Reise-Klassiker: Miniaturen
Back to the Roots! Neun Miniaturen befassen sich mit den Klassikern der Reise-Literatur – Von Seneca über de Sade in Italien bis zur chinesischen Reise von Christian Y. Schmidt, von Kerouac auf der Straße, und Charles Willeford als Hobo auf den Schienen über O’Brian auf dem Meer bis Carl Hoffmann überall. Auch der weitgereisteste unter den Reise-Autoren ist dabei, ein Mann, der in der Mitte seines Lebens sich im Wald verirrte und in der Hölle landete… Go, Dante!
Jack Kerouac: „On the Road“ (Erstveröffentlichung: 1957)
Was Unterwegssein mit Sex und Sehnsucht und Sprache zu tun hat, inszeniert und expliziert Jack Kerouac in „On the Road“. Meine Ausgabe ist das Penguin-Taschenbuch von 1981, das Coverbild fläzt sich quer über den Buchrücken und zeigt einen mintgrünen Straßenschlitten mit Hügellandschaft im Hintergrund. Sal Paradise lehnt im offenen karierten Hemd und Jeans am Heck, öffnet eine Dose Bier, und unten an seinem linken braunen Schuh ist der Vorderdeckel heftig eingeknickt. „Sehnsucht“ schrieb ich wegen der Alliteration, aber „Hunger“ wäre richtiger. Kerouac erzählt vom Hunger auf Leben und Erleben und Erfahrung, ob gut oder schlecht. Ich hatte vergessen, dass nicht eine, sondern mehrere Reisen in dieser Aufzeichnung zusammenkommen. Die erste und auch die zweite sind perfekt. Auf der Innenseite des Covers in meiner Penguin-Ausgabe steht die Widmung von Guido, der für uns eine Zeitlang Dean Moriarty war, von einem gone God in unsere Mitte geworfen, um unseren Horizont zu erweitern und uns vor bleibende Rätsel zu stellen. Where are you now, Billy Boy?
Brigitte Helbling
Brigitte Helbling ist CULTURMAG-Autorin und betreut die Specials. Mehr zu Helbling, weitere Beiträge, etc. HIER.
Jack Kerouac: On the Road. In der Ausgabe von Penguin Books, 1957 (1981)
Reisen mit Seneca (01 – 65 n.Chr.): 5 Thesen auf dem Weg mit und zu sich selbst
- „Vergeblich ist dieses elende Sich-hin-und-her-Werfen.“
- „Du kannst dich fragen, warum dir eine solche Flucht nicht hilft? Du fliehst: mit dir!“
- „Aber wenn du diesen Fehler abgelegt hast, dann wird jede Veränderung des Ortes angenehm werden …“
- „Mehr von Bedeutung ist deine Charakterverfassung bei der Ankunft als das Wo …“
- „Mit folgender Überzeugung soll das Leben gestaltet werden: ‚Nicht für einen Winkel nur bin ich geboren, dieser Kosmos – allumfassend – ist meine Heimat!‘“
Markus Pohlmeyer
Dr. Markus Pohlmeyer schreibt regelmäßig für CULTURMAG und lehrt an der Europa-Universität Flensburg.
(Freie) Übersetzung: Markus Pohlmeyer (Europa-Universität Flensburg); lat. Vorlage nach: Seneca: Epistulae morales ad Lucilium, Liber III, lat./dt., übers. u. hg. v. F. Loretto, Stuttgart 1987, 46-48 (aus dem 28. Brief). Seneca (+ 65 n. Chr.): röm. Staatsmann u. Philosoph.
Christian Y. Schmidt: „Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu“ (Erstveröffentlichung: 2009)
Christian Y. Schmidt ist auf seiner kuriosen Reise selbst die größte Kuriosität, denn man behandelt ihn wie einen Popstar, wie einen Außerirdischen bzw. einfach wie Luft. Interkulturelle Missverständnisse ergeben skurrile Konflikte – oder lösen Konflikte skurril. Erzählerisch überzeugt Schmidt durch überraschend wiederkehrende Handlungsstränge, raffiniertes Spiel mit Lesererwartungen und dadaistische Zusammenfassungen zu Beginn jedes Kapitels. Am Ende der Lektüre hat man verstanden, dass man das oft gescholtene China versteht, indem man es nicht versteht – und möchte selbst am liebsten Chinese sein.
