Geschrieben am 3. Mai 2016 von für Comic, Litmag, News

Comic: Natacha Bustos, Francisco Sánchez: Tschernobyl. Rückkehr ins Niemandsland

Tschernobyl-Rueckkehr-ins-NiemandslandManifest gegen den Atomwahn

– Als ich die Ankündigung dieses Bandes zum ersten Mal sah, war mein Interesse sofort geweckt, gehöre ich doch zur Generation der deutschen Baby-Boomer, die die Katastrophe von Tschernobyl direkt miterlebt hat. Von Hanspeter Ludwig.

Der Super-Gau von Tschernobyl jährt sich in diesem April zum vierzigsten Mal und natürlich ist der Veröffentlichungszeitpunkt dieses Bandes in Deutschland – zumindest von Seiten des Marketing – genau richtig gewählt. Die Ängste, die dieses Unglück überall in der Welt, speziell aber in Deutschland auslöste, waren beträchtlich. Immerhin waren erst wenige Jahre zuvor die Grünen entstanden und Naturschutz-, bzw. Anti-Atomkraft-Bewegung zwar weithin hörbare Stimmen, aber noch weit davon entfernt, direkt, über die Parlamente, Gesetze beeinflussen zu können. Es ging um Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Abrüstung und Pazifismus in Zeiten, wo über die Nato-Nachrüstung, den Ausbau der Atomindustrie und das Waldsterben diskutiert wurde. Als erste Nation der westlichen Hemisphäre begannen wir Deutschen über unser Leben in und mit der Natur zu diskutieren, es war also nicht erstaunlich, dass unsere von tatsächlichen, möglichen oder zukünftigen Dystopien geprägte Gesellschaft, die Katastrophe von Tschernobyl mit Anflügen von Panik aufnahm, obwohl doch über 1000 km zwischen der Katastrophe und Deutschland lag.

Man ging nicht mehr vor das Haus, wenn es sich vermeiden ließ. Ich erinnere mich noch deutlich, dass ich irgendwann im Mai bei strahlendem Sonnenschein in die Innenstadt ging und kaum, dass ich angekommen war, Regen einsetzte. So schnell wie möglich versuchten die meisten Flaneure aus dem vermeintlich verstrahlten Regen herauszukommen, während weit entfernt die »Liquidatoren« ihre Leben dafür einsetzten, den Rest der Ruine zu dekontaminieren, aufzuräumen und zu versiegeln.

Wie viele dieser Männer und Frauen tatsächlich an den Folgen der Verstrahlung starben, ist ein bis heute von Russland, Weißrussland und der Ukraine, die inzwischen für die Aufarbeitung der Katastrophe und den Bau des »Containers«, der die Reste von Block 4 des Atomkraftwerks verantwortlich ist, wohlgehütetes Geheimnis. Schon 1996, also nur zehn Jahre nach der Katastrophe, wurde die offizielle Zahl von 50 getöteten Liquidatoren angezweifelt. Edmund Lengfelder, Professor für Strahlenbiologie und Leiter des Otto-Hug-Strahleninstituts in München, schätzte die Gesamtzahl der bis dahin gestorbenen Liquidatoren auf 50.000.

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Das also ist der Hintergrund für den vorliegenden Band. Ein derart dickes Brett verlangt nach kräftigen Werkzeugen, sollte man meinen. Autor Francisco Sánchez und Zeichnerin Natascha Bustos aber haben sich bewusst entschieden, die Perspektive eng zu halten und ihre Geschichte aus der Sicht einer Familie über drei Generationen zu erzählen. Dementsprechend enthält das Werk drei Kapitel, »Leonid & Galia«, »Vladimir & Anna« und schließlich »Yuri & Tatjana«. Jedes Kapitel erzählt die jeweilige Sicht, bzw. Zeit der Protagnisten. Folgt der ersten Teil den Großeltern, die sich zunächst vertreiben lassen, um später doch wieder auf ihren Hof zurückzukehren, erzählt das zweite Kapitel das bittere Schicksal von Vladimir – der als einer der ersten Liqidatoren elend den Strahlentod sterben wird – und Anna – zum Zeitpunkt der Katastrophe hochschwanger mit Tatjana –, so schildert das dritte Kapitel schließlich die Sicht der Kindern Yuri und Tatjana.

