Geschrieben am 3. Juni 2017 von für Litmag, News, Reise Special 2017

Reise Special 2017: Tina Uebel: Uebel Unterwegs.

d27da8e400c79877e48ca4385f463f7d„Alleinreisende unzensierte Presseagentur“ im Zug nach nirgendwo

Sie bekommt ein Stipendium für Shanghai, will von Hamburg aus aber unbedingt mit der Bahn nach China reisen. Als Schnapsidee bezeichnet Tina Uebel, 48, selbst ihren Plan, den sie aber trotz bürokratischer Visa-Probleme hartnäckig verfolgt. Locker, selbstironisch und scharfsinnig beschreibt sie im Reisebericht „Uebel Unterwegs“ ihre Eindrücke und Kontakte mit Menschen, die aus ihren von Autokraten beherrschten Käfigen entkommen wollen und von der deutschen Bahnreisenden Erhellendes erwarten.

Sie will keine Kulturdenkmäler besichtigen und die Leser auch nicht mit betulichen Baedeker-Phrasen behelligen: „Den Rest entnehme man bitte Wikipedia“, empfiehlt die Autorin nach dem Absondern spärlichster Details zu bekannten Sehenswürdigkeiten zwischen Istanbul, Teheran, Maschad, Ashgabat, Turkmenbashi, Taschkent, Astana und Ürümqi. Das passt wunderbar zu ihrer spontan-lockeren Einstellung: Sie will ja schließlich andere Reisende treffen und sich mit ihnen austauschen, am liebsten ernähre sie sich von Gesprächen, stellt sie fest; außerdem reise sie nicht, „um meine Meinungen in die Welt zu tragen, sondern um mir ein paar neue und womöglich bessere zuzulegen“. Stundenlang diskutiert sie mit anderen Bahnfahrern deren Familienprobleme, Lebensgeschichten, Sinnsuche und Umorientierungsversuche. Sie lässt sich so intensiv auf diese Biographien ein, dass die Abschiede dann umso schwerer und bedrückender ausfallen. Das Schlimmste am Reisen, meint Tina Uebel an einer Stelle, sei immer das Abschiednehmen.

91117-BT-Uebel-unterwegs.inddIhr Ehrgeiz erwacht angesichts extremer, mitunter auch lächerlicher Herausforderungen: „Der Hauptgrund, warum ich nach Turkmenbashi wollte“, erklärt sie einen Ausflugs-Flop in ein gigantisches Disneyland, in dem jede Statue, jeder monumentale Turm ein protziges Denkmal größenwahnsinnigen Diktatorenwahns darstellt, „ist, dass im Lonely Planet steht, da gebe es nichts“. Bei ihrem mehrstündigen Gang durch diese Szenerie voller Gipsstuckopulenz, in der sich „prima das nächste Mad-Max-Sequel drehen ließe“, trifft sie tatsächlich keinen einzigen Menschen – es ist eine marmorstrotzende Wüste voller Baustellen, alles entworfen von „halluzinierenden Architekten“.

Als Alleinreisende, mit zwei schweren Rucksäcken beladene und meist vor sich hin qualmende Kettenraucher-Frau ist sie jenseits des Bosporus eine Ausnahmeerscheinung und Kontaktperson- beneidet wegen ihrer Unabhängigkeit und Freiheit- von „Kopftuchfrauchen“ und Macho-Männlein gleichermaßen. Da sie sich bereits zwischen Borneo und der Antarktis gut zurecht fand, hakt sie das im Iran vorgeschriebene Tragen des Kopftuches als eher unangenehme Pflichtübung ab, mit der Frau sich abfinden muß, um unangenehme Konsequenzen zu vermeiden. Zum Aufregerthema Kopftuch vermerkt sie: „Ich würde, wenn jeder Tuch trägt, auch freiwillig mittragen, es erschiene mir schlicht als eine Frage der Schicklichkeit, und Letztere, wie jeder Reisende weiß, variiert halt von Kultur zu Kultur, bummsti, fertig ist die Laube […] Wie man sich von einem derartigen Kinkerlitzchen vom Reisen abhalten lassen kann, ist mir schleierhaft, kleiner Scherz[ …] Aber Zwang ist halt Scheiße. Immer“.