Michael Höfler
Michael Höfler ist der Kurator des Reise Special 2017 bei CULTURMAG, wo er auch Autor ist. Mehr zu Michael auf seiner HOMEPAGE.
Christian Y. Schmidt. Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu. Rowohlt Verlag 2009.
LESEPROBE aus diesem Buch.
Marquis de Sade: „Voyage d’Italie“ (Erstveröffentlichung: 1776)
Gazetten und Eruptionen.
Klassische Bildungsreisen und romantische Eskapaden? Nichts für undogmatische Geister! De Sade bereiste Italien nicht, weil ihn romantische Sehnsucht trieb (Dieu, merci!). Er wurde schlicht verjagt von französischen Gesetzeshütern. Ein klares Ziel hatte er dennoch vor Augen: Freiheit, Schönheit, Grausamkeit – auf der Peninsula gedachte de Sade seiner unheiligen Trias zu frönen. Dass Raphaëls Jungfrau ihn entzückte, ist bei seiner Vorliebe für zarte Geschöpfe nicht weiter verwunderlich. Der Vesuv, von einer „Schönheit, vor der einem graut“, beglückte ihn jedoch weit mehr. Abgründige Leidenschaft, brennende Passion suchte er tagtäglich im Studium italienischer Gazetten. Die Extravaganzen des italienischen Klerus, die Absonderlichkeiten südlicher Despoten und die Ausschweifungen der italienischen Society bildeten das morbide intertextuelle Gewebe seiner Romane. Bella Italia bedeutete für den Marquis eine Initiationsreise in die Grausamkeit der Schönheit. Das Damoklesschwert eines Aufenthalts hinter schwedischen Gardinen ist daher sicher nicht der schlechteste Anreiz für Entdeckungsreisen! Ohne die „Voyage d’Italie“ wäre „Juliette“ vielleicht nur ein Betthupferl für Rosamunde Pilcher-Fans! Avanti, ragazzi!
Ute Cohen
Ute Cohen ist Autorin bei Kult.CH und weiteren Orten. 2017 erschien ihr Roman Satans Spielfeld. Im Juli 2017 wird Cohen bei Culturmag ein SEX Special kuratieren.
Redmond O´Hanlon: Kongofieber (Erstveröffentlichung: 1998)
„Möglichst noch eine Nummer härter“ ist O´Hanlons Devise: Die zermürbende Suche nach dem Borneo-Nashorn hatte er überstanden („Ins Innere von Borneo“), Pygmäen im Regenwald von Venezuela („Redmund´s Dschungelbuch“) entdeckt, nun wollte er den legendären Kongo-Dinosaurier Mokele Mbembe finden, der angeblich vor Jahrzehnten am Lac Tele im unerforschten Regenwald gesichtet wurde. Zum „1000-Volt-Kulturschock“ und der Begegnung mit Pygmäen, die von Bantus als Sklaven gehalten werden, kommen noch die Probleme mit Riesen-Ameisen, Baumschlangen, Malaria-Anfällen, Busch-Elefanten und renitenten Bürokraten hinzu. Sein deprimierter, entsetzter amerikanischer Partner Lary, US-Professor für Tierverhaltensforschung, verabschiedet sich nach drei Monaten. Oxford-Absolvent, Anglist und Darwin-Spezialist O´Hanlon, 70, sucht noch drei Monate weiter nach dem Dino. Er bewegt sich im Fahrwasser berühmter Afrika-Forscher des 19. Jahrhunderts, hat uralte Riesen-Folianten mit Vogelbildern im Rucksack und ist im Glück, wenn er angriffslustige Busch-Bienen identifizieren und Bernd Heinrichs Thesen über „Bumblebee Economics“ dieser stachligen Stuka-Flieger überprüfen kann. Düstere Horror-Szenen wie bei Joseph Conrad vermischen sich mit schriller Komik, weil sich O´Hanlon in bester britischer Erzähltradition lässig-selbstironisch über den zwischen Fetisch-Magie und deprimierendem Busch-Chaos angesiedelten Wahnsinn mokieren kann. Als „darwinistischer Marxist mit großem Interesse an Magie“ hatte er sich bei den ermüdenden Visaverhandlungen vor seinem Trip in die zerbröselnde sozialistische Volksrepublik Kongo bezeichnet. Kann man seine abenteuerliche Suche nach der „Magie des Lebens“ treffender umschreiben?
