Geschrieben am 3. Juni 2017 von für Litmag, News, Reise Special 2017

Reise Special 2017: Kat Kaufmann: Die Nacht ist laut, der Tag ist finster

Die NachtDas Ziel ist das Ziel

Jonas, 25 Jahre alt, ist nicht eben gewöhnlich, war schon als Kind „auffällig“ und wohl eher eine Enttäuschung für seine Eltern, wobei dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht. Er fühlt sich hintergangen, hat immer gewusst, dass Peter nicht sein leiblicher Vater ist, aber Anne, seine Mutter, hatte es nie nötig, Jonas die Wahrheit über seine Herkunft zu sagen, sondern lebt in ihrer heilen Welt, mit den Fotoalben voller Bildern aus Jonas‘ Kindertagen. Und nun steht er am Abend seines Geburtstags da, mit einem Erbe von 5.000 Euro und einem bekritzelten Zettel seines Opas Ernst in der Hand: Finde diesen Mann, Valerij Butzukin.

Jonas hat es nicht ertragen, Ernst, seinen geliebten Opa, als Pflegefall zu sehen, seinen Verfall, ihm den Sabber vom Mund zu wischen, nun muss er wenigstens das eine tun, Ernsts Auftrag erfüllen und seinen richtigen Vater finden, diesen Butzukin. In dieser irrealen Nacht, in der er von einer faschistoiden Kioskverkäuferin vor Schlägertypen gerettet wird und seine Wohnung abfackelt, lernt er in einer Russendisko den Hünen Stas und dessen Freund Juri kennen, durchzecht die Nacht mit den beiden, die nicht müde werden zu beteuern, dass alles gut werden wird, wenn auch schwierig, in dieser Zeit in der der neue kalte zu einem heißen Krieg zu werden droht.

9783455001051Tatsächlich schaffen es die beiden, Jonas nach Moskau zu bringen, wo er eine große Liebe und in einem abgewrackten Hochhaus den leider ebenso abgewrackten Valerij Butzukin findet, den er bis zu dessen Tod pflegt. Es gibt immer mehr Gründe unterzutauchen, immer mehr werden Jonas und seine zwielichtigen Freunde zu Gejagten. Ihre Flucht bringt sie schließlich in die russischen Wälder über 500 Kilometer von Moskau entfernt.

Das in St. Petersburg geborene und in Berlin lebende Multitalent (Schriftstellerin, Komponistin und Fotografin) Kat Kaufmann hat einen rasanten, großartigen Roman über die Ironie des Schicksals und darüber, wie Menschen aneinander vorbei laufen können, geschrieben. Allein der Prolog ist grandios, das Tempo atemberaubend, und Jonas und die beiden kleinkriminellen Deutschrussen Stas und Juri muss man einfach mögen – oder zumindest Empathie zu ihnen aufbringen. Kaufmann wechselt die Erzählperspektiven, so dass der Leser Jonas immer mal einen Schritt voraus ist, aber trotzdem bis zum Ende hofft und Stas und Juri vertrauen will, dass doch noch alles gut wird, und dem Rat der alten Babulja in den Wäldern: „Und wenn die Nacht laut ist und der Tag finster – muss die Dunkelheit dein Freund werden, damit du die Sterne wieder sehen lernst.“

Beate Paul
Beate Paul ist Mitglied bei 42er Autoren e.V. und arbeitet als Lektorin in einem Fachverlag. bepado1@web.de

Kat Kaufmann: „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“. Tempo im Hoffmann und Campe Verlag, 2017. 272 Seiten. €20.

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