Ihre eigene kritisch-skeptische Einschätzung von „Kopftuchfrauchen“ als leicht unterbelichteten Dummchen korrigiert die Hamburgerin sofort, als sie im Gespräch mit einer Kopftuch tragenden Iranerin während der Fahrt durch die Türkei merkt, dass diese sich große Sorgen um ihre vom iranischen Regime verhaftete und misshandelte Tochter macht. Als dieses „Kopftuchfrauchen“ dann feststellt, sie werde weiter für die Freiheit demonstrieren, trotz ihrer Angst, ist für Tina Uebel klar: „Ich bornierter Blödian schätzte das Frauchen zunächst gering“… Diese selbstkritischen und auch selbstironischen Anmerkungen über ihre eigene touristische Unbeholfenheit („viele Fragen, wenig Ahnung!“) machen den überwältigenden Charme des Buches aus.

Dass die Langweiler-Metropole Teheran für Tina Uebel zur „Achse der Netten“ wird, liegt einmal an ihrer eigenen Spontanität und Offenheit und an der Neugier und sympathischen Kontaktfreude der Teheraner: Die meisten sind einfach verblüfft, eine alleinreisende junge Deutsche auf großer Fahrt zu erleben, die offenbar keine Angst vor blöder Anmache, Taschendieben und Betrügern hat. Das hat natürlich auch mit Uebels Aversion gegenüber spießigen Bedenkenträgern zu tun, deren schlimmste Befürchtung darin besteht, irgendwo hinter Bielefeld im ICE am Hitzetod einzugehen, weil mal wieder die Klimaanlage ausgefallen ist. Diese hypervorsichtigen Bedenkenträger und Daheimhocker wundern sich dann auch, dass die Hamburger Bahnreisende keine Mittelstrecken-Raketen im Rucksack zur Abwehr böser Buben um Gepäck hat. Den verängstigten Dumpfbacken am Ofen will sie jedenfalls signalisieren, dass man auch ohne Paranoia und Mißtrauen klarkommen kann. Vielleicht kann sie die kleinen Probleme unterwegs auch so gut wegstecken, weil sie ja längst den Extrem-Härtetest des Überlebens in der „Vorhölle mit Vorgarten“ (FAZ) im gutbetuchten Hamburger Volksdorf (Vgl. ihr fabelhaftes Sittengemälde „Last Exit Volksdorf“) überlebt hat. Wer dieses mißtrauische Beäugen, stasi-mäßige Bevormunden und Beachten schwachsinniger Anpassungsmodalitäten hinter sich hat, der kann über irritierende Bahnverzögerungen und somnabule Schaffner wohl nur noch mitleidig lächeln. Die Aufregung während der Suche nach „Free Wi-Fi und Free Steckdose“ nimmt sie dagegen nicht auf die leichte Schulter- schließlich sollte sie ja SPON-Leser mit ihren von unterwegs gesendeten Reise-Blogs auf dem Laufenden halten- das klappte eben oft überhaupt nicht, weil es ohne Wi-Fi auch nichts zu bloggen gab.

Hamburg, DEU, 25.11.2010: Tina Uebel (geb 1969 in Hamburg); deutsche Schriftstellerin; urspruenglich Illustratorin und Grafikerin; Mittraegerin der Hamburger Literaturvereinigung Macht eV - Organisierte Literatur. | Hamburg, GER, 25.11.2010: Tina Uebel (born 1969 in Hamburg - Germany); gemran author; former illustrator and graphic artist; part of the literature cycle Macht eV - Organisierte Literatur. | [ © Stefan Malzkorn, Am Landpflegeheim 40, 22549 H a m b u r g, Tel.: +49-40-345402; www.malzkornfoto.de malzkorn@malzkornfoto.de , Konto | Banking Link: P o s t b a n k H a m b u r g, Kto-Nr. 114413205 BLZ:20010020 IBAN: DE2620010020114413205 BIC: PBNKDEFF www.freelens.com/clearing, Steuer-Nr: 42/152/02106 Finanzamt Hamburg am Tierpark, KSK-Nr. 39040963M007. Verwendung nur gegen Namensnennung, Honorar und Beleg - Presseveroeffentlichungen in DEU zzgl. 7% Mwst ; bei Verwendung des Fotos ausserhalb journalistischer Zwecke bitte Ruecksprache mit dem Fotografen halten. Soweit nicht ausdruecklich vermerkt werden keine Modellfreigabe-, Eigentums-, Kunst- oder Markenrechte eingeraeumt. Die Nutzungen erfolgt ausschliesslich auf Grundlage meiner unter www.malzkornfoto.de/webseite_neu/agbs/agb_dt.pdf einsehbaren Allgemeinen Geschaftsbedingungen (AGB) I publication only with royalty payment, credit line, and print sample. Unless especially stated: no model release, property release or other third party rigths available. No distribution without our written permission.] [#0,26,121#]