Peter Münder
Peter Münder ist CULTURMAG-Autor. Mehr Infos, weitere Beiträge finden sich HIER.
Charles Willeford: „Ein Leben auf der Straße“
(Erstveröffentlichung 1988)
„Sagen zu können, dass ich den Mann kannte, der dieses Buch geschrieben hat, das macht mich stolz“, sagte Elmore Leonard über die Kindheitserinnerungen von Charles Willeford. „Es ist pures Schreiben, unangestrengt und ungekünstelt, nie melodramatisch. Ehrliches Erzählen der höchsten Form.“ Auch James Lee Burke schätzt sehr, was seinem Freund Willeford mit „I Was Looking for a Street“ („Ein Leben auf der Straße“) gelang. Mir kommt als Metapher für solch demütig-anmutige Literatur immer ein Buchtitel von Joseph Zoderer in den Sinn: „Das Glück beim Händewaschen“.
Hauptsache ein Ziel vor Augen; bloß kein sinnloses Treiben. Das rät ein Landstreicher dem 14-jährigen Charles Willeford (1919 – 1988), der im Amerika der großen Depression als Hobo die Güterzüge reitet, ehe er sich mit 16 zur Armee schwindelt und dort 25 Jahre verbringt (Auskunft darüber in dem großartigen „Something About a Soldier“).
Eine Episode aus dieser Hobo-Zeit trägt das gerade auf deutsch erschienene Tagebuch „Cockfighter Journal“ nach. Nämlich, wie Willeford 1933 in L.A. als blinder Passagier vom „Sunset Limited“ gepflückt und zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt wurde, 27 auf Bewährung, drei weitere im Knast von Lincoln Heights. Jeden Tag gab es dort Schwertfisch satt. Gestiftet vom Western-Autor Zane Grey, einem passionierten Angler, der seinen Fang immer bei der Stadtverwaltung ablieferte. „Nie wieder“, schreibt Willeford, „habe ich danach Schwertfisch gegessen, und auch nie ein Buch von Zane Grey gelesen.“
Alf Mayer
Alf Mayer macht zusammen mit Thomas Wörtche und Anne Kuhlmeyer die Redaktion des CrimeMag. Seine Besprechung von Willefords „Hahnenkämpfer“ und dem „Cockfighter Journal“ hier, weitere Beiträge HIER.