Unter diesem Aufbau allerdings leidet die Dramaturgie doch arg. Das liegt daran, dass im Grunde die Zeitstränge nicht aufeinander folgen und so entstehen zwangsläufig Dopplungen und Überschneidungen der Erzählstränge. die ständig die Spannungsbögen unterbrechen. Innerhalb der Kapitel wiederum geschehen Zeit- und Ortssprünge, die sich ihrerseits gelegentlich über alle drei Kapitel spannen und die stets auch ohne die inzwischen aus der Mode gekommenen Ort- oder Zeitangaben auszukommen versuchen. Die Folge ist, dass selbst der aufmerksame Leser dauernd geneigt ist, zurückzublättern um sich die Zusammenhänge zu vergegenwärtigen. Entspannende Lektüre sieht anders aus, »Tschernobyl« muss der Leser sich erarbeiten. Dabei hätten schon kleine Hinweise gereicht, die Verwirrung nicht ausufern zu lassen, nur leider hat sich diese spezielle Erzähltechnik, die Jaime Hernandez bei »Love & Rockets« als einer der Ersten benutzt hat, in weiten Teilen der Comicwelt durchgesetzt und wird gern eingesetzt – ob sinnvoll oder nicht. Womöglich um »erwachsener« zu wirken? Darüber kann man trefflich streiten, in diesem Fall, funktioniert dieser Aufbau nicht gut. Das ist schade, denn an sich ist die Story interessant, auch wenn viele Stationen zu knapp angerissen werden.

Die Graphik erinnert stark an Craig Thompson in ihrem lockeren, fast dahin Geworfenem, aber atmosphärisch dichten Duktus. Trotz aller Flüchtigkeit des Striches sind die Zeichnungen präzise, Paneling und Seitenkomposition perfekt.

Die Idee, die Geschichte aus der Sicht einer Familie zu erzählen, anstatt die globale Katastrophe ins Zentrum der Erzählung zu stellen, ist an sich eine gute, ein linearer Aufbau wäre aber vermutlich die bessere Wahl gewesen.

Man mag das als Krittelei auf hohem Niveau abtun, denn der Band ist trotz allem eine lohnenswerte Lektüre, aber genau der Aufbau in unvermittelten Sprüngen von Ort, Zeit und Person stört mehr als er hilft.

Tschernobyl_Leseprobe_S15Außerdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn die Autoren die damalige Situation direkter erlebt hätten – zumindest aus Sicht eines deutschen Lesers. Zwischen den Panels und Zeilen bleibt immer ein Gefühl einer Distanz zum Thema. Trotz des sparsamen Einsatzes von Text wird der Lesefluss dauernd unterbrochen, so kann keine Nähe zu den Protagonisten entstehen, zumal Schlüsselszenen wie der Tod des Vaters, der während der Explosion des Reaktors Dienst hat, derart nebenbei erzählt werden, dass man sich fragt, was die Absicht dahinter ist. Klar, allzu reißerisch sollte in diesem Kontext keine Sterbeszene aufgebaut sein, aber gerade in einem Werk über den größten GAU bisher hätte die Szene bedrückender erzählt werden können. Die Autoren haben sich aber entschlossen, den kleinen Horror im Großen herauszustellen, aber das gelingt nur bedingt.

Überhaupt, das Sterben. Es ist immer lang und langwierig, eben wie stets der Strahlentod. Wirklich berührend bleibt aber nur der Tod der Großmutter, die, mit dem Großvater in die »Zone« zurückgekehrt, den langsamen Strahlentod stirbt.

Diese erste Rückkehr bildet Auftakt und Kern der Graphic Novel, denn es stellt sich die Frage wie Menschen mit dem völligen Verlust Ihrer Heimat umgehen. Was sollen die Alten tun, wenn sie nach einem Leben auf dem eigenen Hof auf einmal anonym in einer Großstadt leben müssen? Einen alten Baum zu versetzen ist genauso problematisch, wenn nicht gar unmöglich, wie Menschen, die nie etwas anderes kannten als ihre Scholle, in ein völlig anderes soziales Umfeld zu verpflanzen. Wie nicht anders zu erwarten, stirbt die Großmutter und selbst der Hoffnungsschimmer, der durch die Geburt neuen Lebens auf dem Hof der Großeltern aufscheint, wird sofort dadurch ausgelöscht, dass das Fohlen, welches in der Todesnacht auf die Welt kommt, durch die Strahlung missgebildet ist.