Ihr Bruder im Geiste, der Bahn-Freak Paul Theroux („Dark Star Safari“), lehnt das Fliegen mit beinah fundamentalistischem Furor ab. Seine Reise-Reportagen vom Great Railway Bazaar sind zwar alle spannend und tiefschürfend- aber er hat eben überhaupt keinen Humor und würde auch nie auf so originelle Ideen zur Erweiterung des fremden Wortschatzes kommen wie die Hamburgerin: Die läuft nämlich los, um sich in Istanbul oder Teheran Bimsstein oder Kissenbezüge zu besorgen. Ihre Devise: Die Suche nach ausgefallenem Alltagsklimbim fordert die Einheimischen zu neuen Höchstleistungen auf dem Sektor „Erste Hilfe für blöde Touris“ heraus und liefert viel Stoff zum Quatschen über Tod und Teufel. Und zwischendurch hat sie sich auch die Zeit genommen, in Istanbul Tango zu tanzen- die Tango-Schuhe hatte sie sorgsam im Rucksack verstaut.

Sie muss zwar auch nervtötenden Ärger mit Taxifahrern und unfähigen Bahnschaffnern ertragen, penetrant schreiende Passagiere ignorieren, die auf Schlafbedürftige keine Rücksicht nehmen. Außerdem gibt es allerhand aberwitzige Besichtigungsvorschläge während kurzer Zwischen-Aufenthalte. Aber die erfahrene Travellerin, die den Wahnsinn Nord-Koreas über sich ergehen ließ, den Tschad bereiste und auch Papua-Neuguinea ganz erträglich fand, sortiert solche Irritationen unter der Rubrik „banale Alltagserfahrungen“ ein- denn wenn sie sich ernsthaft über solchen Mist aufregen würde, käme sie kaum noch zur Ruhe. Jedenfalls bleibt das Alleinreisen für Tina Uebel immer noch „das Tollste, was es gibt, solange es einem gut geht“.

Viele ihrer Gesprächspartner sind unterwegs, um die Weichen in ihrer Biographie neu zu stellen, um neu entscheiden zu können, was sie mit ihrem Leben machen und mögliche Fluchtwege und Alternativen zu ihrem eingesperrten Dasein in autokratischen Systemen auszubaldovern. Das veranlasst die davon nicht betroffene Autorin, ihre Hymne auf die „Gnade der geografischen Geburt“ und die offenen europäischen Grenzen anzustimmen: „O Schengenraum, o Schengenraum, wie grün sind deine Blätter“. Ihr hier beschriebenes, im letzten Jahr veröffentlichtes Bahn-Abenteuer absolvierte sie allerdings schon 2010, als sich der Grenzverkehr noch in geregelten Bahnen abspielte. Aber ihre Abenteuerlust, Neugier und Freude an Begegnungen mit Unbekanntem und Exotischen sind absolut zeitlos. Ihre souveräne Gelassenheit hilft ihr dann auch beim Durchwursteln durch das aggressive, auf Hochtouren beschleunigte Rat-Race-System chinesischer Drängler. Da sinniert die rustikale Bahnfahrerin dann nach ihrem sieben Wochen dauernden Trip bei der Ankunft in Shanghai über den „drängelnden Chinesen und seine Drängel-Systeme“ und internalisiert dann doch eine Zen-artige, mürrische Indifferenz.

Tina Uebels selbstironischer Jargon („Ich bin ein Geront unter Kindern“) zündet nicht nur bei Treffen mit jungen Backpackern; die gelassene Einstellung erleichtert ihr auch, die auf Reisen schwer einzuschätzenden Irritationen zu relativieren und dramatisch-hysterische Konfliktlösungen zu vermeiden. Die Grundsatzfrage „Wozu überhaupt reisen?“ beantwortet sie mehrmals: Ihre einfachste und überzeugendste Antwort lautet: Um hinterher weniger dumm zurückzukehren!“ Ein tolles, aufregendes und amüsantes Reisebuch.

Peter Münder
Peter Münder ist CULTURMAG-Autor. Mehr Infos, weitere Beiträge finden sich HIER.

Tina Uebel: Uebel Unterwegs. Skurriles und Bemerkenswertes vom Landweg Hamburg-Shanghai. Delius Klasing Verlag, 2016. 258 Seiten. €19,90

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