Carl Hoffman: The Lunatic Express (Erstveröffentlichung: 2010)
Da es zu diesem aberwitzigen Buch keine Beipackzettel mit Warnhinweisen gibt, soll hier gleich vor Nachahmungen der von Hoffman riskierten wahnwitzigen, selbstmörderischen Trips dringend gewarnt werden. Der 57jährige amerikanische Reporter und Herausgeber des National Geographic Traveler sucht sich nämlich die Airlines, Fähren und Busverbindungen mit den höchsten Unfallraten, um dann den Thrill eines möglichst dramatischen Unfalls auszukosten. Die Idee kam ihm bei der Zeitungslektüre und angesichts der regelmäßig gemeldeten Horrornachrichten über südamerikanische Busunglücke oder Flugzeugunglücke obskurer Airlines. Um 2010 starben auf südamerikanischen Straßen jährlich 1,2 Millionen Menschen- das ist die höchste Unfallrate der Welt. Als Hoffman die Meldung über ein Busunglück in Peru liest (Bus-Absturz von einer 500 Meter hohen Schlucht, 45 Tote), macht er sich auf den Weg, um von Kolumbien per Bus durch die Nachbarstaaten zu fahren. Für die Abfahrt aus Bogota kommt nur die Linie Continental SA in Frage, denn mit 18 schweren Unfällen innerhalb von 3 Monaten lag sie an der Spitze der Unfall-Tabelle (6 Tote, 8 Verletzte). Er hockt manchmal 50 Stunden am Stück in den Bussen und registriert, dass die Niedrigpreise der Billiglinien mit miesen Sicherheitsbedingungen, übermüdeten und betrunkenen Fahrern sowie bestechlichen Polizisten erkauft werden. Hoffman überlebt seine Schleudertortur, vermerkt aber auch, dass auf der Strecke nach Quito eine Woche später fünf Engländerinnen bei einem Unfall ums Leben kamen. Er war auch mit kubanischen Crash-Fliegern, Bussen und Taxis in Afghanistan, Pakistan, Kenia und mit überladenen Fähren in Indien und Indonesien unterwegs und überlebte alles. Trotz des makabren Hintergrunds taucht man gerne ein in diese spannende Lektüre, die natürlich auch von einer Fahrt mit diesen Todes-Vehikeln abschrecken soll.
Peter Münder
Peter Münder ist CULTURMAG-Autor. Mehr Infos, weitere Beiträge finden sich HIER.
Carl Hoffmann: The Lunatic Express: Discovering the World . . . via Its Most Dangerous Buses, Boats, Trains, and Planes. Broadway Books. 2010.
Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Band 1: Inferno/Hölle (Erstveröffentlichung 1321)
Ab in den Urlaub, nicht erst heute ein probates Mittel bei Lebenskrisen jeglicher Art. Schon Dante wählte vor siebenhundert Jahren den Tapetenwechsel, um auf neue Ideen zu kommen. Allerdings gerät sein Selbstfindungsprojekt in der „Göttlichen Komödie“ von Anfang an zu einem Höllentrip. Düstere Gegenden, dazu Begegnungen mit lauter Gestörten, Sexsüchtigen, Korrupten, Gierigen, sogar Mördern und Kriegsverbrechern. Eine Reise nicht nur in die Abgründe der damaligen Gesellschaft, sondern auch in seine eigenen Abgründe. Gruselig und faszinierend zugleich. Am Schluss seiner Höllenfahrt winkt das Paradies, eine Traumlandschaft mit netten Gesprächen und einer schönen Frau. Erholsam wie ein All-inclusive-Urlaub, aber ebenso langweilig. Man möchte vielleicht Dantes Reise durchs Inferno nicht selbst erleben – zu lesen ist sie allemal spannender als der Bericht aus dem Paradies.
Birgit Haustedt
Birgit Haustedt ist Essayistin und Reiseautorin mit Schwerpunkt Italien und schreibt regelmäßig für CULTURMAG. Mehr auf ihrer HOMEPAGE.
Rund um die Welt, seriously (zu Patrick O’Brian, 1914-2000)
1) Plötzlich hat man das Gefühl, in der falschen Zeit zu leben.
2) Sowas kann Literatur auslösen.
3) Rund um die Welt, auf einer Fregatte, so Ende 18es, Anfang 19es Jahrhundert.
4) Patrick O´Brian zeigt mit seinen 25 Romanen um Jack Aubrey und Dr. Maturin wie´s geht.
5) O´Brian ist einer der größten Epiker aller Zeiten, seriously.
Thomas Wörtche
Thomas Wörtche ist CULTURMAG-Herausgeber und -Autor. Und noch viel mehr. Einiges dazu HIER.
Dies und das zu Patrick O’Brian (plus Lektüreliste für Einsteiger) auf KALIBER 38.