Damit haben die Autoren aber schon im ersten Viertel des Bandes ihr dramaturgisches Kapital ausgegeben. Insbesondere hier stellt sich mir die Frage, warum sie, wenn sie ihre Geschichte blockweise erzählen, nicht besser darauf geachtet haben, die Spannungsbögen eben nicht schon am Anfang zu verbraten, zumal später immer wieder Flashbacks in die Zeit der Rückkehr gesetzt werden.

Es geht natürlich auch darum, was mit einer Familie geschieht, die durch eine Katastrophe auseinandergerissen wird. Nach der Explosion von Reaktorblock 4 wird bald die gesamte Stadt Prypjat evakuiert. Unter den Evakuierten sind auch Anna und Yuri. Von Vladimir, Yuris Vater ist dadurch in der Graphic Novel kaum noch die Rede, der stirbt einsam in einem Moskauer Hospital, ohne seine Frau oder seinen Sohn noch einmal zu sehen und wird in der Folge praktisch nur noch indirekt erwähnt. Gerade hier fehlt durch den Aufbau einfach die emotionale Nähe. Immerhin ist Vladimir nicht nur irgendeine Nebenfigur, sondern der Vater von Yuri und Anna.

Erst die Enkel setzen sich mit ihrer (der zweiten) Rückkehr nach Tschernobyl, bzw. Prypiat bewusst mit ihrer Familiengeschichte und dem GAU auseinander. Tatiana, die jüngere Schwester von Yuri, kommt erst Tage nach der Katastrophe, schon im Exil, auf die Welt, hat also keine eigenen Erinnerungen an die Großeltern oder die Katastrophe. Treibende Kraft für die Expedition der Enkel ist Yuri, der die Leerstellen seiner Biografie auffüllen will. Der Kreis schließt sich am Ende des Buches, als Yuri auf dem Hof der Großeltern, bzw. in dessen Nähe eine sehr alte Schimmelstute sieht und von den Nachbarn der Großeltern – es gab also weitere Rückkehrer – einen Karton mit Erinnerungsstücken der Großeltern übergeben bekommt.

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Natacha Bustos und Francisco Sánchez

Vielleicht wollten Sánchez und Bustos zu viel auf einmal erreichen: Familiendrama, Roadmovie und Katastrophencomic sind eben völlig unterschiedliche Genres. Und immer wieder hat man beim Lesen das Gefühl, dass der formale Aufbau wichtiger war, als die zu erzählende Geschichte. Eine tiefere Identifikation mit den Protagonisten kommt leider nicht zustande.

All das mag übertrieben klingen, angesichts eines Bandes, der sich gut und leider etwas zu schnell lesen lässt, der einen durchaus noch einige Tage beschäftigen kann. Aber auch hier ist es eben weniger der Comic als die Katastrophe und ihre Folgen, die einen beschäftigt. Und natürlich gelten bei einer Graphic Novel andere Bewertungsmaßstäbe als bei »normalen« Comics.

Mein Fazit ist also gespalten. Die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall. Wer wirkliche emotionale Tiefe, wie etwa bei Craig Thompson erwartet, dessen Stil zeichnerisch Pate stand, der aber auch als Referenz für die Erzähltechnik gewählt wurde, wird enttäuscht sein. Als Manifest gegen den Atomwahn sollte der Band aber weite Verbreitung finden, denn seine Stärke liegt darin, den Wahnsinn hinter der Atomkraft aufzudecken. Und zwar nicht auf einer globalen Ebene, sondern eben im Kleinsten, der Familie und den Auswirkungen auf die einzelne Person. Insofern gilt für »Tschernobyl«: lesenswert mit Abstrichen.

Hanspeter Ludwig

Natacha Bustos und Francisco Sánchez: Tschernobyl. Rückkehr ins Niemandsland. Egmont Graphic Novel 2016, 189 Seiten. 19,90 Euro.

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