Die Sehnsucht bleibt
Dear Reija Sann,
{ein offener Antwortbrief auf die Einleitung des Editors zum Finnish Comics Annual 2012 von Charlotte von Bausznern}
eine Rezension zu schreiben ist immer etwas teuflisch Schwieriges: Da sind die Autoren, die Respekt verdienen, Herausgeber, die aufregende Leitartikel erwarten, Lesende, die sich einmalige Kaufempfehlungen wünschen. Es sollte Literaturgeschichte, Comicgeschichte, Werkgeschichte, Biographie, Rezeption, Verkaufszahlen, alles beachtet werden und unbedingt eigener Senf dargeboten werden, ein wenig wenigstens.
Dieses Mal hast Du es mir so fabelhaft leicht gemacht wie keiner zuvor. Kaboom. Hier sind meine Antworten auf Deine Fragen:
{1} In der seltenen Situation, ein Vorwort zu studieren, und das tatsächlich vor dem eigentlichen Lesen (na gut, geblättert hatte ich schon) liegt der erste Beweis für Antwort Nummer Eins: Die Finnish Comics Anthologie, nun im zweiten Jahr, schöpft ihre Editionen aus der Einzigartigkeit ihrer Zusammensteller: „to make it look like you“. Ich würde also behaupten, Reija Sann ist ein Geniesser, ein Finne (ganz und gar, was auch immer das heisst), einer mit Sehnsucht. Ein ausgewachsenes Kind. Einer, der ausgesprochen viel lacht (denn nur die vertragen solche Mengen an Traurigkeit).
{2} Antwort Nummer Zwei: Wagte ich es noch, mich bei den Finnish Comics Annual 2011 zumindest leise über das Format zu beschweren („Koloss„), hier muss ich es geniessen. Denn es ist Programm. Gleich die erste Protagonistin, Heather, erstreckt sich über 40 Seiten[1]. Petteri Tikkanens Heather ist kindliche Superwoman in schnittigem Schwarzweiss (endlich wurde sie erfunden): Wjiu, sie kann fliegen, sie kann zwinkern, sie kann ihrer Oma eine Erinnerung schenken.
{3} Antwort Nummer Drei: Jedes Lesen hab ich zelebriert. Ich hab mir vom Terminkalender eine Zeit geklaut, um sie alle zu lesen, zu trinken, zurück zu blättern, drüber zu schlafen. Bei dem Ausmass an ungestümen Bildern ist nichts anderes als eine friedliche, aber aufrechte Lesehaltung möglich. (Sven Regener hat neulich im „sprachgebunden“[2] ein paar sehr schöne Sachen über das Lesen im Liegen gesagt, darüber müsste man mal angesichts eines solchen Brockens diskutieren. Aber das tun wir wann anders.)
{4} Das liegt auch an der Art der versammelten Beiträge: Es sind graphische Erzählungen, keine Strips, das sind Interrailfahrten, keine Ubahnfahrten, und sie erzählen gleichermassen visuell wie sprachlich: Terhi Ekeboms wackliger Strich mit lichten Schatten für eine unsichere Flucht, Mika Lietzen’s schemenhafte Tusche für einen einsilbigen Dialog, Tiitu Takalos erstaunliche, farbintensive Visualisierung einer anderen Normalität (die dann gleichzeitig auch noch das Schreiben verhandelt, und das auch noch feinsinnig, humorvoll und mit erhobener Faust).
{5} Womit wir schon bei Antwort Fünf, der „radically individual graphic voice“ wären, die Wort und Bild vereint, keines von beidem illustrativ, denn virtuos. Matti Hagelberg, so viel steht fest, dürfte als Ausnahmestern gelten. Seine Adaption einer Erzählung von Minna Canth schabt sich ins Gedächtnis, bis es schmerzt. So himmelschreiend elend war Comic noch nie.
{6} Ist es das, was „finnische“ Comics ausmacht? Die alte Kombo „melancholy / crazy“? Kommt der Comic endlich in der Glokalisierung an, jenseits der generalisierten Superhelden in universeller (amerikanischer) Sprache, so wie Du schreibst? Ist das dann graphic novel? Oder, weiter noch, gibt es eine authentisch gebliebene Kultur, die sich in Kunst ausdrückt, und liegt sie hier vor mir zwischen türkisen Buchdeckeln, immer noch nach Papier und Druck duftend?
Diese Antwort Sechs bleib ich Dir schuldig. Das wäre eine Dissertation wert[3].
Aber nicht zuletzt und {7}. bleibt die Sehnsucht. Und die bleibt auf allen 253 Seiten wirklich.
Charlotte von Bausznern
Reija Sann (Editor): FINNISH COMICS ANNUAL 2012. HUUDA HUUDA & The Finnish Comics Society 2012. 253 Seiten. 32.5x25cm. 30,00 Euro. Artists: Terhi Ekebom, Matti Hagelberg, Pauli Kallio, Petteri Tikkanen, Grönroos & Rantio, Katja Tukiainen, Pauli Kallio, Mika Lietzén, Riita Uusitalo, Tarmo Koivisto, Tiitu Takalo
[1] Das sind, nach UNESCO Recommendation, trotzdem neun zu wenig um ein eigenständiges Buch zu sein.
[2] sprachgebunden. Zeitschrift für Text + Bild, Edition Chiméra. Ausgabe 6 2011/2012.