drei oder vier Gängen. Wir haben das Lamm, ich esse zwar kaum noch Fleisch, aber in Restaurants kann ich immer dem Lamm nicht widerstehen. Ansonsten war die Karte kryptisch („witzig“), wir wissen also nichts außer Lamm. Kokos, sagt der Mann, das ist was mit Kokos, oder? Stimmt, jetzt schmecke ich es auch.

Als zweiten Gang gibt es einen Salat. Der ist schwieriger zu essen, aber leichter zu schmecken, Einzelteile gehen offenbar besser als ein Gemisch, aber das ist natürlich bei Licht auch so. Gurke. Feldsalat (na gut: gefühlt). Dies könnte vom Gabelgefühl eine Weintraube sein – nein, ganz anders, den Geschmack kenne ich, natürlich, eine Olive. Ein Stück Apfel, nein, Birne. Gebratener Speck. (Ich hätte doch das vegetarische Menü nehmen sollen.) Aber das, das ist eine Weintraube – nein, auch nicht. Cocktailtomate. Granatapfelkerne! Ich taste auf meinem Teller herum und wünsche mir eine große Stoffserviette statt des kleinen Papierdings.

Die lustigen Tischnachbarn sind inzwischen mit ihrem Dessert fertig und gehen. Wir bekommen das Hauptgericht. Große Fleischbrocken mit … irgendwas. Einmal ganz zart und vorsichtig die Hände auf den Teller gelegt, nicht zu herzhaft in Gemüse und Beilage gegriffen. Die Fleischstücke sind gut zu finden, ich stecke meine Gabel hinein, versuche, ein Stück abzuschneiden, rutsche ab, das mit der Gabel hat sich auch irgendwie komisch angefühlt, ich stecke sie wieder hinein, oder versuche es – was ist das, Knorpel? Wieso kriege ich die Gabel nicht ins Fleisch? Mein Mann meldet den ersten Erfolg, er hat sich ein Stück Fleisch abgeschnitten, und es hat eine passable Größe. Ich versuche immer noch, die Gabel ins Fleisch zu stechen, bis ich merke, dass das gar nicht die Gabel ist, sondern der Löffel.

Mit der Gabel geht es. Das Fleisch ist sehr gut, dazu gibt es etwas, das wir als „Hirse oder Bulgur oder so“ identifizieren, es schmeckt nach nicht viel, und ein Gemüse, das glatt ist und oval, jeweils einmal längs durchgeteilt, es ist knackig, schmeckt gut, aber was um alles in der Welt ist das?

Immer wieder ist Fingerschnipsen zu hören, wahrscheinlich machen die Kellner das, wenn sie sich durch den Raum bewegen, damit sie einander nicht umrennen. Wie groß mag der Raum sein? Hinter mir sitzt niemand mehr. Aber ich habe überhaupt kein Gespür dafür, ob da eine Wand ist oder der Raum noch weitergeht.

Hast du eigentlich die Augen offen, fragt mein Mann, ja, sage ich, natürlich, du nicht? Da tönt eine Stimme durch den Raum: Wolle Rose kaufe? Gelächter. Könnte Rohit gewesen sein, könnte aber auch nicht. Schöne schwarze Rose!, ruft er.

Wir haben ziemlich unfallfrei aufgegessen und ausgetrunken und bitten Rohit, uns zur Tür zu bringen. Die Dame am Empfang hatte uns auch streng angesehen und uns unter Androhung von Platzwunden instruiert, nur ja nicht allein herumzulaufen. Was wir vermutlich sowieso nicht versucht hätten.

Rohit bringt uns wieder in Polonaisenformation zur Lichtschleuse. Als das Licht angeht, ist es erst mal sehr hell. Wir blinzeln, Rohit fragt, ob es uns gefallen hat, ob es „ein Erlebnis“ war. Ich scheue mich, es als „Erlebnis“ zu betrachten, das klingt so nach Spaß. Als würde man zum Spaß mal so tun als ob, und ein bisschen ist ja das ganze Konzept so – aber Blindsein ist schließlich auch kein Spaß, kein „Erlebnis“. Ein bisschen aufregend war es schon, wenn auch weniger als gedacht – aber ein „Erlebnis“? Ich weiß nicht.

Draußen im Hellen liegt das Gästebuch aus. Jemand hat tatsächlich reingeschrieben „Das Auge isst mit“.

Isabel Bogdan

Isabel Bogdan übersetzt seit 10 Jahren Literatur aus dem Englischen (u.a. Jonathan Safran Foer, Miranda July, ZZ Packer, Tamar Yellin, Andrew Taylor, Sophie Kinsella, Alice Sebold, Janet Evanovich). Sie lebt und arbeitet in Hamburg.
Für unsere Kolumne „Sachen machen“ wird Isabel in den nächsten Monaten viel Skurriles, Abseitiges und Abenteuerliches ausprobieren und von ihren Erfahrungen berichten. Zur Webseite von Isabel Bogdan.
Zur Webseite der Unsicht-Bar.