Geschrieben am 1. August 2004 von für Litmag

Rettet die Körpersprache!

Von Carl Wilhelm Macke

In einem Wartesaal des Hauptbahnhofes in Neapel. Der Zug Richtung Rom, nach Bologna, nach München, fährt erst in zwei Stunden. Draußen geht wieder einer jener Sturzbäche nieder, die auch im Sommer nicht untypisch sind für diese am Meer entlang wuchernde Hafenstadt. Einen kurzen Ausflug in das Zentrum von Neapel, in die verwinkelten Gassen der „Bassi“, über die der jenseits Italiens fast schon vergessene Eduardo de Filippo seine farbigen Volksstücke schrieb und einige der schönsten Filme mit Totò spielen, mehr lässt der prasselnde Regen nicht zu. Also verbringt man die Zeit bis zur Abfahrt damit, was man eben im Wartesaal am besten machen kann: Man wartet.

Zu warten ohne dabei die Langeweile der Zeit mit Lesen irgendwelcher Literatur zu verkürzen, ist gar nicht so einfach. Jedenfalls nicht für einen, dem Lesen & Schreiben zu zentralen Tätigkeiten im „Alltagsbewältigungsversuch“ (Robert Walser) geworden sind. Einfach nur die Blicke schweifen lassen, neugierig die kommenden, die gehenden und die bleibenden Menschen taxieren, Besonderheiten an ihnen entdecken. Gegenüber unterhält sich eine Gruppe älterer Männer. Jeder der vier Herren hat einen Schirm in seiner Nähe, alle tragen sie Hüte oder Mützen. So um die Siebzig mögen sie alle sein. Ihren schnell genuschelten Dialekt zu verstehen, dürfte selbst einem Toskaner oder Lombarden schwer fallen. Aber sie sprechen noch eine andere Sprache, für die es keine Wörterbücher gibt und die nicht im Internet durch einen Klick zu finden ist: die Sprache der Gesten. Ohne Unterbrechung schwirren die Hände durch die Luft. Mal werden sie zu Fäusten geballt, dann gefaltet, gespreizt, geknetet. Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, kleiner Finger – für jeden sind einzelne, oft blitzschnell ändernde Haltungen vorgesehen. Ein gesondertes Alphabet der Gefühle scheint es in der Kommunikation zwischen Kopf und Händen zu geben. Mal wird der Finger kurz in die Backe gebohrt, an die Stirn geführt, an die Nase, die Ohren, Augen, das Kinn, die Schläfe. In Verbindung mit unentwegten Augenbewegungen, assistiert von feinsten Nuancen in der Körperhaltung vom Kopf bis hin zu den Füßen spielt hier jeder der Männer ein grandioses Körpertheater, dem die Sprache der Stimme fast gänzlich untergeordnet erscheint. Man muss die gesprochene Sprache der Männer gar nicht verstehen, um doch dem lauten, lebhaften Gespräch folgen zu können, um aus der Interpretation jeder einzelnen Geste den Zusammenhang des Gespräches zu erraten. Szenenwechsel: eine beliebige deutsche Stadt. Nehmen wir München. Auf dem Bürgersteig in unmittelbarer Nähe zu einem Vorstadtgymnasium.
Überall stehen Gruppen von Schülerinnen und Schülern. Das Stehen nehme man wörtlich. Man hört Stimmen, aber nichts bewegt sich. Wie nasse Säcke hängen die Körper herum. Schlaff die Arme, allenfalls mal ein schneller Griff zum Handy oder zur Zigarette. No motion too much. Hände, Arme, Kopf ansonsten überflüssig. Trauerbirken, noch und noch.

Was ist nur von dem neapolitanischen Gestenreichtum und der Körpersprache in unserer Alltagskommunikation übrig geblieben? Zwei, drei armselig schlaffe Gesten, ein provozierend hoch gestreckter Mittelfinger, hin und wieder mal eine geballte Faust, das Reiben der Fingerkuppen als Symbol für das Geld.
Das war’s dann auch schon. Die Sprache der Gesten, eine zivilisatorische Grundsprache, ohne die etwa das Theater undenkbar wäre, scheint immer mehr zu verstummen. Der Körper hat seine Sprache verloren. Und wo er dann doch einmal spricht, ist man Zeuge eines Trauerspiels. Stillstand in drei Akten.
Gegen die Rechtsschreibreform mobilisieren sie monatelang ganze Bataillone von Leserbriefschreibern. Aber wo bitte liegen die Unterschriftenlisten zur Verteidigung der Körpersprache aus? Gelegentlich kann man in den Wartesälen mediterraner Bahnhöfe noch wehmütig an Gala-Abschiedsvorstellungen teilnehmen. Und wer den Weg dorthin scheut, kann ja schon mal in dem Gewirr von Ausländergruppen rund um deutsche Großbahnhöfe die Augen aufmachen. Man muss kein einziges Wort der fremden Sprachen kennen, um doch sofort zu verstehen, über was hier gesprochen wird.
Entdecken wir die europäische Sprache der Gesten!

Carl Wilhelm Macke